21.2 Stagónes - Tropfen
Die nächste Stille, welche die kleine Gruppe einnahm, war angenehmer. Es fiel Taras leichter, seinen Gedanken nachzuhängen, als ein Gespräch anzufangen. Er hatte das Gefühl, dass Orion sowieso im Moment nicht allzu gut auf ihn zu sprechen war, deswegen wäre es sicherlich die bessere Entscheidung, fürs Erste zu schweigen.
Dieses Schweigen wurde erst gebrochen, als Orion an der nächsten Ecke auf die beiden wartete und stockte. Die von Taras gefürchtete Sackgasse, die sie durch den dunklen Gang zwingen würde, blieb ihnen allerdings erspart. Ein Raum, ähnlich dem, in dem sie auf Tyche getroffen waren, erstreckte sich vor ihnen, die Wände ein nahtloser Anschluss an das üblich herrschende Grau der Gänge. In der Mitte rankte sich eine baumstammfarbene Säule in die Decke, in welcher sie sich verwurzelte, als würde dort tatsächlich ein auf den Kopf gestellter Baum herauswachsen. Statt einer sattgrünen Krone hatte dieser Baum allerdings eine freischwebende, nebelfarbene Tischfläche, die mit einigen Sitzgelegenheiten in Form von Stühlen und Bänken bestückt war. Wie bei der Göttin des Glücks zuvor prangte ein üppiges Festmahl auf dem Tisch. Taras konnte saftige Braten und knackiges Obst erkennen, sowie eine vergoldete Schüssel, aus der das dargebotene Essen noch immer dampfte, als wäre es soeben zubereitet worden.
„Das ist mir nicht geheuer", brummte Orion.
„Das sieht echt gut aus", murmelte Taras, dem das Wasser im Mund zusammenlief. Obwohl sein Proviantbeutel noch mit dem Mahl gefüllt war, welches sie von Tyche erhalten hatten, wäre es doch Verschwendung, wenn sie solch ein gut vorbereitetes Essen einfach ignorieren würden. Seine Finger zuckten unangenehm.
„Jetzt sagt mir meine Intuition, dass wir das ignorieren sollten", erwiderte sein Bruder durchdringend.
„Aber wer würde denn solch ein schönes Mahl stehen lassen?", fragte eine Frau mit sanfter Stimme und kicherte mädchenhaft.
„Was?", rief Taras erschrocken aus. Er sprang einen halben Schritt zurück.
Orion blickte ihn irritiert an. „Wir sollten weiter gehen", wiederholte er langsam. Seine Augen hatte er misstrauisch zu Schlitzen verengt und er sah verwirrt aus.
„Alles gut?", fragte Aigis vorsichtig.
Die kleine Hand, die sie an seinen Arm legte, reichte aus, damit er noch einmal zusammenzuckte. Taras blickte zu ihr. „H-Hast du das eben gesagt?"
„Was gesagt?" Sie kräuselte die Augenbrauen.
„Geht's dir nicht gut, Taras?", fragte Orion besorgt und kam einen Schritt auf seinen Bruder zu.
„Ich – Aber da hat doch gerade jemand gesprochen", antwortete er. Taras war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich etwas gehört hatte. „Ich bin eigentlich sicher gewesen, dass jemand gesprochen hatte."
„Da war nichts", erwiderte Aigis mit sanfter, vorsichtiger Stimme, als hätte sie Sorge, Taras würde wütend werden oder durchdrehen, wenn sie etwas Falsches sagte. „Oder hast du etwas gehört?"
Orion verneinte mit einem Kopfschütteln. Er sah seinen Bruder alarmiert an.
„Sterbliche mit geringer Resonanz können meine Macht nicht wahrnehmen", sagte die Frauenstimme. Bei ihrem Klang zuckte Taras wieder zusammen. „Es ist ein simples Konzept, wirklich. Geistige Stärke hat einen so viel höheren Wert als körperliche Kraft."
„Da!", rief er panisch aus. „Da ist es schon wieder. Jemand spricht!"
