21.1 Stagónes - Tropfen
„Dieses Mädchen", fing Taras vorsichtig an und warf seinem Bruder einen vorsichtigen Blick zu, „erzähl mir ein bisschen von ihr. Ohne Namen."
Orion biss sich auf die Lippe, ehe er seufzte. Er mied Taras' Blick und schaute stattdessen zu Aigis, die schlafend auf dem Boden lag. „Sie ist hübsch", erwiderte er leise. „Und sie hat das wunderschönste Lachen, das ich je gehört habe. Ihre Haare sehen aus wie Sonnenstrahlen und sie hat weiche Haut. So weich, meine Finger haben gekribbelt, als ich sie das erste Mal berührt habe." In seinen Augen war der Funken einer vergangenen Erinnerung erschienen, der ihm den Glanz einer flackernden Fackel gab. „Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber mein Herz tut mit jedem Schlag weg, den ich nicht bei ihr bin. Ich vermisse ihren weichen Körper und ihre sanfte Art. Sie ist das liebste Mädchen der Welt."
„Sie klingt sehr besonders", sagte Taras lächelnd. Es war erstaunlich, Orion über ein Mädchen reden zu hören; bisher hatte sein Bruder nicht ein einziges Mal vor ihm das Interesse am anderen Geschlecht gezeigt. Umso glücklicher war er, dass er mit ihm darüber reden konnte. „Du musst sie wirklich gern haben."
„Ich glaube ja", murrte Orion. „Aber das ist nicht mehr wichtig."
„Hast", fing Taras an und räusperte sich. „Hast du ihr gesagt, was du fühlst?"
Sein Bruder blickte kurz auf, die Wangen in ein sanftes Rot getaucht. „Dazu bin ich nicht gekommen", murmelte er. „Ich habe ehrlich gesagt nicht gedacht, ich würde Athen verlassen müssen, bis du ausgewählt wurdest."
„Tut mir leid", erwiderte der jüngere der beiden. Ein Gefühl der Schuld überkam ihn, auch wenn er wusste, dass es nicht sein musste. Immerhin war keiner der beiden Brüder an der Situation schuld, in der sie sich befanden.
„Nicht deine Schuld", sagte Orion mit bitterer Stimme. „Aber sollte ich es zurückschaffen, dann muss ich es ihr sagen, sonst kann ich nie den Mut aufbringen."
Taras konnte sich gar nicht vorstellen, dass seinem Bruder der Mut für irgendetwas fehlte. Orion war der mutigste Junge, den er kannte. Wenn er nicht mutig genug für etwas war, wer war es dann? Er hatte es allein mit einer mechanischen Sirene aufgenommen, hatte sich dieser feuerspeienden Bestie entgegengestellt, die tödlichen Ranken erschlagen, einem bronzenen Adler den Schädel durchbohrt und sogar Phobos' Angstgang überstanden. Wenn er sowas konnte, dann war einem Mädchen zu sagen, dass er sie mochte, doch eigentlich keine große Sache.
„Du schaffst es bestimmt", sagte Taras in Ermangelung einer besseren Antwort.
Orion schnaubte und wandte den Blick noch weiter ab. Sein Nacken knackte bei der plötzlichen Bewegung, aber schien es überhaupt nicht wahrzunehmen. Der ältere Junge zog am Saum seines Hemdes und zerrte gedankenverloren an einem Faden.
Die Zeit, bis Aigis aufwachte, zog sich dahin wie dickes Harz, das aus einer aufgerissenen Baumrinde tropfte. Die Brüder schwiegen sich an, keiner der beiden bereit, das Gespräch anzubrechen, das sie unbeendet gelassen hatten.
