2.2 Tragoúdi - Gesang


Ihre Füße klatschten laut auf den Stein und auch wenn sie die dampfenden Schritte der Sirene schon nach wenigen Momenten nicht mehr hören konnten, liefen sie weiter. Mit jedem Gang, den sie durchquerten, wehrten Castor und Lyra sich weniger ihrem Griff zu entkommen, doch auch nachdem sie blindlings um Dutzende Ecke gerannt waren, wollten Calypso und Eos nicht anhalten.

Das Atmen begann in seinen Lungen zu brennen, als ihn schließlich die verwirrte Stimme von Castor dazu brachte, endlich stehen zu bleiben.

Die Verletzung an Eos' Hüfte fühlte sich an wie Feuer und Blut klebte an seinen Händen und seiner Hose. Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen, als ein Schwindelgefühl seinen Körper beanspruchte, dann ließ er sich lautlos stöhnend halb an der Wand nieder.

Schwer atmend blieben auch Lyra und Calypso neben ihnen stehen.

„W-Was ist? Warum rennen wir so?", fragte Castor und blickte mehr als verwirrt drein. Die Haare auf seiner Stirn waren schweißgetränkt und er verzog das Gesicht, als er sie sich wegwischen wollte. „Und warum tut mein Kopf so weh?"

Nachdem Calypso wieder zu Luft gekommen war, berichtete sie den beiden frisch aus ihrer Trance erwachten Opfergaben, was geschehen war. Dann schrie sie auf und wandte sich an Eos, der in der Zwischenzeit auf den Boden gesunken war und schwer vom Rennen keuchte.

„Deine Wunde!", rief sie. „Die muss schmerzen." Obwohl sie angesichts seiner entblößten Brust kurz stockte, beugte sie sich schließlich schnell herunter und betrachtete die drei Schnittspuren, welche die Krallen der mechanischen Sirene tief in seiner Haut hinterlassen hatte. Noch immer quoll Blut aus ihnen hervor und Calypso hatte Eos' Hand beiseite gedrückt, die er sich auf die Verletzung gepresst hatte.

Schnell schnallte sie sich ihren Proviantbeutel vom Rücken und kippte den gesamten Inhalt auf den Boden.

Ein Apfel rollte davon und Castor lief ihm nach, um ihn wieder einzufangen.

Sie schnitt den Beutel mit ihrem Schwert in einige lange Stoffstücke, die sie letztlich dazu nutzte, um Eos' Wunde damit vorsichtig abzutupfen. Er zuckte zusammen, als sie mit dem rauen Stoff auf sein verletztes Fleisch tastete, aber er biss sich auf die Lippe und nahm es in Kauf. Als Calypso sich sicher war, dass kein grober Schmutz mehr in den Schnitten war, begann sie die übrigen Stofffetzen um seine Hüfte zu wickeln.

„Ihr... habt uns gerettet", sagte Lyra, die ihre Stimme wiedergefunden hatte, schließlich, als Calypso den letzten Fetzen fest verknotet hatte.

Eos spürte, wie die Muskeln in seinen Beinen noch immer brannten und zuckten, als würden sie komplett in Flammen stehen. „Das ist selbstverständlich gewesen", knurrte er und zog sich sein zerknittertes Hemd wieder über den Kopf, auch wenn er beim Heben seiner Arme ein bisschen zusammenzuckte. „Wir sind Verbündete."

Calypso füllte ihren Proviant mit in den Beutel von Eos, den er ihr gegeben hatte.

„Ich...", fing sie an, doch schüttelte dann kurz den Kopf. Sie erhob sich und schnallte sich den Schild wieder um den Rücken. „Vielen Dank. Das werde ich nicht vergessen." Ihre Stimme war ruhig und fest, aber Eos meinte, dass er ein feines Lächeln herausgehört hatte. Als er ihr jedoch ins Gesicht blickte, war dort keine Spur von Freundlichkeit. Stattdessen hatte sie wieder zu ihrem üblichen, stoischen Gesichtsausdruck zurückgefunden und blickte den Gang entlang, der vor ihnen lang.

