20.3 Archí - Anfang

„Wer da!?", schrie Vaia hoch.

„Gerade noch redet ihr über mich und jetzt willst du mich nicht kennen?", erwiderte die Stimme und eine Hitze, als wären einhundert Bullen aus Kolchis dabei, ihren Flammenstrahl in die Luft zu feuern, ergriff den Raum.

Stein und Säulen zergingen in einem Inferno aus lodernd heißen Flammen und ein Schrei, wie von tausend brüllenden Fanfaren, erfüllte die Welt um sie herum. Der Geruch von Metall, Rauch und Asche drang durch jede letzte Ritze. Ihre panischen Schreie gingen im Chaos unter. Er verlor seine Freunde aus den Augen. Dias hatte das Gefühl, als würde er bei lebendigem Leibe mit heißem Gold übergossen werden, dann –

„Seht auf, sterbliche Kinder", ertönte die Stimme erneut. Flammen, Fanfaren und Rauch verschwanden mit einem Augenaufschlag. Vor den Kindern thronte eine weitere Gottheit.

Hephaistos war kleiner als Erebos. Aus seinem Schädel sprossen einige aschgraue Haarsträhnen, allerdings waren sie dünn und spröde, als würde er keinerlei Pflege aufwenden. Seine Haut war dunkel und fleckig, übersät mit schwarzen Leberflecken und hellem Schmutz. Die anderen Götter hatten alle ebenmäßige Gesichter, waren gutaussehend oder schön, aber Hephaistos' Kopf war deformiert. Der Schädel war eingedellt, als wäre er mit einem Stein getroffen worden. Sein rechtes Auge lag tiefer als sein linkes, hatte zudem eine hellere Verfärbung und schielte. Eine rote Narbe zog sich durch seine Haut, schnitt tief durch seinen Mund und endete unterhalb seines Kinns. Ein lichter, schwarzer Bart fiel bis unterhalb seines zu kurzen Halses. Er trug eine schwarze Lederschütze und um seinen linken muskulösen Arm war ein braunes Tuch gebunden. Hephaistos' Gliedmaßen waren kurz und gediegen. Er stand merkwürdig krumm und stierte die Kinder vor sich an.

Vaia fand ihre Stimme nicht. Sie starrte mit weitaufgerissenen Augen auf den Gott und sah aus, als würde sie an Schnappatmung leiden. All ihre Träume wurden gerade vor ihren Augen wahr.

„Es ist unhöflich zu starren, Kind", sagte Hephaistos mit dröhnender Stimme, aber ein klares Lachen war herauszuhören.

Dias schreckte zurück, als der Gott der Schmiedekunst seine schiefen Zähne zeigte.

„Jetzt schaut doch nicht so, als hättet ihr noch nie einen Gott gesehen!", polterte er.

„Was macht Ihr hier?", fragte Sotiris, der seine Stimme und seinen Mut als erster wiedergefunden hatte.

Hephaistos wandte ihm das deformierte Gesicht zu. Dias fiel es schwer, sich auf das Gesamtbild zu konzentrieren, wenn ihm all Unebenheiten ins Auge fielen, aber der Neuerschienene schien es gewohnt zu sein, seltsame Blicke zu ernten, wann immer er auftauchte, denn er sagte nichts dazu.

Der Gott seufzte. „Vielleicht habe ich mich doch geirrt", brummte er. „Oder wollt ihr mir jetzt weismachen, dass ihr eure Wahrheit schon wieder vergessen habt?"

„Unsere Wahrheit?", fragte Elara irritiert.

Ein donnerndes Stöhnen erklang im Echo des Raums, Hephaistos verdrehte die Augen. „Die Theorie des Mädchens", erwiderte er und gestikulierte mit seiner narbigen Hand auf Vaia, die wie vom Blitz getroffen dasaß. „Über mich und Dädalus und das Labyrinth. Gerade noch habt ihr doch heißblütig darüber diskutiert. Schon wieder vergessen?" Er zog eine versengte Augen in die Höhe.