Taras beschäftigte sich damit, mit seiner Schwertspitze in den Rillen des Steines zu kratzen. Es war nicht die angenehmste Beschäftigung, aber sie half ihm, damit er sich nicht in seinen Gedanken verlor. Die wenige Konzentration, die er benötigte, reichte aus, um nicht im Pessimismus zu ertrinken. Phobos' Worte wollten ihn nicht in Frieden lassen. Er hatte noch immer nicht herausgefunden, was der Gott damit gemeint hatte, dass seine Angst eine Waffe sein könnte. Wenn er sich fürchtete, dann schlotterten ihm die Knie und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie, bei den goldenen Früchten im Garten der Hesperiden, sollte er daraus eine Waffe schmieden?
Phobos hatte gesagt, er hätte seine Furcht akzeptiert. Aber Taras fühlte sich nicht so, als hätte er das wirklich. Sobald er daran dachte, er könnte irgendwie unter Wasser geraten, fühlte er den Angstschweiß seinen Rücken hinunterkriechen und eine eiskalte Hand legte sich um sein Herz. Schlotternd drehten sich seine Gedanken im Kreis, jagten einander wie zwei tollwütige Hunde und bissen sich um die Wette.
Aigis erwachte gähnend. Die kleine Gruppe verschwendete nicht viel Zeit damit, sich großartig vorzubereiten. Die Brüder drehten sich weg, als das Mädchen ihre Blase entleerte, ehe sie sich im Weitergehen etwas aus ihrem Proviantbeutel nahm. Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie ihr Schweigen brach.
„Ich hatte einen seltsamen Traum", sagte Aigis, die neben Taras lief. Sie hielt ihren Blick nach vorne gerichtet, aber spielte gedankenverloren an ihrer Tunika herum, die lose um ihre Hüfte wallte. „Hera hat zu mir gesprochen."
„Was hat sie gesagt?", fragte der Junge neugierig. Sein Gespräch mit Zeus war ihm noch immer bildhaft im Kopf geblieben, auch wenn er sich immer noch nicht sicher war, ob es wirklich passiert war oder ob er sich den Göttervater nur eingebildet hatte.
„Sie hat", fing sie an, stockte aber mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. „Sie hat mir etwas von einem goldenen Apfel erzählt und... einem Drachen mit Giftatem. Sie erzählte von einem Turm aus Gold, der bis zum Olymp strahlte. Dann hat sie noch gesagt, es wäre gefährlich." Aigis verzog die Lippen zu einem anstrengenden Grinsen. „Es war nicht sehr aufschlussreich."
„Was soll das denn bitte bedeuten?", fragte Orion von weiter vorne. Er drehte für einen Moment den Kopf zu ihnen, die Augenbrauen gekräuselt. „Vielleicht hattest du wirklich nur einen Traum."
„Ja, vielleicht", erwiderte sie leise. „Aber ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Was ist überhaupt ein Drache?"
Taras zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Aber es klingt wie etwas, das uns nicht friedlich gesinnt ist."
„Das ist nichts hier", kommentierte Orion. „Ich glaube auch nicht, dass dein Traum uns irgendwas sagen sollte. Es war wohl auch nichts weiter als das – ein Traum. Kein Grund, uns in irgendwelche Interpretationen zu stürzen, die uns den Geist vernebeln. Wir sollten uns lediglich darauf konzentrieren, weiter zu kommen und zu überleben. Alles andere ist zweitrangig."
Je länger sie liefen, desto eher wuchs in Taras das vertraute Gefühl, dass es zu ruhig war. Selbst ihre Schritte schienen im Echo viel leiser zu vergehen, als sie es sollten, aber so langsam war sich der Junge dabei auch nicht mehr so sicher, ob das nicht seiner Fantasie geschuldet war. Er versuchte seine Gedanken in einer steten Geraden zu halten, nicht viel nachzudenken und nicht mit seiner Konzentration hinweg zu gleiten. Das letzte Mal, als er seine Konzentration verloren hatte, wären sie beinahe von tödlichen Würgeranken dahingerafft worden und er wollte vermeiden, dass es erneut zu solch einer Situation kam. Sein Blick blieb auf den Steinquadern auf dem Boden gerichtet, mit gelegentlichen Aufblicken, damit er sich sicher sein konnte, dass nichts von oben oder von hinten kommen würde, das nur darauf wartete, dass die Kinder unachtsam wurden. Er vertraute Orion sein Leben an, aber auch Taras wusste, dass sein Bruder nicht perfekt war. Er war sich sogar beinahe sicher, dass Orion nicht mit solch klarem Blick durch die Gänge des Labyrinthes streifte, wie er es tat.