„Ich höre niemanden", sagte Orion. Seine Augenbrauen näherten sich immer mehr an, sein Blick in einen trüben See aus Sorge getaucht.
„Mein süßer Sterblicher", sprach es wieder. „Dein Körper ist erschöpft. Komm, ruh dich an meinem Tisch aus. Nimm meine Speisen zu dir. Stärke dich für deine Weiterreise. Was du erlebtest, ermüdet selbst den Geist. Auch ein heldenhafter Mann kann nicht alles erbahren."
Der verführerische Duft der Speisen drang an Taras' Nase und als hätte er ein Signal in seinem Körper ausgelöst, spürte er seine müden Knochen besonders deutlich. Seine Kraft brannte nur noch mit kleiner Flamme und er wusste, wenn er nur ein gutes, erholsames Mahl zu sich nehmen würde, dann wäre er für den restlichen Aufenthalt im Labyrinth bestens gerüstet. Mit seinem Bruder an seiner Seite stand ihrem Überleben nichts mehr im Weg.
„Taras, lass uns verschwinden." Orion zog an seinem Arm. „Das riecht nach einer Falle für mich. Wir sollten hier wirklich nicht sein."
„Obwohl es wirklich gut riecht", sagte Aigis leise. „Sollten wir es wirklich stehen lassen? Das ist doch aus einem offensichtlichen Grund hier, oder nicht?"
Orion warf ihr einen giftigen Blick zu. „Nicht du auch noch!"
„Sag mir nicht, du würdest das großzügige Geschenk einer Gottheit ablehnen? Was mir am meisten am Herzen liegt", sagte die Frauenstimme und dieses Mal war ein breites Lächeln nicht zu überhören, „ist euch Kinder sicher wieder Heim zu wissen. Aber dafür braucht ihr die richtige Stärkung. Komm, Kind, setz dich mit deinen Freunden an meinen Tisch. Ich lade euch an meinen Herd ein."
Taras' Finger zitterten vor Aufregung. „Wir sollen essen", sagte er. „Es ist für uns angerichtet!"
„Woher willst du das wissen?", keifte Orion aufgebracht und krallte seine Hand in Taras' Arm, sodass seine Fingernägel an seiner Haut kratzten.
„Die Stimme sagte es mir", erwiderte er mit lahmem Unterton. „Sie sagte, sie lädt uns an ihren Herd ein."
„Sie – sie hat was?", fragte sein Bruder langsam. Unglaube mischte sich in seinen sorgenvollen Blick. „Hat sie das wirklich gesagt?"
„Ganz sicher", meinte Taras lächelnd.
„Vertrau mir, kleiner Sterblicher. Nach einem stärkenden Mahl wird es euch allen besser gehen. Selbst deinen resonanzschwachen Begleitern." Die Frau klang freundlich, hatte einen beinahe mütterlichen Ton in der Stimme. „Am Herd einer Göttin seid ihr sicher."
„Am Herd einer Göttin sind wir sicher", wiederholte Taras erstaunt. „Das hat sie gesagt. Gerade eben."
„Eine Einladung an den Herd ist ein Versprechen der Sicherheit", murmelte Orion. Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Aber warum kannst nur du sie hören?"
„Sie sagte etwas von Reso – Resonanz, glaube ich, aber ich weiß nicht, was das ist", meinte der Jüngere erklärend.
„Ich auch nicht", erwiderte Orion kopfschüttelnd auf den fragenden Blick seines Bruders hin.
„Jetzt setzt euch doch endlich", sprach die Frau tadelnd, aber noch immer mit einem Lächeln in der Stimme. „Es wird noch kalt, wenn ihr nicht schnell esst."
Taras trat einen vorsichtigen Schritt nach vorne, Orions Hand auf seinem Arm. Die baumstammartige Säule im Blick, betrat der Junge den Raum, den Duft der frischen Speisen in der Nase. Er entdeckte einen noch dampfenden Laib Brot, der nur darauf wartete von ihm angebrochen zu werden, damit er ihn mit Bratensoße beträufeln konnte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Zu der Müdigkeit mischte sich ein nagendes Hungergefühl. Er schüttelte die Hand seines Bruders ab und folgte der Einladung der Göttin, die zu ihm gesprochen hatte.