„Ich – ich habe Recht?", flüsterte Vaia hauchzart und drückte sich ein wenig mehr gegen die Steinsäule.

„Natürlich, Mädchen!", donnerte Hephaistos.

„Unfassbar", hauchte Sotiris. Seine Stimme riss Dias aus seiner Starre.

„Glaubst du so wenig an deine eigenen Kameraden, dass du es nicht fassen kannst?", richtete der Gott seine Worte an den Jungen. Ein verschmitztes Grinsen war auf seinen Lippen erkennen und vielleicht war es der bloße Anblick eines lächelnden Gottes, aber Dias rutschte ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. „Sie hat vollkommen Recht mit allem, was sie gesagt hat. Glückwunsch, Mädchen."

„Aber", sagte Vaia und räusperte sich vernehmlich, „aber warum seid Ihr genau hier? Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber seid Ihr nur hier, um mir zu sagen, dass ich richtig lag?" Sie sprach so leise und zart, als könnte sie noch immer nicht fassen, dass das gerade wirklich passierte. Vielleicht war es auch nur ein Traum und sie würden alle aufwachen.

„Ich hasse es, wenn Sterbliche unendlich lange um eine Sache rätseln", brummte er. Hephaistos blickte keineswegs abwertend auf sie herab, wie es bei Erebos der Fall gewesen war, sondern eher so, als wäre er sich der Tatsache bewusst, wie zerbrechlich sie waren und würde ihrer Zerstörung gerne aus dem Weg gehen. „Ihr habt die Antwort bereits herausgefunden, aber sicherlich noch stundenlang weitergerätselt, wenn ich sie nicht auch noch bestätigt hätte. Wisst ihr, Sterbliche sind die neugierigsten Kreaturen, die ich kenne. Sie wollen immer alles wissen, wollen herausfinden, warum etwas ist. Sie würden für eine Antwort über Berge an Leichen gehen." Sein Blick wandte sich direkt an Vaia, die zusammensackte. „Würdest du über Leichen gehen?"

Vaia öffnete den Mund, schloss ihn aber einen Moment später wieder. Ihre Augen zitterten und es sah so aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Es war eine brutale Stille, die sie einholte. Hephaistos hielt seinen Blick auf Vaia gerichtet, das Mädchen wiederum starrte auf ihre Hände, als hoffte sie, die Antwort auf die Frage des Gottes dort zu finden.

„Ich weiß es nicht", flüsterte sie schließlich mit schreckgeweiteten Augen. „Ich wollte 'Nein' sagen, aber... ich weiß es wirklich nicht." Ihre Stimme war hauchzart, beinahe brüchig. Angstvoll richtete sie ihren Blick auf den Gott, der lediglich nickte.

„Du bist ehrlich", erwiderte er wohlwollend. „Es ist wichtig, ehrlich mit sich selbst zu sein. Du hättest mir ins Gesicht lügen können, das wäre mir egal. Sterbliche versuchen schon seit Jahrhunderten, uns Götter zu betrügen. Aber wenn du dich selbst angelogen hättest", sagte Hephaistos und die struppigen, schwarzen Haare in seinem Bart fingen Feuer, „dann wärst du nur dein eigener, schlimmster Feind geworden."

„Darf ich eine Frage stellen?", fragte Dias leise. Er erschrak vor seiner eigenen Stimme, hielt den Blick aber standhaft. Der Schmiedegott wandte sein Gesicht zu ihm.

„Nur zu. Ein paar Minuten kann ich noch bleiben."

„Was ist das Labyrinth?" Obwohl er sich dagegen gewappnet hatte, konnte er nichts tun, damit seine Stimme nicht zitterte und viel zu schwach in seinen eigenen Ohren klang. Seine Zähne klappten aufeinander – ob vor Angst oder Aufregung wusste er nicht einmal – und er biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um das Geräusch zu verbannen, das ihn sonst wahnsinnig machen würde.

