22.1 Dexiá - Recht
„Es riecht nach Äpfeln", sagte Lyra mit sanfter Stimme. Mit geschlossenen Augen roch sie in der abgestandenen Luft des engen Raumes, in dem sie Zuflucht für einen erholsamen, aber kurzen Schlaf gefunden hatten. „Oder nicht? Ich finde schon."
Eos ließ seinen Beutel wieder zu Boden gleiten, den er gerade aufgehoben hatte und kräuselte die Augenbrauen. „Nach Äpfeln?", fragte er irritiert und warf einen Blick auf den Proviant. „Vielleicht ist ja einer unserer Äpfel schlecht geworden."
„Nein, nein, nicht so ein Geruch", erwiderte Lyra, als würde sie wie durch eine Erinnerung sprechen, wie in einer eigenen kleinen Blase gefangen. „Es riecht nach frischen Äpfeln, frisch vom Baum gepflückt. Ich kenne diesen Geruch gut."
„Jeder kennt diesen Geruch", meinte Calypso vorsichtig. Ihre Augen waren noch vom Schlaf gerötet. Staub klebte an ihrer Wange, mit der sie auf dem Boden gelegen hatte.
„Außerdem rieche ich gar nichts", fügte Eos hinzu, was Lyra endlich den Anlass gab, die Augen zu öffnen.
Sie blickte zu ihm, ihrerseits einen irritierten Ausdruck im Gesicht. „Wirklich nicht? Es riecht genau wie bei uns im Garten. Ihr solltet uns mal besuchen kommen, wenn wir hier rauskommen. Medeia backt den besten Apfelkuchen überhaupt."
Eos fiel auf, dass ihre Augen ebenfalls gerötet waren, aber im Gegensatz zu Calypso, sah sie nicht erschöpft aus, sondern vielmehr, als hätte sie geweint. „Hast du etwas?", fragte er leise.
Lyra, die wahrscheinlich seinen Blick bemerkt hatte, wischte sich fahrig über die Augen, wodurch sie es nur noch schlimmer machte. Sie schüttelte hastig den Kopf und tat einen zittrigen Atemzug. „Alles bestens. Nur müde."
Er verengte die Augenbrauen erneut. „Wirklich?", fragte er mit mehr Nachdruck. Zögerlich ging er einen Schritt auf sie zu. Wenn er eines nicht gebrauchen konnte, dann eine Kameradin, auf die er sich verlassen musste, die aber mit Geheimnissen in ihrem Kopf beschäftigt war. Eos starrte ihr genau in die geröteten Augen, bis es ihr zu unangenehm wurde und sie den Blick abwandte.
„Ich hatte einen blöden Traum, aber das ist sicher nichts", sagte sie schließlich, wenn auch widerwillig.
„Was für ein Traum?", erkundigte sich Calypso und stellte sich neben Eos. Sie hatte die Arme verschränkt, als wäre ihr kalt.
„Nicht wichtig", erwiderte Lyra mit unterschwelliger Wut in der Stimme. „Wie gesagt, es war nur ein blöder Traum und –"
„Träume sind nicht blöd", sagte Eos ruhig. „Du solltest froh sein, dass du einen hattest." Zwar hatte er nur eine Begegnung mit dem Gott des Schlafens gehabt, aber er hatte feststellen müssen, dass es ein wesentlich komplexeres Thema war, als er immer angenommen hatte. Dass selbst ein Gott dafür zuständig war, dass alle Menschen jede Nacht schlafen konnten und gegebenenfalls auch noch träumten, hätte er sich – ironischerweise – nicht in seinen kühnsten Träumen ausmalen können. Hypnos verdiente es nicht, dass Lyra seinem Traum gegenüber undankbar war.
