23.2 Mystikó - Geheimnis
„Könnt ihr mich für ein paar Minuten unterhalten, ehe ich euch überdrüssig werde?", fragte Nemesis und hob bedrohlich ihre rechte Hand, die wie eine schlanke Waffe in der Luft zwischen ihnen schwebte.
„Bitte –", fing Aineas an, aber Nemesis unterbrach ihn mit einem ungeduldigen, lauten Schnalzen der Zunge.
„Rede mir ein weiteres Mal hinein und ich werde euch beide zu wirklichen Käfern verwandeln, du kleiner Narr." Ihr dunkler Blick bohrte sich in Medeia und das Mädchen taumelte.
Aineas allerdings hob den Kopf. Dem Zucken in seinem Körper nach zu urteilen, suchte er Nemesis' Blick und als er ihn gefunden hatte, holte er Luft.
Für töricht und dumm hatte sie den Jungen vor sich nicht gehalten, aber er erhob erneut die Stimme, als würde ein tiefer Todeswunsch ihn dazu bringen.
„Bitte", sagte er mit einer so sanften Stimme, dass Medeias eingefrorener Körper schmolz und sie sich eine Hand vor den Mund schlug, „tut das nicht. Wir sind müde, wir sind geschunden und haben keine Kraft mehr. Was würden wir Euch für eine Unterhaltung bieten, in diesem Zustand? Wir haben nicht einmal mehr Waffen. Das einzige, das wir haben, ist die dünne Kleidung an unserem Körper und ein wenig mehr Proviant, der nicht mehr sehr lange halten wird. Wie könnten wir jemals genug sein, um Euch zu unterhalten?"
Medeia machte sich auf Nemesis' Rage gefasst, dass Aineas es gewagt hatte, erneut zu sprechen, obwohl sie es ihm verboten hatte. In ihrem Kopf konnte sie Theia vor sich sehen, die bereits ihre Hand ausstreckte, um sie mit in die Unterwelt zu nehmen. Sie war bereit, sich von der Göttin vor ihnen auslöschen zu lassen, wenn das bedeutete, sie könnte endlich aufhören, mit dieser alles zerfressenden Schuld zu leben.
„Oh?" Nemesis trat mit schiefgelegtem Kopf einen Schritt zurück. Ihr Blick war interessiert auf den Jungen vor sich gerichtet und eine Augenbraue zuckte in die Höhe. „Wie überaus interessant. Sag bloß, du bist - ", sie stockte und verschränkte die Arme vor sich. „Nein, wohl eher nicht. Oder doch? Oh, gerade bist du sehr interessant geworden, kleiner... Sterblicher." Dieses Mal betonte sie das letzte Wort nicht, als wüsste sie nicht, was sie anderes sagen sollte, sondern eher so, als wüsste sie etwas, was ihr unglaublich viel Freude bereiten würde. Sie grinste ihn an und ihre Zähne blitzten strahlend weiß durch den Gang, als wären sie eine schlackernde Lichtquelle. „Dass sie es gewagt hatte, noch einmal..."
Die Neugierde in ihr brannte durch ihren Körper, aber Medeia traute sich nicht, zu fragen, was die kryptischen Worte der Göttin bedeuteten.
Aineas war still und blickte die Frau vor sich an. „Was meint Ihr?", fragte er geradeheraus.
Das Mädchen zuckte zusammen und glaubte immer mehr daran, dass der Junge vor ihr sterben wollte.
„Ach, du weißt es nicht einmal, nicht wahr?" Nemesis schnaubte leise, was sich in ein Kichern verwandelte. „Wie überaus spaßig. Ich glaube, ich habe gerade einen überaus guten Grund gefunden, dem Olymp einen Besuch abzustatten."
Als wäre er gänzlich unbeeindruckt von der schieren Macht, die Nemesis ausstrahlte, ging Aineas einen Schritt auf sie zu. „Könnt Ihr mich aufklären, was Ihr damit meint? Ich fürchte, ich kann nicht folgen."
Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würde das interessierte Licht in Nemesis' Augen flackern und verwischen, aber Medeia wusste nicht, ob es vielleicht auch nur an ihrer eigenen Angst lag, dass sie sich Dinge einbildete, die nicht sein konnten.
„Komm ein wenig näher, Junge", sagte Nemesis ruhig.