„Hmmm." Hephaistos streichelte seinen brennenden Bart und zog die Augenbrauen kraus. „Ich bin nicht sicher, ob du es verstehen würdest, selbst wenn ich es dir verrate." Er atmete tief ein.

„Aber ich bin euch eine Antwort schuldig, schätze ich. Wo fang ich an... Als König Minos von Kreta Dädalus auftrug, eine Halterung für seine Frau Pasiphäe zu bauen, damit sie sich mit dem Stier paaren konnte, der eigentlich als Opfergabe vorgesehen war, wusste ich, dass es nicht gut ausgehen würde. Ich griff dem sterblichen Baumeister unter die Arme, damit er nicht scheiterte. Ich kam mit ihm ins Gespräch. Er beeindruckte mich. Ich traf noch nie einen Sterblichen, der sich so auf die feine Kunst des Schmiedens und der Erfindung verstand, wie er es tat. Außerdem tat Dädalus mir leid. Minos nutzte sein ihm von den Göttern gesegnetes Talent aus, um sich selbst zu bereichern und Macht anzuhäufen. Als der Minotaurus schließlich geboren wurde, riet ich Dädalus, dass er fliehen sollte. All sein Talent wäre in Minos' Händen nur verschwendet. Aber er konnte nicht einfach gehen, sagte er. Minos hielt seine Familie gefangen und er könnte nicht gehen, ehe sie nicht in Sicherheit waren." Hephaistos seufzte laut. Alle vier Kinder hingen ihm an den Lippen und sogen jedes einzelne seiner Wörter auf, als wären sie der göttliche Nektar, der nur den Göttern und Helden auf dem Olymp versprochen war. Er schien nicht ganz zu bemerken, wie sehr er sein junges Publikum in den Bann gezogen hatte. „Ich konnte nichts tun, um Dädalus zu überzeugen, doch meine Chance, ihm zu helfen, kam, als das Monstrum, welches Pasiphäes Lenden entsprang, wuchs und wuchs. Minos fürchtete um seine Sicherheit, also orderte er Dädalus an, ein Gefängnis für die Bestie zu bauen, aus welchem es nicht entkommen konnte."

Mit einem Ächzen ließ Hephaistos sich auf einem bronzenen Thron nieder, der vor einer Sekunde definitiv noch nicht den Raum geschmückt hatte. Die Ecken und Kanten des riesigen Sitzes waren grobschlächtig bearbeitet, lediglich halb fertig. Es war, als hätte der Schmiedegott mit vollem Enthusiasmus angefangen, dieses Stück zu bearbeiten, hätte dann aber die Lust verloren und aufgegeben. Das dumpfe Geräusch, welches entstand, als er sich setzte, konnte die Kinder nicht aus ihrer Trance wecken. Sie warteten begierig auf weitere Erzählungen. Besonders Vaia, die sich nach vorne lehnte. In ihren Augen tanzte ein Flackern der Neugier und der Sehnsucht.

„Dädalus entwarf den Plan eines Labyrinthes und ich verbesserte ihn. Während der ganzen Zeit, in der wir gemeinsam an diesem Projekt wirkten, bekamen wir nicht mit, wie Minos uns ausspionierte. Ich war abgelenkt und meine Gedanken wurden von einer blühenden Beziehung mit Dädalus verschleiert, sodass ich es erst realisierte, als wir schon lange fertig waren, die Blaupausen in ein echtes Konstrukt zu verwandeln. Das Labyrinth war abgeschlossen, aber seine ursprüngliche Funktion, als Gefängnis für den Minotaurus zu dienen, war für den König selbst längst vergessen. Die wahnsinnige Idee, wie er sein Königreich weiter ausbauen könnte, hatte längst in seinem Kopf Gestalt angenommen und ehe ich es verhindern konnte, hatte er den ersten Tor in diese verworrenen Gänge geschickt, der lebensmüde und voller Gier nach Reichtum war. Mit jedem Opfer, welches hier umkam, wurde Minos' Arroganz größer. Er fühlte sich unbesiegbar und sein Schoßtier wurde nach jeder Mahlzeit hungriger. Als er schließlich die alte Schuld Athens einholte und damit eine ganze Reihe an Kindern ins Labyrinth schickte, bekamen die anderen Götter auf dem Olymp ihre eigenen Ideen, wie sie diese grausame Opferstätte für sich nutzen könnten. Und ich schäme mich, es zuzugeben", Hephaistos machte eine Sprechpause und blickte mit traurigen Augen auf die Kinder unter sich, „aber ich habe ihnen erst die Idee gegeben, hier nach ihren neuen Helden zu suchen."