Beherrscht trat Lyra einen Schritt auf ihn zu. „Ich bin wirklich nicht dankbar, dass ich ihn hatte", zischte sie . „Oder würdest du dankbar sein, wenn du in deinem dämlichen Traum erfahren würdest, dass deine große Schwester tot ist?" Ihre Stimme, die während des Sprechens immer lauter geworden war, brach bei den letzten Silben. Ihre roten Augen begannen in Tränen zu schwimmen, die sie aggressiv wegwischte.
Calypso stolperte einen halben Schritt zurück und schlug sich die Hände vor den Mund. „Was sagst du da?", fragte sie durch ihre verschränkten Finger hindurch.
Lyras Gesicht nahm eine dunkle Färbung an, als sie sich wütend abwandte. „In meinem – Traum hat mich Artemis besucht."
„Die Göttin der Jagd?", hauchte Eos, der selbst blass um die Nase wurde.
„Welche denn sonst?", fragte Lyra pampig. Beinahe riss sie sich eine ihrer rotbraunen Haarsträhnen heraus, die ihr in die Augen fielen. Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Sie sagte, es wäre besser, wenn ich es von ihr erfahre. Dann erzählte sie irgendwas, von wegen, Medeia wäre besessen gewesen und hätte in einem Kampf Theia umgebracht. Aber das – das ist unmöglich. Meine Schwester ist viel zu sanftmütig, sie könnte keiner Fliege etwas tun."
Eos wusste nicht, wen von beiden sie meinte. Er konnte sich nicht an die Namen ihrer Schwestern erinnern, aber dann wiederum war das in diesem Moment auch nicht wichtig. Jemand war tot – jemand anderes außer Castor, dessen schmerzverzehrtes Gesicht seinen Geist heimsuchte.
„Aber es war nur ein Traum", murmelte Lyra, das Gesicht von den beiden anderen Kindern abgewandt. Sie fuhr sich immer wieder durch die Haare. „Nur ein einfacher Traum. Ich hab nur geträumt und mir das schlimmste selbst ausgedacht."
„B-Bestimmt wird es das sein", stimmte Calypso ihr mit dünner Stimme zu.
„Nein, das ist es nicht!", kreischte Lyra. Sie drückte sie die eigenen Hände gegen die Ohren, als hätte sie Angst vor ihrer eigenen Stimme und den Worten, die sie sprach. „Warum sollte sie lügen? Es muss stimmen, aber es kann nicht und ich will das nicht!"
Eos rutschte einen Schritt zurück. „Lyra, beruhige dich", sagte er langsam.
Das erzürnte Mädchen schlug aus und trieb den Jungen weiter zurück. „Sei ruhig!", schrie sie. „Meine Schwester – sie kann nicht tot sein! Sie ist doch meine Schwester!"
Er wollte ihr schon beinahe sagen, dass, nur weil Theia ihre Schwester war, sie deswegen nicht gleich unsterblich war, aber beschloss, dass es nicht der beste Zeitpunkt sei, ihr das zu sagen.
„Aber warum sollte Artemis mich anlügen? Sie ist meine Schutzgottheit! Seit ich klein bin, habe ich ihr jeden Tag ein Gebet gespendet, ich habe ihr immer einen Teil meiner Jagd gegeben, ich habe einen Teil meines Essens für sie verbrannt! Ich kann nicht – was tu ich nur..." Lyra hob ihre Hände von den Ohren und vergrub ihr Gesicht schließlich darin.
Eos tauschte einen Blick mit Calypso, die ihn mit weitaufgerissenen Augen anstarrte, als wüsste er alle Lösungen der Probleme, die sie befielen. Dieser Ausbruch erwischte ihn vollkommen kalt. Sein Herz pochte rasant gegen seine Brust und seine Handinnenflächen waren schwitzig, als er vorsichtig einen Schritt nach vorne trat.
„Lyra", sagte er vorsichtig, wappnete sich aber, dass sie erneut schreien würde.
Sie blieb ruhig, schüttelte sich aber.