Nachdem Calypso sich Castors Beulen an seinem Hinterkopf angesehen hatte, beschloss die Gruppe, dass sie noch weiterziehen sollten. Auch wenn sie nun tief in das Labyrinth eingedrungen waren und auch nicht mehr zurückfinden würden, sie konnten nicht wissen, ob die Sirene sie vielleicht nicht dennoch verfolgte. Dieses Risiko wollten sie nicht eingehen.

Eos drückte sich mit den Händen hoch und unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen, als der Schmerz seiner Verletzung erneut aufflammte.

Lyra setzte sich an die Spitze der Gruppe und begann sie durch die verworrenen, immer gleich aussehenden Gänge zu führen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinging, das wussten sie alle.

„Wartet", sagte Calypso, als sie in einen weiteren Gang einbiegen wollten, der dieses Mal an einer Kreuzung lag. „Wir sollten markieren, von wo wir kommen. Falls wir wieder hier landen." Sie zog ihr Schwert aus der Bronzeschneide, ließ Castor, Lyra und Eos ein paar Schritte zurückgehen und tat dann ein paar kräftige, beidhändige Schwinger mit dem Metall auf den Stein. Das Geräusch, welches entstand, als Metall auf Stein traf, ließ Eos' Ohren klingeln und er kniff aus dem Reflex ein Auge zusammen.

In die massiven Felsplatten hatte Calypso eine x-förmige Markierung geschlagen, einige abgesprungene Steinstücke waren dabei von ihr weggeschossen und klirrend den Boden entlanggesprungen.

„Gut mitgedacht", gab Lyra zu und schulterte ihren Bogen. Dann nahm sie den Pfad zu ihrer Rechten und Eos folgte ihr mit Castor im Schlepptau. Calypso blieb einen kurzen Moment zurück, dann kam auch sie hinterher.

Der andere Junge warf ihm immer wieder nervöse Blicke zu, als befürchtete er, Eos würde zusammenbrechen. Er konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, war sich aber sicher, dass er sicherlich blass und verschwitzt war.

„Ich bin beeindruckt", sagte er, als Calypso zu ihm aufgeschlossen hatte. „Noch nie zuvor habe ich ein Mädchen getroffen, welches so sicher mit einem Schwert umzugehen weiß und einen solch taktischen Verstand besitzt."

Sie lächelte und es war schöner, weil ihr Gesicht verschwitzt und ihre Augen müde waren, das Lächeln aber war echt und erhellte den ganzen Gang. „Du schmeichelst mir", war ihre Antwort. „Aber du weißt auch, wie man mit einem Schwert umzugehen hat. Ich kann verstehen, wieso deine Eltern ein solches Vertrauen in dich setzen. Sie müssen außerordentlich stolz auf dich sein."

„Ich vermute es", sagte er langsam und war darauf bedacht, keine zu hektische Bewegung zu machen, damit seine Wunde nicht noch weiter aufriss. Er führte sich seine Blamage bei der Sirene wieder vor Augen und hätte am liebsten frustriert aufgeschrien. Natürlich sagte sie das nur so. Er hatte vollkommen versagt und keinen guten Eindruck hinterlassen. „Aber ich glaube nicht, dass sie mich wirklich als ihren Sohn sehen. Eher als ein Wunder oder ein Geschenk der Götter."

Calypso machte ein verwirrtes Gesicht und er erklärte: „Meine Eltern haben lange Zeit versucht, ein Kind zu bekommen, aber es war ihnen nicht vergönnt. Fast wie ein Fluch der Götter. Vor mir gab es einige... Falschgeburten." Er wandte den Blick zu Boden, in dem für einen flüchtigen Moment Bedauern aufblitzte. „Dann kam ich und sie haben mich als ein Geschenk des Olymps gesehen und mich mit allem verwöhnt, was ich nur wollte, selbst, wenn es viel mehr Geld kostete, als wir hatten."

„Aber das klingt für mich so, als wären sie einfach nur unsagbar dankbar. Sie lieben dich ganz bestimmt, wie man sein eigenes Fleisch und Blut liebt. Du bist ein Geschenk der Götter, Eos. Aber deswegen bist du dennoch ihr Sohn. Und du bist ein Held", fügte sie lächelnd hinzu. „Ich bewundere deinen Mut."