Der Stuhl, auf den er sich setzte, war so bequem, dass es sich anfühle, als hätte jemand seinen gesamten Körper in ein weiches Kissen gewickelt. Wohlige Wärme breitete sich in ihm aus.
„Es riecht so gut", meinte Taras und schluckte.
„Alles für euch", sprach die Frau.
Orion und Aigis folgten zögerlich, waren aber noch mehrere Schritte vom Tisch entfernt.
Taras, der die freundliche Göttin nicht länger warten lassen wollte, griff nach einem Kelch mit kristallklarem Wasser darin, setzte ihn an die Lippen und nahm einen großen Schluck davon.
„Taras!", rief Orion erschrocken aus und überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen. Sein Blick war voller aufgeregter Sturmwolken. „Du kannst doch nicht", fing er an, stockte dann aber. „Wie geht es dir?"
„Wunderbar", erwiderte der Junge mit kribbelndem Mund.
Ein freudiges Lachen ertönte. Dieses Mal zuckte nicht nur Taras zusammen, sondern Orion und Aigis ebenfalls, die aussahen, als hätten sie einen Geist aus der Unterwelt gesehen. „Es gibt eine simple Regel, wenn man es mit Göttern zu tun hat", sagte die Frauenstimme, die der Junge zuvor allein gehört hatte.
Heiße Panik drang in Taras' Kopf ein und er stieß vor Schreck den Kelch mit Wasser um, aus dem er getrunken hatte.
„Nimm nie ein Geschenk an, wenn du den Schenkenden nicht kennst. Die Einladung an einen Herd gilt erst dann, wenn ein Namensaustausch stattgefunden hat. Ein Herd bedeutet Sicherheit. Die hättet ihr alle erhalten können, wenn ihr mich nach meinem Namen gefragt hättet. Du dummer, ahnungsloser, sterblicher Tor. So ein junges Leben."
„Was soll das bedeuten!?", schrie Orion, dessen Hand sich schmerzhaft in Taras' Schulter bohrte. „Wer seid Ihr!?"
„Ich bin euch keine Antwort schuldig", flüsterte sie. Das Lächeln in ihrer Stimme war versiegt. „Doch möge euch diese Begegnung besser vorbereiten. Ich bin nicht bösartig, aber Regeln müssen eingehalten werden. Denkt daran, solltet ihr weiteren Gottheiten begegnen. Gehabt euch wohl, junge Sterbliche. Achlys wird an euch denken."
Es gab einen bitterkalten Luftzug und jedwede Gefühle von Müdigkeit und Hunger wurden aus Taras' Körper vertrieben. Sein Mund war trocken, als hätte er statt kühlem Wasser Sand getrunken. Seine Finger zuckten. Seine Haut juckte. In seinem Bauch breitete sich ein wärmendes Gefühl aus, als wäre ein kleines Feuer in seinem Inneren entzündet worden. Jeder Versuch zu schlucken tat weh.
„Bist du wohlauf?", fragte Orion und schüttelte seinen jüngeren Bruder grob. „Sag was!"
„Ich bin durstig", erwiderte er mit kratziger Stimme. „Wer ist Achlys?"
Ein panischer Atem drang an seine Ohren und Aigis schlug sich die Hand den Mund. Ihre Augen waren schreckgeweitet und die Pupillen zitterten in ihren dunklen Höhlen.
„Was ist?", fragte Orion sie barsch.
„Sie ist eine Tochter der Nyx, aber man sagt, sie sei schon immer dagewesen. Sie wird auch Nebel des", Aigis' Stimme versagte.
Taras spürte eine eisige Klaue durch seinen Körper gleiten, als das Mädchen aufhörte zu reden.
„Nebel des was?", fragte der Junge. Er räusperte sich. Das unangenehme Gefühl in seinem Rachen blieb, doch dazu hatte er mit einem Mal das Gefühl, Blut zu schmecken.
