19.2 Ypéftyhos - Schuld
Melas zog seinen Holzknüppel vom Rücken und hielt die Waffe mit festem Griff umschlossen. In seinen Augen blitzte es, als er den anderen Mann an der Wand anstarrte und Hass loderte aus seinen Pupillen hervor.
„Bleib ruhig", sagte Medeia und verlor für einen Moment den Halt in der Stimme. „Ich habe nicht vor, dir irgendetwas zu tun. Im Gegenteil! Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe. Wir können uns gegenseitig unterstützen und helfen, einen Weg hier heraus zu finden."
„Dein Süßholzgeraspel kannst du dir sparen, Talos", zischte Melas. Er setzte zum ersten Schlag an. Der eingedellte Holzstab krachte mit einem ohrenbetäubenden Lärm in der Wand ein, dort, wo vor wenigen Sekunden noch Medeias Kopf gewesen war.
Sie rollte über den Boden, rappelte sich schnell wieder auf, verlor aber durch den plötzlichen Schwung für einen kurzen Moment die Orientierung und strauchelte. Melas nutzte diesen Moment der Schwäche, um ihr seine Waffe direkt auf den Oberarm krachen zu lassen.
Dumpfer Schmerz rollte durch ihren ganzen Körper, als der Knochen mit einem gewaltigen Splittern entzweibrach. Medeias Schrei hallte etliche Schritte in der Dunkelheit wider. Mit zusammengebissenen Zähnen strauchelte sie zurück und hielt sich vorsichtig die andere Hand vor den zerstörten Oberarm.
„Melas, du Idiot, was soll das!?", brüllte sie mit tiefer Stimme. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen und ließ ihr Sichtfeld einen Moment verschwimmen. Sie hatte nicht den körperlichen Antrieb, um nach ihrer Waffe zu greifen, deswegen wich sie noch einen Schritt zurück.
In Melas' Gesicht hatte sich ein wahnsinniges Flimmern eingeschlichen. Seine Augen glänzten sie boshaft durch die schummrigen Lichtverhältnisse an. Ein leises Knirschen erfüllte die Luft, als er mit seinem Kiefer mahlte.
Die Anspannung knisterte um sie herum, als würde Zeus mit seinen Donnerkeilen unter ihnen weilen. Jeder Atemzug brannte in ihrem Rachen und trieb ihr weiteren Schmerz in den Körper, der sich bereits geschunden und schwach anfühlte. Es fühlte sich so an, als hätte Talos schon viele Kämpfe hinter sich gebracht, seit er das Labyrinth betreten und Medeia seine Erinnerung verlassen hatte. Wie viele, dass konnte sie unmöglich sagen. Sie wusste nicht einmal, wie viele Tage er bereits in diesem steinernen Irrgarten steckte. Es mochten zwei oder zweihundert sein.
Dem dritten Schlag konnte Medeia gerade so ausweichen, in dem sie weiter nach hinten sprang. Ihr Angreifer folgte mit irren Augen und drängte sie immer weiter zurück, aber sie würde nicht kleinbeigeben. Mit ihrer gesunden Hand zog sie ihren Speer hervor, dessen Spitze sanft im Schein des Lichtes glänzte, als wäre sie frisch poliert worden.
Nun ebenfalls bewaffnet, war dieser Kampf zwar nicht ausgeglichen, aber wenigstens ein wenig fairer geworden. Medeia presste die Zähne aufeinander und drückte ihre Füße noch einen Schritt nach hinten, als Melas auf sie zu pirschte. Sein Holzknüppel krachte mit voller Wucht auf dem Boden auf, sodass einige Stücke wegsplitterten, dann hob der Mann die Waffe wieder hoch und hielt sie etwas unterhalb der Augenhöhe. In seinem Blick loderte der Zorn.
„Wir müssen nicht kämpfen", zischte Medeia leise und kniff ein Auge zusammen, als ein plötzlicher Schmerzensstich ihren Körper durchzog. „Lass uns die Waffen niederlegen und friedlich auseinander gehen. Ich kann dich doch verstehen, Melas!"