Dieses Geständnis sackte langsam, aber als Dias sich der Worte des Schmiedegottes bewusst wurde, wirbelte es in seinem Kopf, als wäre ein Sturm entfacht worden. Alles, was sie durchstehen musste, gegen was sie antreten mussten, was sie und auch die anderen Gruppen erleben mussten – es hatte mit Hephaistos und Dädalus begonnen. Alles war auf sie zurückzuführen. Die mechanischen Bestien. Der Minotaurus. Das Labyrinth selbst.

„Ich suche keine Vergebung", sagte der Gott mit lauter Stimme. „Ich weiß, dass ich sie nicht verdient habe. Viele unschuldige Leben wurden dank mir verwirkt."

„Das stimmt nicht", sagte Elara leise. Aller Augen richteten sich überrascht auf sie und das Mädchen sank in ihrer sitzenden Position zusammen. Mit hochrotem Kopf blickte sie schüchtern zu dem Gott auf.

„Du verstehst nicht, Mädchen", brummte er. „Nur dank mir seid ihr hier und werdet wahrscheinlich sterben." Echtes Bedauern klang in seiner Stimme mit.

„Aber selbst ohne Ihre Hilfe hätte Dädalus das Labyrinth gebaut", erwiderte sie noch leiser, ihre Worte wie das Flüstern des Windes. „Und König Minos hätte seine Schuld Athen gegenüber trotzdem eingefordert. Wir wären trotzdem hier."

„Ich habe auch nichts unternommen, damit es nicht dazukommt", sagte Hephaistos.

„Die anderen Götter auch nicht", deklarierte Sotiris mit grimmigem Gesichtsausdruck. Seine Haut war noch gerötet, aber er sah nicht so aus, als hätte er starke Schmerzen. „Bisher seid Ihr der erste Gott, der uns nichts antun wollte."

„Wie könnte ich auch?", fragte der Schmiedegott. „Ihr seid doch nur Kinder."

„Das hält mich nicht auf", sagte Sotiris. Er ergriff seine Klinge und packte sie mit festen Händen. In diesem Moment bewunderte Dias ihn nur noch mehr. „Wir haben all diese Gefahren überstanden und stehen noch!"

„Dafür gebührt euch all mein Respekt", erwiderte Hephaistos stolz. „Die Kreaturen des Labyrinthes zu besiegen ist eine respektable Leistung. Ein jeder von euch ist gut genug für den Segen der Götter. Heldenblut fließt durch eure Körper. Ihr seid bereits die Helden eurer Generation."

„Oh, ihr Götter", hauchte Vaia. Ihre Augen schwammen in Tränen. „Eure Worte ehren mich, aber wir verdienen sie nicht. Wir sind keine Helden."

Hephaistos grunzte und beugte sich vor. Seine ungleichen Augen brannten vor Stolz - buchstäblich. Helle, rote Flammen züngelten in seinen Augäpfeln und leckten über seine schwarzen Wimpern. „Ihr seid kein Herakles, ihr seid kein Iason, kein Odysseus, das ist richtig. Aber niemand verlangt das von euch. Ihr seid jung und stark. Euer Blut brennt wie Feuer, ihr tötet meine Bestien eine nach der anderen. In vier Tagen habt ihr euren Soll erfüllt. Dann holt man euch hier raus und diejenigen, die es geschafft haben, sind einen Schritt näher am Olymp." Die Haut um seine Augen kräuselte sich in Falten, als ein breites, trauriges Lächeln sein Gesicht zierte. „Und glaubt mir, ich wünsche mir nichts lieber, als dass ihr hier lebend herauskommt, Kinder."