Als er ihrer Anweisung folgte und einen Schritt auf die Göttin zutrat, konnte Medeia einen Blick auf sein Gesicht werfen. Aineas hatte einen stoischen Gesichtsausdruck aufgesetzt und in seinen Augen leuchtete etwas, was das Mädchen zuvor nicht gesehen hatte. Er wirkte komplett von sich überzeugt. Es sah aus, als würde Aineas denken, er könnte die Göttin der Rache in einem Zweikampf besiegen. Sie wusste, dass er eine gewisse Arroganz beherbergte, aber diese war nach der ersten Begegnung mit dem Minotaurus geschrumpft und beinahe verschwunden. Was veranlasste ihn dazu, erneut in seine alten Muster zu verfallen?
„Wer sind deine Eltern?"
Die Frage von Nemesis warf nicht nur Medeia vollkommen aus der Bahn. Selbst auf Aineas kühnem Gesicht schlich sich der Ausdruck der Überraschung, aber er versuchte ihn schnell genug zu verschleiern, indem er sich räusperte und das Kinn hob. „Mein Vater ist ein Priester in einem Tempel der Aphrodite in Athen", sagte er ruhig. „Meine Mutter starb, als sie mich gebar. Ich habe sie nie kennengelernt."
Nemesis legte ihren Kopf schief, ihr Blick wie ein eiskalter Dolch auf Aineas gerichtet. „Faszinierend", sagte sie leise. „Was erzählt man sich über deine Mutter?"
Diese Frage ließ den stoischen Jungen kurz zweifeln. „Wie meint Ihr das?"
Nemesis wedelte ungeduldig mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Wer war diese Frau, die dich gebar? Was hat dein Vater dir von ihr erzählt?"
„Ich", sagte er zögernd und stockte.
Medeia blieb jeder Atem in der Kehle stecken. Sie konnte sich nicht rühren.
„Mein Vater hat nicht viel von ihr geredet. Er sagte, sie wäre eine Reisende gewesen, in die er sich verliebt hat, aber sie starb, sobald ich auf der Welt war. Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Aber mein Vater sagt, ich würde genauso aussehen wie sie. Hilft Euch das?" Seine Stimme war ebenmäßig, aber Medeia sah das Zittern in seinen Fingerspitzen.
„Hm." Nemesis tat einen Schritt auf Aineas zu. Sie blieb direkt vor dem Jungen stehen, sodass seine Augen genau auf Höhe ihres Bauchnabels war und Medeia erst erkannte, wie unglaublich groß sie war. „Wirklich faszinierend. Ich denke, ich habe hier etwas wirklich spannendes entdeckt." Sie legte den Kopf schief und blickte zur Seite, tausend Jahre von ihnen entfernt. Für einen Augenblick verharrte sie nachdenklich, dann bewegte sie ihre Augen zurück und ein schmales Lächeln legte sich über ihre Lippen. „Ich werde gehen. Aber es war nicht das letzte Mal, dass ihr beiden von mir gehört habt. Mit etwas Glück sehen wir uns wieder, bevor ihr sterbt." Nemesis legte Aineas eine schlanke Hand auf die Schulter und drückte ihn zurück. „Versuch zu überleben, bis ich wiederkomme, Junge."
„Ich", fing er an, aber sie unterbrach ihn, indem sie ihn anzischte.
„Nein, nein. Nicht mehr reden, das reicht." Sie blickte Medeia an, bevor sie einen Schritt zurück trat und das Mädchen zuckte ängstlich zusammen, als hätte sie sie geschlagen. „Du darfst dich freuen, Mädchen", sagte sie mit einem düsteren Unterton in der Stimme, der ihr das Blut im Körper gefrieren ließ. „Deine Schwester weiß alles über dich und was du getan hast. Ich bin so froh, dass ich ihr alles erzählen durfte."
„W-Was?" Medeias Stimme brach selbst bei diesem einzelnen Wort und sie spürte ihre Beine nicht mehr. Ihr Hirn wurde mit einem Mal komplett leergefegt. Schwärze umfing sie. Ihr Magen rebellierte. Alles in ihr rebellierte. Sie knickte zusammen und rollte sich auf dem Boden zusammen, die Augen fest zusammengepresst.