„Lyra, du kannst jetzt nicht aufgeben", sprach er weiter, seine Stimme ein ruhiger Pol in ihrer Sturmwut. „Du hast selbst immer gesagt, wir müssen weitermachen. Wenn du nicht wärst, dann hätten wir es gar nicht erst so weit geschafft. Wir finden deine Schwester, ja? Und ich verspreche dir, sie werden alle am Leben sein. Wenn sie nur einen Teil deiner Stärke haben, dann werden sie es schaffen."
Lyras zitternde Finger sanken langsam und sie hob den Blick. Sie starrte ihn an, als wäre sie sich nicht sicher, ob er wirklich da wäre und Eos schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Es war nur ein Traum", meinte er. „Wir haben alle Träume." Er unterdrückte die aufkommende Hitze in seinem Gesicht, als er an die vorletzte Nacht zurückdachte, in der er durch Hypnos diesen wunderschönen Traum geträumt hatte. Beinahe fragte er sich, ob Lyra, von der er glaubte, dass sie ebenfalls mit dem Gott des Schlafens gesprochen hatte, ebenfalls einen Traum geschenkt bekommen hatte, verwarf den Gedanken aber wieder. Es gab Wichtigeres, worüber er nachdenken musste.
„Nur ein –", fing sie an und stockte. Wie aus dem Nichts schnellte ihre Hand hervor und stieß Eos hart gegen die Brust.
Eos sog scharf die Luft ein, als ein stechender, brennender Schmerz seinen ganzen Brustkorb durchzog und ihm im nächsten Moment der komplette Atem aus dem Körper gepresst wurde, als er nach hinten stolperte. Sein Atemzug ging in ein Würgen über, Tränen sammelten sich in seinen Augen und sein Kopf fing Feuer. Hätte er Luft zum Schreien, dann hätte sein Brüllen den Minotaurus angelockt.
„Eos!", rief Calypso erschrocken auf. Sie lief zu ihm als er in die Knie ging und legte ihm vorsichtig die Hände auf die Schultern.
Seine eigenen Finger flogen zu der Stelle, gegen die Lyra geschlagen hatte. Pochend, brennend zog der Schmerz durch jede Pore seines Leibs.
„Scheiße", fluchte er, kaum dass er wieder genug Luft zum Sprechen hatte. „Was sollte das?"
Lyra starrte auf die Hand, mit der sie Eos geschlagen hatte. Ihre Finger zitterten. Sie drückte sie zu einer Faust zusammen. Das Licht des Labyrinthes warf tiefe Schatten auf ihr Gesicht, wodurch sie wesentlich älter aussah, als sie eigentlich war. „Ich – es tut mir leid", murmelte sie.
„Das macht es auch nicht besser", knurrte Eos. Er tat ein paar kräftige Atemzüge, um den Schmerz zu vertreiben. Sein Herz raste, als hätte er gerade das gesamte Labyrinth durchrannt. „Ich wollte dich nur aufmuntern, verdammt." Er rieb sich vorsichtig den Brustkorb.
„Ich weiß", erwiderte Lyra niedergeschlagen. „Es tut mir leid. Aber meine Schwester –"
„Wenn du hier nur rumsitzt und meckerst und moserst, wird es auch nicht besser", schaltete sich nun Calypso mit ins Gespräch ein. Ihre Stimme war erschreckend laut, sodass sowohl Eos als auch Lyra sie ziemlich erstaunt ansahen. „Es ist doch so! Du hast mir noch gesagt, ich sollte mich nicht so anstellen, als wir Castor verloren haben, aber kaum, dass dich etwas mitnimmt, müssen wir warten, bis es dir besser geht? Ich glaube nicht, dass das fair ist."
„So wollte ich das nicht –" Lyra wurde erneut unterbrochen, als Calypso ihr ins Wort fiel.