Sein Gesicht heizte sich auf und er wusste für einen Moment nicht, wie er reagieren sollte. Noch nie zuvor hatte er so mit einem Mädchen reden können und noch nie zuvor hatte ein Mädchen ihm solche Sachen gesagt. Er war peinlich berührt, musste Eos zugeben, und starrte auf seine Finger, die er in einander verschlungen hatte. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", erwiderte er schließlich, als sein Schweigen für beide unangenehm geworden war.

„Ist schon gut", meinte Calypso und lächelte wieder.

Sie ist so schön, dachte er und biss sich auf die Lippe.

Für die nächsten Minuten gingen die vier Kinder schweigend durch die Gänge.

Lyra hatte sich dazu entschlossen, nun immer den linken Weg zu nehmen, wenn es mehrere zur Auswahl gab und wann immer sie irgendwo abbogen, machte Calypso eine gut sichtbare Markierung in den Stein. Vielleicht konnten sie ja so sogar eine der anderen Gruppen auf sich aufmerksam machen, wenn diese den Steinkreuzen folgen würden, hatte sie nachdenklich gemeint.

Castor war überaus schweigsam. Eos hatte das Gefühl, dass die Begegnung mit der mechanischen Sirene ihn ziemlich mitgenommen hatte, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Es musste ziemlich schwer sein, wenn man plötzlich nicht mehr Herr über seinen eigenen Körper war. Er war hilflos gewesen und sein Leben hatte in den Händen von Leuten gelegen, die er nicht einmal einen Tag kannte. Sicherlich hatte er dort einiges zum Nachdenken. Als er schließlich sprach, war seine Stimme allerdings klar und deutlich.

„Wieso hat die Sirene eigentlich euch beide nicht beeinflusst?", fragte er und blickte Eos und Calypso. Er kniff die Augen leicht zusammen, als würde er sich fragen, ob sie ihnen wirklich die Wahrheit erzählt hätten.

„Stimmt. Das habe ich mich auch schon gefragt", warf Lyra bissig ein und drehte sich lange genug um, um ihnen in die Augen zu sehen. „Warum waren nur wir das Opfer ihres Gesangs?"

Calypso überlegte, ehe sie zögerlich meinte: „Um ehrlich zu sein, weiß ich es auch nicht. Aber... ich habe keinen Gesang gehört. Du?"

Eos schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe zwar ihren weitgeöffneten Rachen gesehen, aber dort kam kein Ton heraus." Er ballte seine Hände zu Fäusten, entspannte sie aber sofort wieder. „Es ging alles ziemlich schnell."

„Seltsam", gab Lyra zu bedenken. „Ob es vielleicht mit unserem Alter zu tun hat?"

„Ich denke nicht", erwiderte Castor. „Sirenen sind Wesen, die Männer in ihr Verderben locken. Aber da sie auch dich angelockt hat, kann es auch daran nicht liegen. Es könnte natürlich eine Eigenart dieser Mechanik sein, aber ich weiß nicht, warum es so sein sollte. Vielleicht... Nein, das kann nicht sein."

„Was denn?", fragte Eos und verzog das Gesicht flüchtig, weil er seinen Arm zu schnell gehoben hatte, um sich ein paar Strähnen aus der Stirn zu wischen.

„Könnte nicht - ", fing er an, doch Eos sollte nicht erfahren, was er denn glaubte, denn Lyra breitete ihre Arme aus und schrie laut: „Halt!"

„Was ist denn los?", fragte Calypso und schloss zu der Jüngeren auf, doch sie sah sogleich, was der Grund für ihr abruptes Halten war. Vor ihnen lag ein weiterer Raum, mindestens drei Mal so breit wie die Labyrinthgänge, die sie bisher durchquert hatten. Die Decke war nur zu erahnen, dabei konnte Eos sich nicht erinnern, dass sie so tief in die Erde gegangen waren. Ob es eine Eigenart des Labyrinths war? Immerhin gab es hier auch ein menschenfressendes Ungeheuer und mechanische Frauen mit Stimmen, die sie nicht hören konnten, also warum sollte nicht auch das Bauwerk selbst noch ein paar Eigenarten haben?