„Könnt Ihr uns nicht einfach jetzt herausholen?", fragte Dias leise und hoffnungsvoll.

Der Schmiedegott seufzte. „Ich fürchte, so einfach ist es nicht", erwiderte er mit melancholischem Unterton. „Wenn ich euch jetzt aus dem Labyrinth hole, dann interferiere ich mit den anderen Olympiern. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Zorn mit ereilen würde, wenn ich euch jetzt rette. Zeus, Poseidon, Hades, Athena... sie alle würden mich bestrafen. Sie könnten mir gemeinsam meine Göttlichkeit nehmen. Und sie würden euch töten. Dann würden sie mich töten. Glaubt mir, wenn ich könnte, würde ich, aber die gemeinsame Macht der Olympier ist für mich nicht zu bezwingen. Ich bin ein verkrüppelter Gott, der die Sterblichen zu sehr mag."

„Aber es gibt doch andere Gottheiten, die sich Euch anschließen würden, oder?", sprach Vaia an. „Artemis und Apollo zum Beispiel!"

„Sie stehen hinter den Sterblichen", gab Hephaistos zu, „aber sie stehen auch hinter ihren Eltern. Sie würden Zeus und Hera nie in den Rücken fallen. Es tut mir leid, sterbliche Kinder, aber es gibt nichts, was ich tun kann. Außer...", er stockte, dann lächelte er. Er schwang seine rechte Hand, Flammen leckten durch seinen Bart, und eine sanfte, warme Brise wehte durch den Raum.

Dias schloss die Augen, als der Wind durch seine Haare kitzelte und seine Haut streichelte. Ein Seufzen entkam seinen Lippen und ein Gefühl, als wäre er gerade von Grund auf neu erschaffen worden, durchfloss ihn.

„Was ist passiert?", hauchte Sotiris schockiert.

Dias öffnete die Augen wieder und blickte den Jungen vor sich an. Die Röte aus seiner Haut war verschwunden und die aufgeschürften Wunden an seinem Körper geheilt. Sotiris blickte mit aufgerissenen Augen auf seine Hände, dann auf den Gott.

„Ihr habt mich geheilt", sagte er fassungslos.

„Euch", korrigierte der Schmiedegott. „Meine Macht zu heilen ist zwar schwach und ich kann keine Wunder wie Apollo verbringen, aber sie ist dennoch stark genug, damit ich eure Wunden versorgen kann. Es sollte euch wieder besser gehen."

„Ich", fing Vaia an, aber stockte, ihre Stimme von einem brüchigen Schluchzen unterbrochen. „Vielen, vielen Dank, Hephaistos."

„Ich brauche euren Dank nicht", erwiderte er lächelnd. „Wenn ich helfen kann, damit ihr es überlebt, dann reicht mir das als Lohn vollkommen. Das Labyrinth hat schon viel zu viele Seelen auf dem Gewissen."

„Darf ich noch eine Frage stellen?", fragte die kleine Elara mit zartem Stimmchen.

„Natürlich darfst du", sagte Hephaistos. Er klang wie der Großvater, der seinem Enkelkind die Welt erklären wollte.

„Ist das Labyrinth lebendig?"

Hephaistos stockte. Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe und auch die anderen Kinder blickten ihre kleine Mitstreiterin mit großen Augen an. Elara schrumpfte sichtlich in sich zusammen und Schamesröte nahm ihr Gesicht ein.

„Tut mir leid", fügte sie hastig hinzu. „Das war nur ein dummer Gedanke."

„Nein, ganz und gar nicht", erwiderte der Schmiedegott, die Stimme ruhiger als zuvor. Das Feuer in seinen Augen war erloschen, die Flammen in seinem Bart versiegt. „Bevor ich antworte: Wie hast du es bemerkt?"