Aber Melas reagierte nicht auf Talos' Worte. Vielmehr schienen sie ihn noch mehr anzustacheln. Wütend knurrend schlich der breitere Mann vor und drehte den Knüppel ein paar Mal zwischen den Fingern.
„Beenden wir das!", rief Medeia mit Talos' Stimme aus, die tief im Gang widerhallte. Melas allerdings hatte denselben Gedanken gehabt, wollte ihn allerdings anders ausführen, als es ihr lieb war.
Ein vierter Schlag stieß Medeia in die Rippen und trieb sie wieder an die Wand. Dieser Angriff brach zwar keinen Knochen, schickte aber dennoch eine solche Flut an Schmerzen durch ihren Körper, dass ihr schwarz vor Augen wurde.
Melas' knurrendes Lachen hallte in ihrem Kopf.
Sie packte ihren Speer und stieß blindlings vor. Ein Reißen, ein Spritzen und ein lauter Schrei ertönten kurz nacheinander, gefolgt von keuchendem Atmen, als Melas, von der Speerspitze getroffen, zurücktaumelte. „Du Bastard", knurrte er schmerzerfüllt und spuckte auf den Boden. „Verflucht seist du!"
„Wer sähet, der erntet", erwiderte Medeia bitter. Ihre Sicht wurde langsam wieder klarer und sie konnte Melas vor sich erkennen, der sich die blutende Seite hielt und sie aus grimmigen Augen hasserfüllt anstarrte, als würde er ihr all die schrecklichen Strafen des Tartarus auf den Hals wünschen.
„Verbrenn in den Flammen des Hades", spuckte er ihr entgegen. Der weitaus kräftigere Mann nahm die Hand von seiner Verletzung und präsentierte einen tiefen Schnitt, der ihn allerdings, trotz des dunklen Blutes, welches herauströpfelte, nicht allzu sehr störte. Blut wurde am Griff seines Holzknüppels verschmiert, als er ihn mit festen Händen packte und ihn einmal herumwirbelte. „Du bist so gut wie tot, Talos!"
„Versuch es nur!", rief sie grimmig zurück. Der Speer war Medeias Waffe. Sie wusste, was sie damit zu tun hatte. Sie wusste, wie sie einem starken Angriff ausweichen musste. Allerdings konnte sie nur eine Hand nutzen und das war ihr größter Nachteil in dieser Situation. Melas hatte das auch erkannt.
Er stürmte vor und täuschte einen hohen Schlag gegen ihren Kopf, doch Medeia, die diese Täuschung erkannt hatte, wehrte den unten ausgeführten Hieb erfolgreich ab, auch wenn sie dadurch eine Schmerzenswelle im ganzen Körper ertragen musste. Sie stöhnte vor Pein auf und wollte zurückweichen, stieß aber lediglich gegen die harte Steinmauer, welche ihr kalt in den Rücken drückte.
Melas' nächster Angriff war nicht so einfach zu durchschauen. Mit einer schnellen Handbewegung wirbelte Melas das Ende seiner Waffe in die Luft, ehe er es wieder in Richtung Boden schnellen ließ. Während Medeia mit ihren Augen der Waffe gefolgt war, hatte sie seine Beine außer Acht gelassen. Mit einem heftigen Tritt beförderte Melas Medeias Knie auf den Boden, als ihre Beine einknickten.
Ein erneuter Schmerz zog sich durch ihren Körper, aber dieses Mal wartete ihr Gegner nicht, bis sie wieder aufgestanden war.
Der Holzknüppel raste in die Höhe und knallte dann mit voller Wucht aus Melas' Armen auf Medeias linkem Knie auf.
Für einen Moment spürte sie den Schmerz nicht. Dann hörte sie das abscheuliche Knacken und ihr wurde schwarz vor Augen, als alles in ihr anfing zu brennen. Ihr Schrei hallte ewig im Labyrinth wieder.
„Du wirst hier verrecken", sagte Melas mit brennenden Augen und stieß Medeia mit dem Fuß gänzlich zu Boden. Als ihr gebrochener Arm auf dem Stein aufkam, setzte der Schmerz ihr Hirn für einen Augenblick aus.