Es passiert sicherlich bald etwas, dachte der Junge. Irgendetwas muss doch geschehen.
„Warte", sagte Orion plötzlich und stoppte abrupt in seiner Bewegung. Sein Blick war an die östliche Wand gerichtet. Seine Augenbrauen waren stark gekräuselt.
„Was ist denn?", fragte Aigis, als sie mit Taras an seiner Seite stehenblieb.
„Ich glaube, ich habe dahinter etwas gehört", meinte Orion mit leiser Stimme. Er hob die Hand, wie um zu symbolisieren, dass sie ruhig sein sollten. Mit einem vorsichtigen Schritt näherte er sich der Wand und legte seine erhobene Hand auf den kühlen Stein.
Obwohl es Orion war, der etwas gehört hatte, spürte Taras, wie ihn die Spannung in der Luft von innen heraus förmlich zerriss. Das war das, worauf er gewartet hatte. Etwas, das passieren würde. Sei es nur ein Geräusch. Doch die ewige Stille, die im Labyrinth herrschte und in seinen Kopf eindrang, konnte er nicht ertragen. Es war schon schwer genug, wenn er sich in seinen Gedanken verlor und an Phobos dachte, aber noch schlimmer war es, wenn selbst seine Gedanken stumm blieben. Wenn jedwedes Geräusch unterging, alles von der Stille verschluckt wäre, als wäre sie der endlose Weg in den Tartarus, in dem selbst das Echo starb.
„Es ist ganz leise", flüsterte Orion und drückte sein Gesicht seitlich an die Wand, sodass seine Augen seinen Begleitern zugewandt waren.
Taras konnte in ihnen die Verwirrung erkennen, die er selbst verspürte. Was mochte sein Bruder gehört haben und was, wenn es stimmte, verbarg sich hinter der steinernen Mauer?
„Was ist es?", frage er leise, aber Orion hob erneut die Hand, um ihn zu verstummen.
Sein älterer Bruder schloss die Augen und lauschte. Seine Stirn legte sich in Falten, seine Augenbrauen wanderten beinahe bis zu seinem Haaransatz und verschwanden in seinen dunklen Strähnen. Ein Muskel in seinem Oberarm zuckte, als er die erhobene Hand ebenfalls an die Wand legte. Hinter seinen Lidern konnte Taras die Bewegung von Orions Augen sehen, als würde er in seiner selbst erstellten Dunkelheit nach etwas suchen.
„Es klingt wie ein Tropfen", murmelte er, ohne den Mund viel zu bewegen.
„Vielleicht ist eine Höhle dahinter", erwiderte Taras nachdenklich.
„Oder ein unterirdischer See", sagte Aigis, die sehr begeistert von ihrer Idee klang.
„Nein, glaub ich nicht", meinte Orion. Er öffnete die Augen, aber sein Blick ging in die Ferne. Er trat von der Wand zurück, hielt seine Hände aber auf dem Stein.
Taras konnte sehen, wie die Augen seines Bruders die Umgebung absuchten, als wäre er sich sicher, irgendetwas wäre dort. Während er das tat, wiederholte Taras Orions Prozedur und legte sein eigenes Ohr an die Wand, um zu lauschen, ob er das von seinem Bruder gehörte Geräusch ebenfalls hören würde. Er schloss die Augen. Versuchte seinen Herzschlag und seinen Atem auszublenden, Orions leise Schritte zu ignorieren, selbst Aigis' Präsenz blendete er aus, damit er seine Konzentration fokussieren konnte. Es wurde still. Beinahe lautlos. Taras hielt sogar den Atem an, damit er keine Störgeräusche um sich hatte.