Der Steinboden war nicht zu erkennen. Er war bedeckt mit tausenden Glasscherben, scharfkantigen Speerspitzen und ausgefransten Metallstücken. Das Licht wurde von den glatten Oberflächen zurückgeworfen und es hätte ein schönes Schauspiel sein können, wenn nicht jede der Scherben auch tödlich ausgesehen hätte. Vielleicht täuschte ihn nun das Spiel des Lichtes, aber konnte er dort nicht auch etwas geronnenes und getrocknetes Blut erkennen, welches an den Spitzen klebte?

Das, was jedoch erst dann ins Auge gefasst werden konnte, wenn man sich an dem Lichtspiel sattgesehen hatte, war die Mitte des Raumes. Ein winziger Quader war befreit von den tödlichen Scherben und dort, auf einem kleinen Steinpodest, stand etwas Glitzerndes. Aus dieser Entfernung war jedoch unmöglich auszumachen, um was es sich handelte. Die Fläche war nur groß genug, dass dort eine Person halbwegs sicher stehen konnte. Wenn man es denn schaffen würde, über das augenscheinliche Meer aus Scherben und Speerspitzen zu kommen. Ob es wirklich ein ganzer Ozean war, oder doch nur den Boden bedeckte?

„Was ist das?", fragte Castor neugierig und ging einen halben Schritt voran. „Ob das ein Schatz ist?"

„Könnte sein... Vielleicht eine Belohnung?", gab Eos zu bedenken. „Der Raum könnte eine Prüfung sein."

„Aber ob es sich lohnt, wenn wir nicht wissen, was es ist?", sagte Lyra und runzelte die Stirn. Mittlerweile – nach dem Vorfall mit der mechanischen Sirene und ihrer eigenen Hilflosigkeit – hatte sie sich wohl an die Idee einer Gruppe gewöhnt, selbst wenn sie dann mit Eos und Castor zusammenarbeiten musste, die sie offensichtlich immer noch nicht sonderlich leiden konnte. „Ich denke nicht, dass wir das riskieren sollten. Wir haben für den Fall von Verletzungen nichts zum Verbinden."

„Sie hat Recht", schloss sich Calypso an. „Für Eos' Wunde mussten wir einen der Beutel zerreißen und das ist auch nur behelfsmäßig geschehen. Wir sollten umkehren und - "

„Aber, was ist, wenn wir dieses glitzernde Etwas brauchen? Es könnte ein Schlüssel sein", meinte Eos nun und Calypso warf ihm einen verwunderten Blick zu.

„Ich bewundere deinen Mut, wirklich, aber... wir sollten es nicht übertreiben. Du bist bereits verletzt." Mit einem Kopfnicken deutete sie auf seine Hüfte und wie auf Befehl legte er sich seine Hand an die Wunde, die noch immer zwickte und gelegentlich brannte.

„Aber, wenn wir es wirklich brauchen?", sagte Castor nun auch. „Wenn wir umkehren, könnten wir nur den anderen Gang dort nehmen und wer weiß? Der könnte zu einer verschlossenen Tür führen, oder? Es könnte auch der Ausgang sein", meinte er nachdenklich.

„Daran habe ich nicht gedacht", erwiderte Calypso nun langsam und blickte nachdenklich auf das Scherbenmeer. „Du könntest Recht haben. Das, was auch immer dort liegt, ist nicht größer als meine Hand, wenn ich das aus dieser Entfernung richtig ausmachen kann."

„Wir sollten es riskieren", sagte Eos. Lyra verschränkte die Arme und setzte eine sehr zweifelnde Miene auf, aber sie sagte nichts. „Es kann wirklich wichtig sein", fügte er mit mehr Nachdruck in der Stimme hinzu.

„Aber wie sollen wir es überqueren?" Calypso deutete auf die Scherben, die im sanften Licht glitzerten und zog die Augenbrauen kraus. „Selbst mit den vorsichtigsten Schritten, zu denen wir fähig wären, würden wir uns schrecklich verletzen. Das Glas würde tief in unser Fleisch schneiden, noch ehe wir das Podest erreicht hätten."