„Sie wird auch Nebel des Todes genannt", hauchte sie zitternd. Die Finger, die sie vor ihren Mund klammerte, bebten und kratzten über ihre Haut. „A-Am liebsten arbeitet sie mit Dunkelheit und Gif-Giften."
„Gift?" Orions Stimme versagte. Sie klang wie ein Geisterhauch auf dem Begräbnisplatz. Seine Augen weiteten sich, als er seinen Bruder anstarrte.
„Aber es fühlt sich nicht so an, als wäre ich vergiftet", sagte Taras mit trockener Kehle. „Ich bin nur durstig."
Weder Aigis noch Orion sagten dazu etwas. Sie blickten ihn lediglich an, als wäre er bereits tot.
„Aber sie hat doch nicht", fing der ältere Bruder mit wildem Blick. „Sie hat ihn doch nicht vergiftet, oder!?"
„Woher soll ich das wissen?", rief Aigis den Tränen nah. „Vielleicht ist das ja auch gar nicht Achlys gewesen, immerhin hat sie sich nicht so als diese vorgestellt!"
„Aber warum sollte sie sonst sagen, Achlys wird uns beobachten?", fragte Orion lautstark. Seine eigene Stimme klang kratzig, als hätte er sich an etwas bitterem verschluckt.
„Mir geht es doch gut!", sagte Taras mit trockener werdendem Mund. Er kramte in seinem Proviantbeutel nach seinem Trinkschlauch. „Ich bin doch nur ein bisschen durstig." Der Junge wusste nicht, wem er das sagte; sich selbst oder seinen beiden Begleitern. Als er den angsterfüllten Blick seines Bruders sah, wurde der Geschmack von Blut in seinem Racken prominenter. Er hoffte wirklich, dass nichts geschehen würde. Er hustete trocken.
„Oh Götter", murmelte Orion. „Poseidon, Wellenbrecher und Gezeitenbringer, oh bitte, sorg' dafür, dass mein Bruder nicht vergiftet ist."
„Mir geht", fing Taras an und unterdrückte ein Husten, „es gut, Orion." In seinem Kopf allerdings breitete sich gerade nur ein Gedanke aus. Und er beinhaltete zu viel Tod.
Aigis sagte nichts. Sie klammerte sich an sich selbst, zitternd.
Taras glaubte an seine eigenen Worte. Nichts würde sie jetzt auseinanderreißen können. Es ging ihm gut.
Dann brannte er. Sein Innerstes fing Feuer, seine Kehle wurde zur Wüste und ein brennendes Ziehen wallte durch seinen ganzen Körper, als würden flammende Ketten seine Gliedmaßen in alle Himmelsrichtungen zerren. Er schrie, aber alles, was seinen Mund verließ, war ein trockenes, zerstörtes Röcheln.
„Taras!", schrie Orion. Er packte seinen Bruder und schüttelte ihn, was lediglich darin resultierte, dass er noch mehr Schmerzen verspürte. Wütend brüllte Orion auf, seine Stimme ein einzelner Chor aus Schmerz und Hass. „Übergib dich! Schnell!"
Ohne viel Federlesen griff Orion mit seiner Hand in Taras' Mund, drückte mit seinen Fingern tief in dessen Rachen. Im nächsten Moment spie der Junge seinen gesamten Mageninhalt in einem widerlichen, brennenden Schwall auf den Boden, der mit einem abartigen Platschen aufkam und Aigis erschrocken und angewidert aufschreien ließ.
Taras würgte und spie und röchelte, aber der Schmerz hörte nicht auf. Das Feuer in seiner Magengegend, welches er zuvor noch als angenehm und wärmend empfunden hatte, brannte durch seine Eingeweide. Sein Blut war das Öl in der Flamme, seine Knochen der Zunder. Er zerging in seinem eigenen Inferno.
Da lagen Worte auf seiner Zunge, die er loswerden wollte. Sein Tod kam mit rasendem Umhang näher, aber Taras konnte die Welt nicht verlassen, wenn er Dinge zu sagen hatte. Er hatte Orion nicht gesagt, wie dankbar er ihm war. Er hatte ihm nicht gesagt, dass er hätte auf ihn hören sollen. Er hatte ihm nicht gesagt, dass er ihn liebte.