Plip.
Da war definitiv ein Geräusch hinter der Wand. Es war leise und kurz, aber es war da. Ein ruhiges, stetes Plätschern. Es klang beinahe so, als wäre dort ein Brunnenschacht, was – wenn er genauer darüber nachdachte – gar nicht so unwahrscheinlich war. Irgendwo über ihnen müsste sich Kreta befinden. In Kreta musste es auch Wasser geben, dachte Taras.
„Was ist das?", fragte Orion.
Taras blickte auf. Sein Bruder schob ihn mit der freien Hand beiseite, dann hob er die linke und legte sie erneut auf den Stein. Ein eiskalter Schauer kroch über seine Haut und er musste sich schütteln, als ihn ein seltsames Gefühl überkam.
Aigis trat einen Schritt näher. „Was denn?", fragte sie neugierig.
„Sieht aus wie ein Buchstabe", erwiderte Orion. Sein Gesicht kam der Steinwand gefährlich nahe, ehe er einen Moment später wieder zurückschritt. „Da." Er zeigte mit dem Finger auf einen der Steine auf Augenhöhe, dann blickte er Taras an.
„Ist das ein D?" Aigis trat noch näher heran und betrachtete das Zeichen an der Wand, wenn sie sich auch ein wenig strecken musste, auf welches Orion zeigte. „Für Dädalus?"
„Könnte sein", murmelte der ältere Bruder nachdenklich. „Was hat das zu bedeuten?"
„Vielleicht ist dahinter ein geheimer Raum", sagte das Mädchen und ein unheilvolles Glänzen trat in ihre Augen. „Bestimmt gibt es davon ganz viele im Labyrinth."
„Ich glaube, wir sollten weiter gehen", mischte sich Taras leise ein. „Das ist mir irgendwie nicht geheuer."
„Es ist doch gar nichts." Orion machte eine Handbewegung, als würde er die Bedenken seines Bruders wegschieben. „Nur eine Wand mit einem Buchstaben."
„Aber es ist eine Möglichkeit", fügte Aigis an. „Vielleicht hat Dädalus ja hier einen geheimen Raum oder einen Ausweg eingebaut. Wurde er nicht auch hier unten eingesperrt?"
„Ja", stimmte Taras widerwillig zu. „Aber keiner weiß, wo er jetzt ist. Vielleicht hat er das Labyrinth ja nie verlassen oder hat es verlassen, ohne, dass jemand davon Wind bekam."
„Wenn ich Dädalus wäre", fing Orion an und wandte sich an seinen Bruder, „dann hätte ich dafür gesorgt, dass ich mir ein paar Rückzugsorte einbauen würde, falls Minos auf die Idee kommen sollte, mich in mein eigenes Labyrinth zu sperren. Geheime Ausgänge, vielleicht Räume mit Proviant und Betten, ich hätte versucht an so etwas zu denken. Also wäre es doch nur logisch, wenn auch Dädalus das getan hat."
Der junge Bruder verzog das Gesicht. „Ich habe nur ein ungutes Gefühl dabei", sagte er. „Wir sollten meiner Meinung nach weitergehen und es ignorieren. Was auch immer das ist oder was auch immer dort hinter ist, ich glaube nicht, dass wir es wissen wollen."
Seine Worte trafen bei seinem Bruder und Aigis jedoch nur auf taube Ohren.
„Wir müssen jede Chance nutzen, die uns geboten wird", antwortete Orion barsch und drehte sich mit aggressivem Blick zu ihm um. „Was, wenn hier ein Ausgang hinter ist?"
„Was, wenn nicht?", erwiderte Taras nicht minder hitzig.