Eos blickte durch den Raum. Vielleicht gab es irgendwo einen versteckten Hinweis? Einen Hebel, irgendetwas, das ihnen helfen würde, dieses tödliche Meer zu überqueren. Doch auch nachdem er sich jeden Stein zweimal angeschaut hatte und auch mit seinen Füßen auf jeder Stelle des Grunds gedrückt hatte, war nichts geschehen. Entweder, sie würden es einfach nicht überqueren können, oder sie hatten nicht die Hilfsmittel dafür.

„Die Schilde!", rief Lyra aus und ihre Augen glänzten. „Wir können sie als sicheren Untergrund nehmen, immer einen nach dem anderen!" Wie, um es zu demonstrieren, band sie sich den Schild von ihrem Rücken, der von vielen Kratzern geschmückt war und legte ihn vor sich auf den Boden. Mit beiden Füßen stellte sie sich dann sicher darauf und blickte ihre Kameraden beinahe aufgeregt an.

„Das könnte funktionieren", erwiderte Calypso, wirkte aber keineswegs vollends überzeugt. „Aber es könnte nur einer von uns gehen. Wenn etwas schiefgeht, könnte niemand von uns helfen... wir wären nicht in der Nähe. Ich weiß nicht..."

„Ich gehe." Alle blickten zu Eos, der einen grimmigen Ausdruck in den Augen hatte. Er schluckte schwer und ballte erneut die Hände zu Fäusten. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Haut, aber er ließ nicht nach.

„Aber du bist schon verletzt!", rief Calypso aus und wirkte äußerst besorgt, was ihn schmeichelte, in Anbetracht dessen, dass sie sich nicht wirklich kannten. „Ich sollte gehen."

„Nein", erwiderte er stur. „Ich gehe. Du hast es gesagt. Ich bin schon verletzt. Wenn ich stürzen sollte, dann bin immer noch nur ich verletzt. Wenn jemand von euch geht und einen Fehler machen sollte, dann sind zwei von uns verwundet."

„Aber das ist doch Irrsinn!", rief sie aus und warf die Arme in die Luft. „Du musst keinen Helden spielen, Eos!"

„Er hat Recht", gab Lyra zu, wirkte aber nicht ganz überzeugt. „Seine Argumentation mag etwas eigen sein, aber es macht Sinn. Ich bin dafür, dass er es versuchen sollte."

„Mir ist nicht wohl bei dieser Sache." Calypso biss sich auf die Lippe und tippelte mit ihren Fingern auf ihrem Unterarm herum, dann schloss sie kurz die Augen. „Aber schön. Es ist deine Entscheidung." Sie presste die Lippen kurz aufeinander, dann lächelte sie schwach. „Versuch es. Aber... sei vorsichtig. Überstürze es nicht."

„Es wird nichts schiefgehen", sagte er überzeugend und musste ein grimmiges Lächeln unterdrücken. „Ich habe mein Gleichgewicht sehr gut unter Kontrolle." Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln, welches sie beruhigen sollte, allerdings sah sie eher danach aus, als fragte sie sich gerade, ob es das Letzte sein würde, was sie von ihm sehen würde, ehe er in einem Meer aus Glas und Metall untergehen würde.

„Viel Glück", murmelte Castor, als er ihm seinen eigenen Schild überreichte. Dankend nahm Eos ihn an und gab dem Jüngeren dann einen aufmunternden Schlag auf den Rücken. Lyra kreuzte seinen Blick und auch wenn sie nichts sagte, wusste er, dass auch sie ihm viel Glück für dieses Abenteuer wünschte. Obwohl er es wollte und obwohl er wusste, dass es seine Entscheidung war, verriet sein Körper ihn. Angstschweiß brach auf seiner Stirn aus, als seine Augen die tödliche Gefahr vor ihm wirklich erblickten.

Mit vorsichtigen Schritten ging er auf den Rand des Glasmeers zu. Er legte seinen eigenen Schild auf die Oberfläche und verstärkte seinen Griff um den zweiten. Dann nahm er seinen Mut zusammen und tat den ersten Schritt in das scharfkantige Verderben. Sein Mund wurde trocken und die Haare auf seinem ganzen Körper standen vor Anspannung zu Berge.