„D-Das erste Mal ist mir etwas aufgefallen, als die Stymphalischen Vögel angegriffen haben", sagte sie mit rotem Kopf. „Aber da dachte ich, es wäre nur Einbildung. Als wir dann die Sphinx getroffen haben, war mir irgendwie ganz komisch. Ich kann es nicht gut beschreiben, aber es fühlte sich wirklich merkwürdig an."

„Als stündest du im Inneren eines gigantischen Wesens und sein Magen würde dich immer weiter zusammendrücken, die Gefahr der alles zerstörenden Säure immer im Nacken", half Hephaistos nach. „Dädalus hat das gesagt, nachdem er diesen Gängen das erste Mal entkam."

„Genau", flüsterte sie und wich ängstlich zurück. Ihre Hand fand Dias' Arm und klammerte sich an ihn.

„Es ist, wie du denkst, Kind", meinte der Gott. „Das Labyrinth begann als einfaches Bauwerk. Es war lediglich ein Gebilde aus Steinen. Aber ich befürchte, es ist ebenfalls mir zu verdanken, dass es dieses Gefühl des lebendigen Inneren gibt. Meine göttliche Macht, mit der ich Dädalus geholfen habe, das Labyrinth zu bauen, hat sich im Stein festgesetzt. Man könnte meinen, sie würde sich wie Blumensamen vermehren und immer mehr einnehmen. Dadurch hat das Labyrinth ein Eigenwesen entwickelt. Es wächst weiter. Es baut sich von selbst weiter. Es ist nicht wirklich lebendig, aber auch nicht nur ein lebloses Objekt."

„Könnt Ihr es nicht aufhalten?", fragte Vaia vorsichtig.

„Ich kann nicht", sagte er. „Die Macht, die im Inneren des Labyrinthes steckt, ist die meine. Ich kann nichts gegen sie ausrichten. Alles, was ich tun würde, würde sofort negiert werden. Und noch schlimmer ist, dass die göttliche Kraft, die das Labyrinth durchfließt, ebenfalls wächst. Mit jedem neuen Gang und jedem neuen Raum, wird es stärker und mächtiger. Und fragt mich nicht wie, aber das Labyrinth hat es geschafft, einen Schutz zu kreieren, der selbst der Macht der anderen Gottheiten standhalten kann. Ich weiß nicht, wie es das schafft. Es ist... beängstigend."

Dias holte zittrig Atem. Er hatte ebenfalls schon den Gedanken gehabt, dass das Labyrinth nicht einfach nur ein steinernes Konstrukt war, aber das... und dann noch diese Befürchtungen einer Gottheit zu hören. Sie halfen definitiv nicht, dass er sich sicherer fühlte. All diese mechanischen Bestien, die Gottheiten, die es auf sie abgesehen hatten... dazu kam dann noch das Labyrinth selbst, was sich augenscheinlich gegen sie verschwor. Es war eine verfluchte Odyssee.

„Ich muss gehen", sagte Hephaistos und erhob sich von seinem halbfertigen Thron. „Ihr habt meinen Segen, Kinder, glaubt mir, aber das ist auch alles, was ich tun kann."

„Wir fühlen uns geehrt!", sagte Sotiris laut und erhob sich, wobei seine Klinge laut klappernd zu Boden fiel.

Hephaistos lächelte. „Das höre ich gerne, junger Held."

„Wartet", rief Vaia aus und stand ebenfalls auf. „Bitte, könnt Ihr mir sagen, wie es meinen Schwestern geht? Sind sie sicher?"

Der Gott der Schmiedekunst zögerte. „Die Mehrzahl ist in Sicherheit", sagte er lediglich. „Mehr darf ich nicht verraten. Es tut mir leid, kleine Heldin, aber es ist mir untersagt, mich großartig in eure Belange einzumischen. Ich strapaziere schon jede Grenze, die mir auferlegt wurde, indem ich euch über das Labyrinth aufkläre."