Seine Chancen flossen dahin, als wären sie Wasser in einem umgestoßenen Trinkkelch. Er rutschte vom Stuhl und kam hart auf dem Boden auf. Orions Mund bewegte sich aggressiv und schnell, aber alles, was er hörte, war ein dumpfes Pochen, das er einen Augenblick als seinen eigenen, schwachen Herzschlag identifizierte.
Steig ein.
Sein linker Arm wurde als erstes taub und unbeweglich. Taras rutschte weg und stürzte erneut zu Boden, als er sich schwächlich aufrappeln wollte. Seine Sicht verschwamm.
Er hatte nicht verstehen können, was Phobos gemeint hatte, aber jetzt war es ihm auch egal. Die Angst zerfraß ihn förmlich. Sie war ein Teil des Feuers, welches sich durch seinen Körper brannte. Flammende Schmerzen ließen ihn weinen, schwitzen und nach Luft ringen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals solche Schmerzen gehabt zu haben. Es fühlte sich an, als würden die Furien seinen Körper zerreißen und ihn wieder zusammensetzen, nur damit sie ihn erneut zerreißen konnten. Alles an ihm schmerzte.
Wir fahren los.
Irgendwo hinter seinen Augen drückte etwas. Ein mächtiger Kopfschmerz paarte sich mit dem brennenden Feuer. Er wollte schreien, war sich aber nicht sicher, ob seine Kraft ausreichte. Sein Gehör war zerstört. Das Pochen wurde langsamer. Ihm fehlte die Energie, sich aufzurichten. Wenn Orion ihn nicht gehalten hätte, dann läge er mit dem Gesicht auf dem Boden. Irgendwo zu seiner Linken – oder Rechten, er war sich nicht mehr sicher, es drehte sich in seinem Kopf – sah er das weinende und verstörte Gesicht von Aigis, die ihn mit den großen, verschreckten Augen eines Rehs anblickte.
Die Fähre wartet nicht ewig, Junge.
Die verschlingenden Flammen in seinem Körper verschwanden, der Schmerz hörte abrupt auf. Es war nur einen Moment später, dass Taras bemerkte, dass er nichts mehr spürte. Er sah auch nichts mehr. Es war schwarz und dunkel. Um ihn herum herrschte tosende Stille. Er wollte nach seinem Bruder greifen, war sich aber nicht mehr sicher, ob er seine Hand überhaupt bewegte. Jegliches Gefühl war verschwunden. Er spürte gar nichts.
Wird auch Zeit.
Das Rauschen eines Flusses drang an seine Ohren, wenn auch leise und verschwindend, als könnte sich das Geräusch nicht ganz entscheiden, ob es nun wirklich gehört werden wollte. Phobos' Worte bewahrheitete sich, als ein flackerndes Licht in Taras' Blickfeld entbrannte und er mit einem Mal in einen Strudel aus Furcht gesogen wurde, der seinen Körper einnahm.
Eine kleine, hellblaue Flamme auf einer aus schwarzem Holz gebauten Laterne flackerte vor ihm, schwang sanft auf und ab. Seltsames Wellenrauschen kam immer näher. Es klang wie Wasser und dann wieder wie schabender Sand. Taras bemerkte, dass er irgendwo saß. Erst hatte er den Stuhl im Raum des Labyrinths im Sinn, doch dieser war bequemer.
„Mach die Augen richtig auf", ertönte eine geisterhafte Stimme vor ihm. „Und schau ein letztes Mal zurück."
Zurück? Taras war sich nicht sicher, wer dort sprach oder wieso er zurückblicken sollte, aber er befolgte es dennoch. Er öffnete die Augen und wandte den Kopf um. Hinter ihm erstreckte sich eine gähnende Schwärze, nur unterbrochen von einem steinernen Raum mit baumstammartiger Säule, gefüllt mit einem Tisch voll Speisen und drei Schemen. Einer der Schemen stand abseits und war kleiner als die anderen. Die beiden anderen waren wie zu einem Bündel auf dem Boden zusammengeschmolzen.