Melas' Waffe fiel ein weiteres Mal auf Medeias Knie herab, dieses Mal auf das rechte und auch dieses Mal brach es mit einem widerlichen Knacken unter der schieren Macht des Angriffes.
Von Schmerz geschwächt, warf sie den Kopf zur Seite und erbrach Galle auf den Boden. Ein bitterer, ekliger Geschmack legte sich auf ihrer Zunge ab.
„Stirb, Talos", sagte der breite Mann und wirbelte herum. Sein Holzknüppel schabte leise über den Steinboden, als er, während des Davongehens, ihn lose in der Hand hinter sich her schleifte.
Medeia, die in Talos' Körper gefangen war, konnte nichts tun, als die Handlungen des verletzten und verkrüppelten Mannes aus seinen Augen zu beobachten.
Talos stöhnte vor Schmerz. Sein Atem war ein einziges Chaos, bestehend aus kurzen und schnellen Zügen, die lange nicht genug Luft in seine Lungen beförderten, damit er nicht hyperventilierte. Mit seinem verbliebenden Arm, der nicht verletzt war, zog er sich und den Speer an die Wand und setzte sich halb auf. Seine Brust hob und senkte sich schneller, denn je und seine Augen rollten sich für einen Moment in seinen Kopf zurück, als der Schmerz seinen Körper ausfüllte.
Der Speer rollte mit einem hölzernen Scheppern aus seiner Hand und Talos lehnte den Kopf an die Wand. Seine Augen waren geschlossen. Sein Atem war immer noch hektisch. Der Schmerz verzerrte sein Gesicht.
Ein Schrei erweckte das Mädchen aus ihrer traumhaften Vision und brachte sie zurück in den Raum, in dem das schrecklichste überhaupt geschehen war. Ihre Augen huschten als erstes auf Theia. Kaum hatte sie das blutige Bild ihrer Schwester erblickt, fing ihr ganzer Körper an zu lodern und ihr Magen drehte sich um. Es fühlte sich an, als wäre das Seemonster Charybdis, welches den tosendsten und tödlichsten Strudel der Welt beheimatete, in ihrem Bauch gefangen und würde in ihren Eingeweiden rumoren, bis es sich einen Weg hinausgekämpft hätte. Die Galle kam ihr hoch und für einen Augenblick füllte sich ihr Mund mit dem schrecklichen Geschmack von Blut, ehe sie sich, mit geschlossenen Augen, beruhigen und das Würgen abwenden konnte.
„Medeia", zischte eine ängstliche, männliche Stimme an ihrem Ohr und sie schreckte auf, als sie Aineas wahrnahm, der nur wenige Schritt von ihr entfernt einer Gestalt gegenüberstand, die ihn mit schiefgelegtem Kopf vermeintlich anstarrte.
„Was ist das?", schrie sie panisch auf und kroch auf allen Vieren zurück. Ihr Atem verwandelte sich in dutzende Stöße pro Minute und ein dünner Schweißfilm begann ihren Körper zu bedecken, als sie die Horrorgestalt genauer betrachtete.
Es hatte entfernt die Ähnlichkeit mit einer alten Frau. Allerdings wucherten die dunkelgrauen Haare so lang, dass sie ihren kompletten Körper wie einen Mantel umgaben und jeden Blick auf das Gesicht vereitelten. Der Schleier, der sie bedeckte, schien der Person allerdings wenig Störung zu bereiten, denn sie legte lediglich den Kopf auf der anderen Seite schief und starrte Medeia an – oder drehte vielmehr den Kopf in Medeias Richtung, nach dem, was sie ausmachen konnte.
„Ich weiß es nicht", sagte der Junge mit vor Angst triefender Stimme. „Es ist einfach so aufgetaucht. Wie aus dem Boden gewachsen."
Die Gestalt machte ein langgezogenes, hauchendes Geräusch, als würde der Wind durch einen hohlen Baum ziehen. Medeia lief der eiskalte Schauer nicht nur den Rücken hinunter.