„Weißt du, ich kann dich vollkommen verstehen", sagte sie, wobei ihre Stimmlage alles andere als mitfühlend klang. „Du willst deine Schwestern beschützen und es ist nicht einfach, dass ihr getrennt wurdet. Aber du lässt deinen Unmut nicht an Eos und mir aus, oder du lernst mich wirklich kennen." Ihre Finger, die zuvor sanft auf Eos' Schultern geruht hatten, gruben sich nun schmerzhaft in seine Haut, aber sie ignorierte sein zischendes Luftholen. „Also lass uns endlich weitergehen und deine Schwestern finden, ja? Du willst sie ja wohl retten und das kannst du nicht, wenn du weiter hier auf dem Boden hockst!"
Erneut hüllte eine unheimliche Stille die drei Kinder ein, nur unterbrochen von ihrem eigenen Atmen, welches in Eos' Fall noch etwas unbeholfen war.
Lyra wischte sich fahrig übers Gesicht und stand zitternd auf. Ihre geröteten Augen waren geschwollen, ihre Wangen dunkel. Sie sah Eos in die Augen und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder.
„Ist schon gut", murmelte er und erhob sich ebenfalls, wobei er Calypsos Hände von seinen Schultern streifte. „Wir sollten", er unterdrückte ein schmerzhaftes Keuchen, als ein Husten sich in seiner Kehle anbahnte, „einfach weiter."
Calypso sah für einen Augenblick so aus, als wollte sie der Konversation noch etwas hinzufügen, dann zuckte sie lediglich kaum sichtbar mit den Schultern und schulterte ihr Gepäck. Ihr Blick war kühl und distanziert, als sie schließlich als erstes den kleinen Raum verließ.
„Es tut mir echt leid", sagte Lyra, als sie und Eos Calypso gemeinsam folgten.
„Wie gesagt, schon vergessen", erwiderte Eos, auch wenn sein Brustkorb noch immer schmerzte und es sich anfühlte, als wäre sein Oberkörper in Feuer getaucht. Er konnte Lyras Angst ja durchaus nachvollziehen. Wenn er einen Bruder hätte, der mit ihm im Labyrinth wäre und er würde träumen, eben dieser Bruder sollte tot sein, dann würde er wahrscheinlich ebenfalls den Kopf verlieren. Lyra hatte die ganze Zeit, seit ihre Gruppe das Labyrinth betreten hatte, ruhig Blut bewahrt. Es lag nicht an ihm, ihr jetzt einen Vorwurf zu machen, weil sie ihren Gefühlen die Oberhand ließ, auch wenn ebenjene Hand ziemlich wehtat.
Ihre Prozedur folgte dem Gang hauptsächlich schweigend. Calypso führte sie an, während Eos immer mal wieder eine Atempause benötigte, wenn sich sein Brustkorb so anfühlte, als würde der phobo'ische Löwe ihn mit seiner Kralle malträtieren. Während er beobachten konnte, dass Lyra sich augenscheinlich von ihrem Ausbruch erholt hatte, wandten sich seine Gedanken wieder der riesenhaften Sinnestäuschung des Gottes der Angst zu. Wenn bereits ein niederer Gott solch eine Macht hatte, die dazu fähig war, ihn körperlich zu verletzen und die Realität zu verändern, was für eine Kraft würde dann erst einer der alten Götter innehaben? Was für Wunder könnte die Urmutter Gaia vollbringen? Welche Schrecken könnte Tartarus auf diese Welt schicken, wenn er bei vollem Bewusstsein sein würde? Er mochte es sich gar nicht ausmalen, aber immer wieder schickte sein Unterbewusstsein ihm ein grausames Bild nach dem anderen; eine Welt ohne Licht, jeglicher Farbe entzogen; die Monster des Tartarus, die auf der Oberfläche wüteten; ganze Horden von Minotauren, die die Menschen jagten; geschundene Olympier, das zerstörte, goldene Tor des Olympus, überrannt von den dunklen Urgöttern. Er hoffte inständig, dass kein einziges dieser Bilder je eintreffen würde. Oder er wenigstens nicht mehr am Leben sein würde, wenn es geschehen würde.