Dann erkannte er sein eigenes, regungsloses Gesicht mit geschlossenen Augen und blasser Haut. Orion lag über ihn gebeugt, den Körper gekrümmt und er schüttelte sich. Es war ein verstörendes Bild, sich selbst zu sehen, aber Taras verstand nicht, was es damit auf sich hatte. Wahrscheinlich hatte er nur einen sehr seltsamen Traum und würde schweißgebadet aufwachen, wenn er soweit war. Seine Augenwinkel brannten.
„Kein Traum", sagte derselbe Jemand. Ein freudloses Schnauben war zu hören.
Taras wandte sich um. Kälte griff mit eisigen Fingern nach seinem Körper. Er erkannte, dass er sich in einem Boot befand, einer kleinen Nussschale mit hölzerner Laterne am Bug. Die hellblaue Flamme brannte einen lichterfüllten Kegel durch die Dunkelheit, aber noch konnte Taras nicht sehen, wo er sich befand. Neben ihm stand eine Gestalt mit dunkler Kutte, bei der die Kapuze das gesamte Gesicht bedeckte und lediglich einen hellen Schimmer zuließ, von dem Taras vermutete, dass es sich um dessen Haut handelte. Sie hielt einen länglichen Stab in der blassen Hand, dessen Ende außerhalb des Bootes hing. Leises Rauschen drang an seine Ohren.
„Merk dir das alles gut", brummte die Figur. „Dein letzter Blick in die Oberwelt."
„Was!?" Taras sprang auf und die Nussschale schwankte bedrohlich unter seinem Gewicht. Er presste seine klammen Hände an die hölzerne Reling des Bootes und blickte hinunter. Das Boot, in dem er und die Kapuzengestalt sich befanden, fuhr nicht über einen Fluss.
Es fuhr durch schwarze, dicke Nebelschwaden, mitten durch die Dunkelheit, weg von dem Bildnis des Baumsäulenraums, in dem Orion mit zuckenden Schultern über seinen, Taras, Körper gebeugt lag. In dem schwarzen Wasser, wenn man es so nennen konnte, schwammen allerlei graue und weiße Gegenstände und Figuren herum. Taras erkannte eine verbogene Klinge, einen zerbrochenen Spiegel und etwas, das ihn mehr an ein Kindergesicht erinnerte, als es ihm lieb war.
„Was ist das?", fragte er mit schwacher Stimme und schreckte zurück.
„Styx", antwortete die Gestalt im Boot.
„Der Totenfluss?" Taras sank wieder auf den Boden der Nussschale. Kälte ergriff ihn.
„Der Einzige", sagte der andere.
„Und du bist dann..."
„Charon." Er schob seine Kapuze tiefer ins Gesicht.
„Der Fährmann der Toten." Die Erkenntnis schwappte über ihn wie eine Flutwelle. Das war kein Traum. Es war echt. Der Fluss Styx führte in die Unterwelt und in die Unterwelt kamen nur Menschen, die –
„Du bist tot", sagte Charon mit weicher Stimme. „Es ist normal, dabei ein bisschen erstaunt zu sein."
Wenn er wirklich tot war, dann hieß das, dass er gestorben war. Und das wiederum hieß, dass der Kelch, aus dem er getrunken hatte, tatsächlich vergiftet gewesen war. Achlys hatte ihn vergiftet und getötet.
Heiße Tränen benetzte seine Wangen. Orion hatte Recht gehabt. Er hätte nicht...
„Was ist mit meinem Bruder?", fragte Taras mit dünner Stimme.
„Er ist nicht hier", erwiderte Charon. „Noch lebt er. Wenn er es ebenfalls in mein Boot schafft, dann seht ihr euch wieder. Vorausgesetzt, du erkennst ihn dann noch. Die Felder des Asphodelos rauben einer Seele schneller ihre Erinnerungen, als man glaubt. Achte darauf, nicht den Lethe zu berühren, sonst vergisst du sogar, dass du nur noch eine hüllenlose Seele bist und dein ganzes Selbst verschwindet."