„Wir finden es nicht heraus, wenn wir es nicht ausprobieren. Willst du die Chance verstreichen lassen, vielleicht einen frühzeitigen Ausweg zu finden, nur weil du zu feige bist, sie zu nutzen?"
„Ich nenne das nicht feige, sondern gesunden Menschenverstand!", brachte er mit ruhiger Stimme hervor, auch wenn er das Zittern in seiner Kehle nicht länger verbergen konnte.
„Du vergisst, glaube ich, was unser Ziel ist", zischte Orion gefährlich leise.
„Du hast es schon längst aus den Augen verloren", erwiderte Taras. Er spürte, wie seine Augenwinkel Feuer fingen, als die ersten Tränen begannen, ihren Weg nach draußen zu suchen. „Wir sind hier, um zu sterben."
„Ich bin hier, um genau das zu verhindern!", polterte Orion wütend und kam einen Schritt auf Taras zu. Er packte seinen Bruder an der Schulter, zog ihn am Kragen seines Hemdes zu sich, die Finger fest im Stoff verkrampft. „Falls du es vergessen haben solltest", fügte er leise hinzu.
Die Tränen, die der Junge nicht mehr zurückhalten konnte, flossen ihm die Wangen hinab, aber er spürte, dass er nicht traurig war. Er war wütend. Wütend auf die Sturheit und den Dickkopf seines Bruders. „Keiner hat dich darum gebeten!", schrie er. Die Worte hatten seinen Mund verlassen, ehe er sich ihrer Bedeutung gänzlich bewusst geworden war. „Du hättest nicht mitkommen sollen."
Orions Gesicht verhärtete sich. Kälte schlich sich in seine Züge. Sein Blick, der den von Taras weiterhin standhielt, wurde kälter als sein Klingenstahl und der Griff, mit dem er seinen Bruder festhielt, verstärkte sich. „Ich wäre auch mitgekommen, wenn du etwas dagegen gesagt hättest, Taras. Du bist mein kleiner Bruder", sagte er mit der kältesten, ruhigsten Stimme, die er je bei ihm gehört hatte, „und es ist meine verdammte Aufgabe, dich zu beschützen, ob du es willst oder nicht. Du kannst bocken und dich wehren und heulen, aber glaub mir, das Letzte, das ich tun würde, wäre dich im Stich zu lassen. Und wenn ich eine Chance finde, die uns helfen kann, hier herauszukommen, dann werde ich diese verdammt noch eins auch nutzen."
Die unangenehme, pulsierende Stille, die sich wie ein Herzschlag durch den Gang zog, wurde von einem lauten Poltern unterbrochen, gefolgt von einem spitzen Schrei, der die Brüder auseinanderfahren ließ.
Aigis starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die steinerne Wand, die sich langsam und rumorend in der Mitte teile und einen pechschwarzen Gang entblößte.
„Was hast du getan?", fragte Orion aufgebracht, die Kälte, mit der er Taras angesprochen hatte, noch nicht gänzlich verschwunden.
„Gar nichts", konterte das Mädchen. „Ich habe nur auf den Buchstaben gedrückt, der da in dem Stein war!" Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
„Warum machst du so etwas!?", rief Taras, während er zurückwich. Sein Kragen lag in Falten und er spürte den Phantomgriff seines Bruders noch immer deutlich an seiner Haut. Ein panisches Zittern hatte seinen Körper ergriffen, wallte in einem Schwall aus Hitze in ihm hoch.
„Verdammt", murmelte der ältere Junge.
Ein tiefes, lichtloses Schwarz gähnte sie an. Es hatte Ähnlichkeit mit der Nacht, wenn der Himmel in ein endloses, tintenfarbenes Etwas mutierte und alles Licht verschluckte, das vom Boden aus hinaufstrahlte. Nur glitzerte keine helle Mondscheibe in der Ferne, sondern ein winziges, handgroßes Fleckchen an goldenem Licht, das erst bei genauerer Betrachtung auffiel.