„Wie sollen wir überhaupt eine der anderen Gruppen finden?", fragte Eos nach einiger Zeit des schweigsamen Laufens. „Ist das Labyrinth nicht noch größer als Kreta?"
„Es gibt keine Taktik, um die anderen zu finden", gab Lyra leise zu. Sie hatte die Finger ineinander verschränkt und drückte und zog ständig an ihnen herum. „Wir können uns lediglich auf unser Glück verlassen und hoffen, dass die Moiren uns gnädig gestimmt sind."
„Oder eine der Gruppen findet meine Markierungen und folgt ihnen", sagte Calypso. Sie blieb stehen und wandte sich zu ihren anderen Begleitern um. „Sie dienen uns ja nicht nur als Zeichen, dass wir einen Gang bereits belaufen haben."
„Hast du keine Sorge, dass nichts anderes den Markierungen folgen könnte?", fragte Eos und biss sich auf die Lippe. Diesen Gedanken hatte er schon eine ziemlich lange Zeit, wollte ihn aber nie laut aussprechen, in der Hoffnung, dass die Befürchtung, die er damit freisetzte, nicht wahrwerden würde.
Calypso biss sich ebenfalls auf die Lippe. „Ich – glaube nicht, dass hier etwas lebt, was intelligent genug ist, um so etwas zu können." Zumindest hoffte sie das, konnte er aus ihrem Blick ablesen. Sie mied ihre Blicke, indem sie auf etwas schräg hinter Eos' Schulter schielte.
„Ich wünschte, wir würden Hermes treffen", flüsterte Lyra, mehr zu sich selbst, als zu den anderen, aber laut genug, damit Eos es verstehen konnte. „Ich meine, er könnte uns bestimmt den Weg weisen", fügte sie hinzu, als sie bemerkte, dass sie laut gesprochen hatte.
„Meinst du?", fragte Calypso mit Zweifel in der Stimme. „Ich dachte, die Mächte der Götter wären hier eingeschränkt."
„Das sah bei Dionysos aber anders aus", knurrte Lyra. „Die Götter sind mächtig und sie werden auch hier ihre Kraft haben." Sie rang weiterhin mit ihren Händen.
„Es ist für uns nicht verständlich", sagte Eos. „Die Wege der Olympier können uns nicht klar erscheinen, weil wir nicht in ihren Sphären existieren. Wir sind nur kleine Menschen und sie sind kraftvolle Wesen der Natur."
„Kraftvolle Wesen der Natur, das mag ich."
Zum zweiten Mal in wenigen Stunden ertönte eine fremde, körperlose Stimme zwischen ihnen, welche die Kinder zusammenfahren ließ. Eos sprang zurück und zog seine Klinge hervor – ein kurzer, stechender Schmerz durchzog seinen Brustkorb, aber diesen ignorierte er weitestgehend, auch wenn er trotzdem zischend einatmete.
Calypso schrie auf, Lyra packte ihren Dolch mit festen Händen und blickte sich mit raubtierhaften Augen im Gang um.
Die Stimme war tief und weiblich mit einer Spur Zynismus. Eos spürte, wie ihm die Gänsehaut den gesamten Körper hinabkroch. Was fanden die Götter nur daran, sich so an sie anzuschleichen?
Sie befanden sich an einer Kreuzung – zwei Gänge gingen zu ihrer Linken und Rechten ab, einer weiter nach vorne. Die Luft war kühl. Das Licht war grell – eine Tatsache, die Eos erst jetzt wahrnahm. Es war heller als sonst.
„Zeigt Euch!", rief Lyra, den Dolch kraftvoll ausgestreckt.
„Ich soll dir meine Form präsentieren, Kind?", fragte die Stimme. „Meine wahre Form würde euch die Augen aus dem Schädel brennen und euer Blut zum Kochen bringen." Ein süßliches Kichern erklang, als würde diese Vorstellung dem Sprechenden große Freude bereiten.