„Aber ich bin – ich kann doch nicht –", fing Taras an, aber stockte, als ein Schluchzen seine Stimme vertriebt.
„Du bist", sagte der Fährmann. „Kein Lebender betritt die Unterwelt, ohne den Preis zu zahlen."
„Aber ich habe keinen Ritus erhalten – keinen Obolus! Du dürftest mich doch gar nicht mitnehmen!", rief der Junge mit tränenbenetzter Wange.
„Kinder – insbesondere die, die ihr Leben im Labyrinth verlieren – werden anders behandelt. Wärest du anders gestorben, hättest du vielleicht eine Chance auf das Elysion gehabt, aber", Charon machte eine Pause und Taras hatte die grauenhafte Vorstellung, dass der Fährmann unter seiner Kapuze grinste, „du bist kein Held. Dein Tod war weder selbstlos noch heldenhaft, noch hat er einem höheren Zweck genützt."
Charon trieb das kleine Boot mit einem Schwung seines Holzstabes – wahrscheinlich das Ruder – voran. Sie durchfuhren die schwarzen Nebelfluten des Styx und in der Ferne konnte Taras donnerndes Tosen hören, als würden gigantische Massen an Wasser irgendwo herunterkrachen.
„Pyriphlegethon und Kokytos", erklärte Charon, als er den suchenden Blick des Jungen bemerkte. „Der schwarze Flammenfluss und der Fluss des Wehklagens. Denen solltest du auch nicht zu nahe kommen. Wenn du Pech hast, treiben sie dich in den Tartarus."
Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Das konnte doch nur ein Traum sein. Er konnte nicht gestorben sein.
„Wärst du nicht tot, wärst du jetzt nicht hier. Du musst es begreifen, Junge. Dein Tod ist eingetreten und du kannst nichts mehr daran ändern. Akzeptiere deinen Tod." Charon wischte erneut durch das schwarze Wasser des Styx. Ein bleiches Gesicht mit geschlossenen Augen und fließenden Haaren schwamm an ihnen vorbei, ehe es davonwirbelte. „Lass dein übliches Selbst zurück und gib deine verlorenen Träume in den Fluss."
„Was soll ich tun?", fragte Taras atemlos und mit dünner Stimme.
Charon, der Fährmann, antwortete nicht, sondern trat von der Reling weg. Sein Ruder schwebte von allein weiter im dunklen Nebel, während er zu Taras ging. Er griff mit kalten Fingern nach dem Arm des Jungen, dessen Haut blass und unverletzt war.
„Was soll das?" heulte er und wollte seinen Arm aus Charons Griff winden, doch der Fährmann war wesentlich stärker, als er gedacht hatte.
Das Wasser des Styx fühlte sich an wie Eis. Es war nicht flüssig, wie Taras geglaubt hatte, sondern dünn und schleierhaft. Die schwarzen Schwaden glitten über seine Haut und er zuckte zurück, aber Charon ließ nicht zu, dass er seinen Arm zurückzog. Der styx'sche Nebel zerrte an ihm. Er drückte gegen seine Haut und schickte ein eiskaltes Gefühl durch seinen Körper. Dann spürte er einen Sog in seinem Kopf, so heftig, dass er seine Augen vor Schmerz schloss. Es fühlte sich an, als würde jemand versuchen sein Hirn aus seinen Ohren zu ziehen.
Eine helle Flüssigkeit drang aus seiner Armhaut und floss in den Styx. Die schwarzen Nebel sogen sie in sich auf.
„Was ist das?", fragte er mit schwächer werdender Stimme
„Du selbst", erwiderte Charon. „Deine Träume, dein Ich, dein ganzes Leben. Styx nimmt alles in sich auf, alle Träume und vergangenen Wünsche. Er wächst und gedeiht dadurch."
„Aber", fing Taras an, stoppte aber und sackte in sich zusammen, als Charon seinen Arm losließ und zurück zu seinem Ruder ging.
„Ruhig jetzt", zischte der Fährmann.