Eine Gänsehaut zog sich über ihren gesamten Körper und für einen kurzen, winzigen Augenblick hatte sie ihre Schuld vergessen. Sie fixierte sich auf die neue Gefahr und war sogar dankbar. So musste sie nicht an Theia denken, die ihren letzten Atemzug gehaucht hatte, wissentlich, dass ihre eigene Schwester sie durchbohrt hatte.
„Rache", surrte es brachial durch den Raum, so laut, dass Medeia aufschrie.
Sie hielt sich die Hände vor die Ohren.
Mit einer Bewegung, als würde ein mächtiger Windstoß durch sie hindurch rasen, wirbelten die dunkelgrauen sich Haare auf und verdichteten sich. An den Seiten der Gestalt blieben sie für einen Moment stehen, dann verflochten sie sich ineinander und bildeten bereits nach wenigen Augenblicken die Abbildungen von fledermausartigen Flügeln, die sich im nächsten Moment an den Körper legten und dort wie ein schützender Umhang verblieben. Da sie nun die Sicht nicht mehr versperrten, hatten Medeia und Aineas einen Blick auf den Kopf.
Dort, wo bei einem Menschen die Augen sein sollten, prangten zwei tiefschwarze Öffnungen, an dessen Rändern sich die Haut in tiefe Falten warf. Diese entfernt an eine Frau erinnernde Gestalt hatte keine Nase und tief eingeschnittene Wangen, deren Haut fast gänzlich im Schatten ihrer eingefallenen Selbst lagen. Der zu einer grässlichen Grimasse verzogene Mund hatte keine Lippen, sondern bestand bestenfalls aus einem einzigen Einschnitt in die Kopfhaut, wo bei Menschen ein Mund bestehen würde, welcher dann sehr schlecht geheilt und wieder aufgerissen wurde. Ausgefranst und an einigen Stellen definitiv blutig.
Medeia kam zum zweiten Mal die Galle hoch, als die zwei blicklosen Augen sie anstarrten und sie erbrach sich zur Seite hinweg.
„Ich bin hier, um Rache zu verüben." Hätte sie nicht gesehen, wie der Riss in der Haut sich bewegt hätte, dann hätte Medeia es nicht für möglich gehalten, dass dieses Ding tatsächlich sprechen konnte. Allein der Anblick ließ ihr Blut gefrieren.
„Wa – Wer seid Ihr?", fragte Aineas mit zitternder Stimme und das verängstigte Mädchen war sich sicher, dass der Junge fast 'Was' gefragt hätte. Damit hätte er dem Wesen sicherlich nicht geschmeichelt.
„Ich bin eine der Erinnyen", sprach es. „Alekto nennen die Sterblichen mich, aber kein Name mag mich vereinen."
„Erinnyen", sagte der Junge und strauchelte einen halben Schritt zurück. „Eine der drei Rachegöttinnen." Er schluckte sichtbar. „Oh ihr Götter, bewahrt mich."
„An diesem Ort geschah ein Verbrechen von moralischem Wert. Ein Verbrechen so schrecklich, dass es uns Erinnyen erreichte. Der Gestank von fälschlicherweise vergossenem Blut lockt uns, die Gier nach Rache befreit uns. Kein Herr muss uns schicken, wenn Geschwister sich ermorden." Alekto verzog ihre eingerissene Linie zu einer Grimasse, von der Medeia entfernt annehmen könnte, es handelte sich um ein Lächeln. „Es wurde uns aber verboten, zu handeln."
Als das Mädchen blinzelte, verschwand Alekto. Mit dem Rascheln ihrer fledermausartigen Haarflügel erschien sie breitbeinig über ihr stehend, die leeren Augen auf sie gerichtet. Medeia schrie und wollte davonkriechen und erst dann bemerkte sie den dunkelgrauen Speer aus Haar, der ihre Brust durchbohrt hatte.