„Wer seid Ihr?", erwiderte das Mädchen.
Die Luft schimmerte, das Licht war schwarz, dunkel – ein schwaches Glitzern erfüllte den Gang. Erschrocken stolperte Eos noch weiter zurück, als ein dichter Nebel aus dem Boden sickerte und sich zu der schwankenden Kontur einer hochgewachsenen Person formte. Der unmissverständliche Geruch nach Äpfeln drang an ihre Nasen – Lyra fing seinen Blick auf und ihre Augen glänzten, beinahe als wollte sie sagen: „Ich hab es euch doch gesagt."
„Stolz ist eine gefährliche Hybris", sagte die Stimme der noch körperlosen Frau. „Sieh dich vor, junge Sterbliche."
„Ich bin nicht stolz!", rief Lyra zittrig aus.
„Du kannst vor einer Gottheit nicht lügen, Mädchen." Der Nebel verdickte sich und enthüllte die Form einer großen Frau, mit kurzen, dunklen Haaren. Sie könnte als sterbliche Königin durchgehen, wäre dort nicht die Tatsache gewesen, dass ihr Gesicht das eines Raubvogels war. Ihre Augen waren zu Schlitzen verzogen. Sie leuchteten grell und gelb durch das Licht des Gangs. Statt einer Nase und eines Mundes besaß sie einen spitz zulaufenden, ockerfarbenen Schnabel, der mit dutzenden, winzigen Zähnen besetzt war. Sie klapperte damit und legte den Kopf schief.
Erst auf den zweiten Blick wurde Eos klar, dass sie keine Haare, sondern dünne, dunkle Federn auf dem Kopf hatte, die so klein und schmal waren, dass sie tatsächlich beinahe wie Haarsträhnen aussahen.
Die Frau trug einen schwarzen Chiton, passend dazu einen Gürtel aus Federn und sandfarbene Sandalen. Helle, leuchtende Kristalle bedeckten ihre Hand- und Fußgelenke und brachen das Licht des Gangs in tausende Farben. Ein peitschendes Geräusch erfüllte die Luft und als die Frau einen halben Schritt nach vorne trat, schoss ein langer, gelblicher Schweif hinter ihren Beinen hervor, dessen Spitze mit einem dunklen Federbüschel bedeckt war.
„Deswegen solltest du es auch gar nicht versuchen", sprach sie weiter. Es war ein seltsam-beängstigendes Bild, wenn sie ihren Schnabel bewegte und damit wie eine Sterbliche – oder in ihrem Fall Göttliche – sprach. „Besonders vor mir nicht."
„W-Wer seid Ihr?", fragte Calypso mit zitternder Stimme. Sie war zurückgewichen, ihre Hacken drückten gegen die steinerne Wand. Mit ihrer Hand griff sie nach Eos' Ellbogen, woraufhin sich ihre Finger in seine Haut krallten.
„Ich bin Nemesis", sagte die Göttin mit dem Raubvogelgesicht. Ihr Schweif peitschte beim Reden umher, als wollte er unsichtbare Quälgeister verscheuchen. „Ein Geschöpf der Rache und ein Kind der Nacht." In einem unheimlichen Ansatz verrenkten sich ihre beiden Schnabelhälften, sodass es aussah, als würde sie lächeln. Dabei wurden die spitzen Zähne entblößt.
„Dann kam der Geruch von Euch", murmelte Lyra.
Nemesis lächelte erneut, wenn man es denn so nennen konnte und schickte damit einen weiteren eiskalten Schauer Eos' Körper hinab. „In der Tat." Sie hob ihre leere Hand und führte Daumen und Zeigefinger nah aneinander, hielt aber genug Abstand, dass sie sich noch nicht berührten und einen Augenblick später hielt die Göttin einen dünnen Zweig mit sattgrünen Blättern in der Hand. Ein glänzender, roter Apfel hing an der Spitze. „Mein Apfelzweig", fügte sie unnötigerweise hinzu.
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