Nemesis' kühles Lachen drang nur wie durch Watte an ihre Ohren. „Ich freue mich schon, wenn ihr euch trefft. Alsbald wird deine kleine Welt noch weiter untergehen, Mädchen und ich darf alles genau beobachten. Genieß die letzten Stunden deiner Zeit mit dir selbst. Medeia." Blanke Abscheu lag in ihrer Stimme, als sie den Namen des Mädchen zum letzten Mal schrecklich deutlich betonte.
„Wartet!", rief Aineas aus, aber er konnte Nemesis nicht daran hindern, einfach zu verschwinden.
Ein Schleier aus dunklem Nebel umfing sie. Ihre Kontur verschwamm genauso schnell, wie sie erschienen war. Der Junge vor Medeia erstarrte für einen Moment, den Mund aufgerissen und die Augen zittrig. Jedwede Arroganz war aus seinem Gesicht verschwunden. Es sah aus, als wollte er etwas sagen, aber dann drückte er die Lippen fest aufeinander, bis sie nur noch eine dünne, weiße Linie bildeten. Dann nickte er.
Bevor Medeia überhaupt realisieren konnte, was geschehen war, wurde die Welt um sie herum schwer und bleiern und sie konnte die Augen nicht mehr offen halten. Der Schlaf überrannte sie, obwohl jegliche Müdigkeit aus ihrem Körper verschwunden war. Sie schlief ein, ohne den dunklen Blick zu bemerken, den Aineas ihr zuwarf.
„Öffne die Augen."
Die Stimme, die durch den leeren Raum hallte, war nicht die von Nemesis oder Eris, aber kam Medeia bekannt vor. Sie dachte, sie hätte nicht die innere Stärke, ihre Augen zu öffnen, aber es gelang ihr erstaunlicherweise. Die Müdigkeit und das Gefühl der Kälte waren aus ihrem Körper verschwunden, das Mädchen war aber immer noch von tiefer Schwärze umgeben. Sie stand, aber es gab keinen Boden. Ihr Herz fing schmerzhaft an zu rasen.
„Sei unbesorgt, Kind", sprach die Stimme erneut. „Du bist hier sicher."
Die Gestalt eines Mannes erschien – oder vielleicht war er schon zuvor dagewesen und Medeia hatte ihn nicht bemerkt. Ab diesem Punkt war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihren Sinnen wirklich vertrauen konnte. Der Mann war in purpurne Stoffe gekleidet, sein langes, dunkelbraunes Haar fiel um sein jugendliches, makelloses Gesicht und in seinen Augen konnte das Mädchen ein beruhigendes Feuer entdecken, hell und gelb, als wäre es die Sonne höchstselbst. Trotz seinem warmen Blick, war sein Mund zu einer harten Linie verzogen.
Medeia erkannte den Mann sofort – er war der fremde Gott, den sie und ihre Schwester getroffen hatten!
„Ihr seid das!", rief sie überrascht aus.
„Ich bin es", sagte der Mann. „Dieses Mal kann ich dir auch verraten, wer ich bin. Apollo ist mein Name."
Medeia sog die Luft ein und stolperte zurück. Es war ein seltsames Gefühl, in der Schwärze zu laufen, aber ihre Aufmerksamkeit war auf den Schutzpatron ihrer Familie gerichtet. „Ihr seht so anders aus als, als –", fing sie an, aber Apollo hob die Hand, um sie zu unterbrechen.
„Als ich dich im Traum empfing, nahm ich ein anderes Aussehen an. Ich habe nicht nur eine Form, aber wieso ich sie änderte, ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, wieso ich erneut das Gespräch mit dir suche, Kind."
Mit einem schüchternen Blick nickte das Mädchen artig. Ihre Finger krallte sie in ihr Gewand.
„Was du im Labyrinth getan hast", fing Apollo an, seine Stimme hatte nichts mit der Wärme in seinen Augen gemein, „ist unverzeihlich und unvergesslich. Als du die steinernen Mauern dieses Bauwerkes betratst, versprach ich dir das Elysium, solltest du nicht überleben. Mein Versprechen galt bis zu diesem Zeitpunkt." Er schloss für einen Moment die Augen, als würde es ihn schmerzen, zu sprechen. „Aber jetzt muss ich dieses Versprechen auflösen."
„Was?" Medeia traute ihrer Stimme nicht, als sie sprach. Sie klang nicht mehr so schwach und gebrochen, wie zuvor, aber dennoch zitterte sie. Aber sie klang auch älter als sie sich fühlte. „Wie meint Ihr das?" Sich selbst das Recht auf ein Leben oder selbst ein sicheres Nachleben zu nehmen, war einfach. Aber diese exakten Worte aus Apollos Mund zu hören, war wie ein weiterer Dolchstoß ins Herz.