Der Schild wackelte und rutschte auf den Glasscherben und den Speerspitzen und den ausgefransten Metallstücken, aber er schaffte es dennoch, ruhig stehen zu blieben. Wenn er wirklich ehrlich war, dann tat er das nur, um diese Schmach mit der Sirene wiedergutzumachen. Er fühlte sich so schwach, dass er nicht einmal eine rostige Frau hatte besiegen können und mit zusammengebissenen Zähnen warf er den zweiten Schild vor sich. Eos ging zuversichtlich weiter, obwohl er innerlich vor Angst zerging.

Mit jedem Mal, dass er den Schild hinter sich wiederaufnahm und dann vor sich fallen ließ, gab es ein lautes, kratzendes Geräusch. Einige der Glasscherben brachen klirrend unter seinem Gewicht und knirschten dann. In dem hohen, weiten Steinraum schien jeder kleine Laut um ein Hundertfaches verstärkt zurückgeworfen werden. Er meinte sogar, dass er den Atem seiner Kameraden hinter sich hören konnte. Jedes Mal, wenn er sich hinabbeugte, brannten die Risse in seiner Haut. Schweiß tropfte ihm von der Stirn und der Nasenspitze und des Öfteren musste er sich mit der Hand über das Gesicht wischen, damit ihm nichts in die Augen liefen würde.

Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichte Eos schließlich den von Tödlichkeiten befreiten Steinquader. Tatsächlich hatte er gerade einmal genug Platz um gerade zu stehen.

Sein Atem ging stoßweise und etliche Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er seinen Blick schließlich auf das kleine, glitzernde Ding richtete, das dort lag – und sein Herz setzte kurz sehr enttäuscht aus. Es handelte sich nicht um einen Schlüssel, wie sie vermutet hatten und auch nicht um einen wertvollen Schatz.

Es war ein Dolch.

Ein Dolch, dessen Griff mit schwarzem Leder verbunden war und dessen Schneide zwar golden glänzte, aber nicht aus Gold bestand. Er sah zwar sehr edel aus, aber es war letzten Endes nur ein Dolch. Dennoch steckte Eos sich den Dolch an den Gürtel, versicherte sich, dass er auch festhing, damit er ihn nicht unterwegs auf dem Rückweg verlieren würde und tat mehr als vorsichtig einen Schritt zurück, um sich wieder auf den Schild zu stellen.

Glas knirschte und Metall schabte über seinen Schild und jedes Geräusch klingelte in seinen Ohren, doch nach weiteren, unendlichen Minuten kam er wieder am anderen Ende des Raumes an. Es gab nur einen Moment, an dem er sein Gleichgewicht verloren und beinahe in das scharfkantige Verderben gefallen wäre, aber er hatte es geschafft und sich vor einem Fluch aus Schnitten und tiefen, blutigen Wunden gerettet.

Als er den anderen mit verschwitzten Händen, einem rasenden Herzen und vor Adrenalin geweiteten Augen den Dolch zeigte, waren auch sie enttäuscht.

„Nicht ganz der Schatz, den ich mir erhofft hatte", gab Castor zu und reichte die Waffe betrübt an Lyra weiter.

„Aber er liegt außerordentlich gut in der Hand", sagte sie und schnitt einige Male durch die Luft. „Wir sollten trotzdem dankbar für diese Waffe sein." Sie streckte ihre flache Hand zum Himmel und murmelte: „Danke dir, oh Artemis, für dieses Geschenk."

Die anderen stimmten mit ein. Calypso murmelte ein Stoßgebet zu Poseidon, dem Meeresgott, was Eos überraschte. Castor betete zu Zeus, dem Gott des Himmels und der Lüfte und Hekate, der Göttin der Zauberer, und Eos selbst wandte seinen stummen Dank der Athene zu, der Göttin der Weisheit. Auch für die Göttin der Morgendämmerung, Eos, hatte er einen Dank übrig.

„Lasst uns weitergehen", sagte Lyra, die den Dolch in ihren Händen noch immer fasziniert betrachtete und wandte dem Scherbenmeer den Rücken zu. „Wir sollten diesem verfluchten Raum vergessen und einen anderen Gang probieren."

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