„Was jetzt?", fragte Aigis mit einem Anflug von Verlegenheit in der Stimme, die ihre Aufregung nicht ganz unterdrücken konnte.
„Wenn es schon offen ist", sagte Orion, der mit interessiertem Blick in die dunkle Öffnung blickte, „können wir auch hindurchgehen."
„Was ist mit dem Geräusch?", fragte Taras, der eine gewisse Panik an die Erinnerung daran nicht unterdrücken konnte. Wo ein Tropfen war, konnte Wasser nicht weit sein und er hatte seit der Begegnung mit Phobos eigentlich genug davon, von Dunkelheit und dem potenziellen Tod umgeben zu sein. Der Gott der Furcht hatte sich geirrt. Seine Angst vor dem Ertrinken war noch immer vorhanden. Sie ließ seine Beine zittern.
„Das war doch so leise", erwiderte Orion enerviert. „Uns wird schon nicht die Decke über dem Kopf zusammenbrechen."
Taras warf seinem Bruder einen giftigen Blick zu. „Solltest du nicht dafür sorgen, dass wir sicher sind?", fragte er. „Sagt dir deine Intuition nicht, dass wir uns aus dem schwarzen Gang dieses Mal fernhalten sollten?"
Orion öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber er brachte kein Wort heraus. Sein aggressiver Blick und der harte Zug um seinen Mund verschwanden und wurden sanfter.
„Wir haben den Fehler schon gemacht", sprach Taras weiter, als sein Bruder seine Stimme nicht wiederfand. „Um ein Haar hätten wir uns in der Dunkelheit verloren. Weißt du, was für eine Panik und Angst ich hatte, als ihr verschwandet? Ich hatte Todesangst", fügte er stumpf hinzu, als hätte er diesem Punkt nicht schon genug Beachtung geschenkt.
„Ich war auch verängstigt", erwiderte Orion leise, seine Stimme nur ein Schatten des barschen Tons, mit dem er zuvor gesprochen hatte. Jegliche Kälte war aus ihr verschwunden. „Glaub mir, mich hat das nicht kalt gelassen."
„Warum willst du den gleichen Fehler dann erneut begehen?", fragte Taras. Ein flehendes Zittern schlich sich in seine Worte.
„Weil wir keine Angst haben sollten", antwortete er, als wäre es die Antwort auf alle Fragen. „P-Phobos hat das gesagt. Erst wenn wir die Furcht vor etwas als einen Teil von uns anerkennen, dann können wir mutig voranschreiten. Und ich –", er stockte. Ein reuevoller Ausdruck trat in seinen Blick, als hätte er bereits zu viel gesagt. „Jedenfalls habe ich keine Angst mehr, weiterzugehen."
„Ich schon", gab Taras zu. Er krallte seine Finger in den Hemdstoff an seinem Körper. „Bitte, lass uns diesen seltsamen Gang ignorieren. Bitte", fügte er hinzu, die Stimme nur noch ein Windhauch.
„Taras hat Recht", meldete sich Aigis zu Wort, die den Blick von der gähnenden Schwärze loseisen konnte. „Es ist gefährlich."
„Alles hier ist gefährlich", konterte Orion. „Wer sagt uns, dass nicht der Minotaurus an der nächsten Ecke auf uns wartet?"
In Taras' Kopf formte sich ein grauenhaftes Bild der sagenumwobenen Bestie, wie sie ihre Reißzähne in den leblosen Körper seines Bruders rammte. Eine Szenerie, die nur in seinen allerschlimmsten Albträumen jemals Realität werden würde.
„Wer sagt, dass der Minotaurus nicht am Ende dieses Ganges steht?", erwiderte der Junge leise. „Du hast Recht. Alles hier ist gefährlich. Alles hier ist tödlich. Aber wenn wir die Wahl haben, dann nehme ich lieber den hellen Weg zu meinem Verderben. Ich will sehen können, was uns vielleicht anfällt."