„Dein Verbrechen wiegt zu schwer. Elysium ist für die Helden unter den Sterblichen vorgesehen. Wenn ich dich ins Elysium lassen würde, dann würde ich meinen Thron auf dem Olymp verlieren. Ein Geschwistermord ist nicht zu verzeihen, Kind. Du hast eine blutige Tat begangen und auch, wenn es nicht in deiner Absicht war und ich spüren kann, wie es dich von innen heraus zerfrisst, so kann ich nicht zulassen, dass du den perfekten Frieden korrumpieren könntest. Dieses Risiko einzugehen, ist selbst für mich zu viel." Apollo traf ihren Blick und seinen Augen lag Leid, als er die Augenbrauen zusammenzog. Sein Gesicht war schön, aber es konnte nicht über den Fakt hinweghelfen, dass er Medeia alles raubte.. „Die Tore der Unterwelt sind offen, aber Elysium bleibt dir verwehrt, Kind."
In Medeais Augen sammelten sich die Tränen und sie flossen über ihre Wangen, noch bevor der Gott aufgehört hatte zu reden. Sie verstand, was er sagte, aber dennoch trieb es ihr einen Dolch ins Herz. Jedes Wort drückte die Klinge tiefer hinein. Atmen war eine reine Qual. Sie hatte sich schon zuvor gewünscht, sie würde aufhören zu leben; jetzt wünschte sie sich, Apollo würde sie auslöschen.
„Hoffnung ist ein tödliches Gut, Medeia", sagte Apollo mit trockener Freundlichkeit. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, war wie Gift in ihren Ohren. Es tat weh, ihm zuzuhören, aber es tat noch mehr weh, zu existieren. „Hoffnung schmeckt süß und verführerisch, aber sie lullt deinen Geist ein, bis du ihr verfallen bist. Du hast gehofft und bist geflogen. Jetzt fällst du und wenn du aufkommst, wirst du zerspringen."
Medeia fühlte sich bereits, als wäre sie in tausende Teile zersprungen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen, aus Angst, dass sie durch die Dunkelheit fallen würde. Sie traute sich nicht einmal mehr, aufzublicken. Mit geschlossenen Augen drückte sie ihre Arme fest an sich. Zitternd und schlotternd spürte sie, wie eine eisige Kälte ihren Körper durchzog.
„Ich fühle deinen Schmerz." Apollos Stimme dröhnte in ihren Ohren. „Du fühlst dich hilflos und verloren und du hast jedes Recht dazu. Ich kann dir dieses Gefühl nicht nehmen. Hilflosigkeit wird dich solange einnehmen, bis du aufhörst, schwach zu sein. Der Moment, in dem du aufhörst zu zittern, ist der Moment, in dem du weiterlebst. Du hast eine Chance auf ein Leben, Medeia." Der Gott seufzte träge. „Wirf sie nicht wieder weg."
„Ich kann nicht", flüsterte sie mit gebrochenen Worten. „Ich kann das nicht."
„Wer aufgibt, bevor er kämpft, hat das Leben nicht verdient", sagte Apollo und trat einen Schritt näher, wodurch der purpurne Stoff an seinem Körper raschelte und Medeia aufblicken ließ. „Ich werde dir eine einzige Chance bereiten, damit du leben kannst, Sterbliche. Nimm sie an oder wirf deine Zeit hinweg, es soll nicht meine Sorge sein. Wisse nur, dass dies das letzte Mal sein wird, dass wir uns sehen." Apollo traf ihren Blick und in seinen Sonnenaugen lag der harte Ausdruck des Abschieds. Als er sich abwandte, spürte Medeia, wie ihr Herz durchstoßen wurde. „Auch ein Gott kann hoffen", fügte er leise hinzu, seine Form wurde durchscheinender und die Grenzen seines Körpers verschwammen mit der Finsternis. „Ich hatte gehofft, du wärst tatsächlich das, was ich in dir gesehen habe. Enttäuschung ist eine bittere Frucht, aber ich schmecke sie nicht mehr. Lebe wohl, Medeia."
Apollo verschwand in der Dunkelheit und Medeia fiel.
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