Vaia biss sich auf die Lippe, dann nickte sie verstehend. „Trotzdem danke", flüsterte sie.

„Nicht dafür", erwiderte er. „Bleibt sicher, Sterbliche. Ich werde euch beobachten."

Der bronzene Thron ging in Flammen auf. Ein Meer aus Hitze und Rauch hüllte den Gott ein, der einen letzten, wohlwollenden Blick auf die vier Kinder warf, ehe er im Wirbel des Feuers verschwand und seinen Thron mit sich nahm. Zurück blieb lediglich der schwindende Geruch von verbranntem Holz.

Dias schluckte. Wieder war er sich nicht sicher, ob das alles nur ein Träum war. Als wäre es nicht schon genug, dass das Labyrinth selbst voller Wesen und Bestien war, die ihren Tod wollten, erschienen auch noch Gottheiten vor ihnen. Er hatte bisher nur davon gehört, dass es einigen wenigen Menschen gestattet war, mit Göttern zu reden. Aber nie hätte er es für möglich gehalten, dass er einer dieser Auserwählten sein könnte. Und dann nicht nur eine Gottheit...

„Das war... etwas", murmelte Vaia und setzte sich wieder. Sie zog die Beine an den Körper und schlang ihre Arme darum. Ihr Gesicht hatte wieder eine gesunde Farbe angenommen und der Schweiß war von ihrer Stirn verschwunden. Augenscheinlich ging es auch ihrem Bein besser.

„Ja", gab Sotiris ihr Recht und ließ sich langsam neben ihr nieder. Sein Blick war glasig und in die Ferne gerichtet. „Ich bin..." Er beendete seinen Satz nicht, sondern starrte mit offenem Mund vor sich hin.

„Ich wünschte, er hätte uns hier rausholen können", murmelte Elara traurig.

„Hephaistos schien auf jeden Fall netter als Erebos", sagte Dias.

„Nicht schwierig", erwiderte Vaia mit einem halben Lächeln.

Sein Kopf hatte schon vor Hephaistos' Auftreten wie wahnsinnig gekreist und die Gedanken in rotierenden Bahnen herumgewirbelt. Jetzt, mit all diesen neuen Informationen und Bestätigungen, war es noch schlimmer. Er und die anderen waren lediglich Spielfiguren für die Götter des Olymps. Ihre Gegner waren Monster und Bronzebestien.

„Das ändert alles", sagte Dias leise.

Sotiris nickte vorsichtig und sein Blick klärte sich, als seine Augen die von Dias suchten. „Jetzt müssen wir überleben", meinte er. „Andernfalls gewinnen sie."

Wer sie waren, musste keiner von ihnen fragen. Die Antwort darauf stand wie eine insektenanziehende Lichtquelle im Raum.

„Aber wir schaffen das", sagte Vaia mit Zuversicht. „Hephaistos wacht über uns."

„Genau", fügte Elara hinzu und versuchte sich an einem Lächeln. „Und dann können wir wieder nach Hause!"

Sie nickten und stimmten dem Mädchen zu. Dias ließ seine Augen nicht von Sotiris. Ihre Blicken waren ineinander verkettet. Hitze stieg in ihm auf. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.

Die erwartete Erlösung kam, als Vaia aufstand. „Weiter geht's", sagte sie voller Tatendrang. „Wir haben einen Ausgang zu finden." Sie sprach es nicht aus, aber die Erwähnung von Hephaistos bezüglich ihrer Schwestern hatte sie tief getroffen. Jetzt war sie noch mehr darauf aus, sie zu finden.

Die Hoffnung, die Hephaistos in ihnen entflammt hatte, brannte heißer als jeder Kampfgeist. Dias zuckte es förmlich in den Fingern, weiterzugehen. Seine Hand streifte Sotiris' Arm.

Dias brannte lichterloh. Die Hitze schoss in seine Wangen und vertrieb jede Müdigkeit. Er fühlte sich, als könnte er es mit der Welt aufnehmen.

Vielleicht musste er das auch.

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