Seinen Worten folgte eine Stille, die laut in Taras' Ohren nachhallte. Ein schwerer Kloß bildete sich in seinem Hals und erschwerte ihm das Atmen.
„Wir sollten gehen", sagte Aigis leise. „Diese Chance können wir vergehen lassen, glaube ich."
Orion, der sich seiner Niederlage bewusst war, schnaubte, auch wenn die dahintersteckende Kraft nichts von der üblichen Aggressivität hatte, mit der er in solchen Situation sonst handelte. Er warf einen weiteren Blick in die düstere Dunkelheit, die hinter dem versteckten Eingang in der Wand lag, dann nickte er knapp. Seine Füße gaben ein schabendes Geräusch von sich, als er sich umwandte. „Dann gehen wir", gab er sich geschlagen.
Selbst Orions Sturheit hatte seine Grenzen, wie Taras zufrieden feststellte. Wenn sie es aus dem Labyrinth schaffen würden, dann würde er wenigstens wissen, dass er seinen Bruder mit den richtigen Argumenten umstimmen konnte.
„Danke", murmelte Taras seinem älteren Bruder zu, als dieser weiterging. Als Antwort erhielt er nur ein weiteres, dieses Mal weitaus sanfteres Schauben. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.
„Was machen wir damit?", fragte Aigis. Sie hatte sich nicht weiterbewegt, sondern blickte noch immer auf die gähnende Öffnung, die dem Gang das unangenehme Gefühl gab, der Schlund in die Unterwelt würde dahinter liegen. „Sollen wir nicht versuchen, ihn wieder zu schließen?"
„Und wie?", erwiderte Orion. „Wir haben schon genug Zeit verschwendet, oder nicht? Wenn wir diesen geheimen Durchweg schon ignorieren wollen, können wir ihn auch offen lassen. Ich glaube kaum, dass sich eine der anderen Gruppe in solch einer Nähe befindet, dass sie über den Gang stolpern werden."
Die versteckte Gereiztheit in seiner Stimme ließ keine Widerrede zu. Taras war ebenfalls klar, dass er sein Glück nicht überstrapazieren sollte, deswegen warf er Aigis lediglich einen entschuldigenden Blick zu und machte ihr dann verständlich, dass sie weitergehen sollten.
Orion stolzierte wenige Schritte vor den beiden daher, hielt aber nicht genug Abstand, damit sie im Falle eines Angriffs oder Etwaigem zu weit auseinander wären. Sein Rücken war durchgedrückt und er hatte eine Hand angespannt auf den Knauf seiner Klinge gelegt. Sein Zeigefinger trommelte in einer lautlosen Melodie unnachgiebig auf dem Material herum.
Je weiter sie den dunklen Geheimgang hinter sich ließen, desto eher überkam Taras das Gefühl, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. Chancen hin oder her, er wollte und konnte nicht erneut riskieren, in der Dunkelheit von seinem Bruder getrennt zu werden. Dieses einmalige Erlebnis sollte sich definitiv nicht wiederholen.
Was sein Bruder gesagt hatte, wollte seinen Kopf allerdings nicht verlassen. Die beiden hatte schon immer ein enges Band verbunden, aber Taras war sich nicht klar geworden, wie wichtig Orion dieses war. Er sah es als seine Pflicht an, Taras zu schützen, weil er sein jüngerer Bruder war. In dem Glauben, dass er zu feige war, zu schwach, war Orion aus freien Stücken von seinem Heim aus aufgebrochen, um seinen Bruder vor dem nahenden Tod zu schützen. Ein Schwall an Schuld spülte in seinen Kopf. Taras war sich sicher gewesen, dass Orion lediglich mitgekommen war, weil er an dem versprochenen Gold interessiert war, das irgendwo über ihnen in Minos' Schatzkammer glitzerte.
Er nahm sich vor, seinem Bruder bei kommender Gelegenheit angemessen zu danken.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top