Die Schwärze um sie herum lichtete sich langsam und gab einen Blick auf etwas frei, wovon Taras hoffte, dass er sich das nur einbildete. Eine weite, endlose, graue Fläche, voll besetzt mit tausenden und abertausenden dunklen Schemen und Figuren, die ziellos umherschlenderten. Zwischen den Schemen glitzerten weiße Blumen und einige knorrige, alte Bäume zierten die endlose Wiese. Im Hintergrund konnte Taras einen brennenden Wasserfall aus schwarzem Feuer erkennen, der sich mit einem ebenso schwarzen Fluss in der Luft traf und dann in einen tiefen Schlund stürzte, der wie ein gähnendes Maul des Abgrunds aussah. Ein donnerndes Grollen ertönte in der Ferne, hinter dem schwarzen Horizont. Das Echo klang in Taras' Ohren wie ein Bellen.
„Die Felder des Asphodelos", flüsterte Charon, seine Stimme nur noch ein Hauch des Windes. „Die Blumen nennt man Aphodil. Dort siehst du den Eingang in den Tartarus, in den der Kokytos und Pyriphlegethon münden."
„Was war das für ein Geräusch?", fragte Taras ebenso leise, der mit zitternden Händen an die Reling des Bootes geklammert war, welches, wie er nun bemerkte, mitten in der Luft floss. Der Styx war ein schwarzer Nebelschauer, der sich durch den dunklen Himmel schlängelte und die Felder des Asphodelos umrundete. Einige der dunklen Schemen tranken aus dem Fluss, andere versuchten ihn zu überqueren, aber wurden von den Fluten zerrissen und zergingen in dunklen Schwaden.
„Kerberus", antwortete der Fährmann düster.
Taras riss erschrocken die Augen auf und stolperte zurück.
„Er kann dir hier nichts tun", sagte Charon. „Der dreiköpfige Hund bewacht den Eingang zum Hades am Ufer des Okeanos. Er betritt die Felder nie und die Seelen lässt er auch in Ruhe."
„Seelen?", fragte der Junge mit dünner Stimme.
„Die dunkle Schemen. Du kannst dich zu ihnen gesellen. Wir sind da."
Ohne, dass er es mitbekommen hatte, hatte das Boot angehalten. Langes, farbloses Gras bedeckte die Felder. Die Seelen schwankten durch die tote Fauna.
Taras stieg aus, obwohl er es nicht wollte. Seine Beine schickten ihn vom Boot und von Charon weg.
„Langes Nachleben", wünschte der Fährmann, ehe er kehrtmachte und mit seinem Kahn den Styx wieder hinauffloss.
Warum war er hier? Wo war dieses hier überhaupt? Taras blickte sich um. Die dunklen Schemen waren gesichtslos und schwankten umher. Sollte er mitlaufen? Etwas anderes konnte er ja nicht tun. Die Aphodil-Blumen wankten im windlosen Wind umher.
Taras ging weiter. Der Boden war fest und unnachgiebig, aber er wusste nicht, was er sonst denken sollte. Hatte er nicht noch etwas vorgehabt? Irgendwo in seinem Kopf drückte es, als würde eine Erinnerung hervorbrechen wollen. Ein seltsames Wort strömte durch seine Gedanken, aber er konnte sich nicht erinnern, es schon einmal gehört zu haben. Was bedeutete Orion? War das ein Name?
Wie war eigentlich sein Name? War das wichtig?
Das Rauschen des Flusses in seinen Ohren war das einzige Geräusch. Die schwarzen Fluten übten eine gewisse Anziehung auf ihn aus, aber er konnte sich nicht erinnern warum. Vielleicht hatte er etwas in ihnen verloren, was er zurückholen wollte. Er wusste es nicht.
Wer war er? Warum stand er einfach nur da? Alle anderen gingen weiter, also konnte er genauso gut ebenfalls weiterlaufen.
Sein Körper war ein schwarzer Schemen, sein Gesicht verschwamm im Nebel und er schloss sich den anderen auf den Feldern des Asphodelos an, die sinn- und ziellos umherwankten. Eine Aphodil-Blume blühte zu seinen Füßen. Sein Geist wurde schwarz.
Alles war leer.
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