„Wir können euch kein Haar krümmen", sprach Alekto ironischerweise und stand im nächsten Lidschlag wieder einige Schritt von Aineas entfernt, der während dieser ganzen Handlung lediglich genug Zeit gehabt hatte, sich umzudrehen und sich nun wieder erschrocken zu der Rachegöttin umwandte. „Ehe unser Herr nicht den Befehl gibt und unsere Ketten löst, können wir keinem Sterblichen etwas antun, so sehr wir es auch wollen."
Medeias Atem war chaotisch, als sie ihre Brust betastete, die keinerlei Anzeichen des Angriffes zeigte. Nicht einmal ihr Gewand hatte Schaden genommen.
„Ich könnte euch mit der Kette erdrosseln und nichts würde geschehen", sagte die Rachegöttin und klang tatsächlich bekümmert deswegen, als könnte sie sich nichts besseres vorstellen, was sie in ihrer freien Zeit anstellen könnte.
Medeia realisierte erst einen Moment später, dass sie mit 'Kette' ihre Haare meinte. Angewidert, verstört, aber erleichtert wandte sie den Blick ab und erlaubte sich einen ruhigen Atemzug, damit sie ihren rasenden Puls nicht noch weiter stieg. Es funktionierte nicht ganz nach ihrem Plan, aber der Atem des Mädchens wurde ein wenig ruhiger, als sie mit halb geschlossenen Augen die Fugen im Boden zählte.
„Was wollt Ihr?", fragte Aineas mit viel zu hoher Stimme. „I-Ihr könnt uns nichts antun!"
„Nein, das kann ich in der Tat nicht", sprach Alekto leise. Ihr dunkelgraues Kopfhaar, welches nicht in die Flügel überging, wurde von einer unsichtbaren Brise herumgeweht, sodass es einen kurzen Moment gab, in dem ihre Ohren freigelegt waren, die spitzer und länger als bei Menschen wären und in einem absonderlichen Kreis endeten, fast so, als hätte die Rachegöttin sich einen brennenden Metallstab durch die Haut gejagt. Die Haut war an den Enden schwarz und sah verbrannt aus, ging dann in ein helles Grau über und wurde zur Ohrmuschel hin immer heller. Es sah aus, als würde sie ihren Opfern kurzzeitig das rettende Licht zeigen, ehe ihre Ketten sie dann zerdrücken würden. „Aber mein Talent liegt nicht nur in der Tötung."
Sie tat ein paar wacklige Schritte, als hätte sie noch nicht ganz die Funktionsweise von Beinen verstanden. Sie knickte einmal um und strauchelte, blieb aber meist aufrecht stehen.
Aineas zuckte zurück und kam neben Medeia zum Stehen. Seine Hand griff zitternd an seine Hüfte und tastete für einen Augenblick, bis er stockte und sich daran erinnerte, dass sein Schwert zerbrochen und nutzlos auf den Steinen verteilt lag. Sie konnte sehen, wie er heftig schluckte und noch einen halben Schritt zurückwich.
„Bleibt weg", sagte er mit dem Versuch, die Stimme ruhig zu halten. „Ich greife an!"
„Du machst mir keine Angst, Junge. Ein hübsches Gesicht mag dich bei den Sterblichen weiterbringen, aber bei uns Göttern bist du ein Nichts. Für mich sogar noch weniger", erwiderte Alekto. Ihr Riss formte sich zu einem schiefen Grinsen, was Medeias Magen erneut rebellieren ließ. „Aber, dass du noch immer zu dem Mädchen hältst, nach allem, was sie getan hat."
Medeia holte tief und zitternd Luft. Von allen Anwesenden musste sie am wenigsten daran erinnert werden, was sie getan hatte. Sie würde, solange sie lebte, nicht vergessen, was geschehen war. Nichts könnte dafür sorgen, dass sie diese Erinnerung verlor. Es war ihr eingebrannt worden und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, dann gaben sie nur ein einziges Bild preis und dieses wollte Medeia um der Götter Willen nicht sehen. Sie konnte Theia nicht ansehen. Nicht so.
„Sie wurde benutzt", antwortete Aineas zögernd und leiser, als sie es sich erhoffte. „Sie – sie konnte nichts dafür!"
„Du kannst dir das einreden, Junge", surrte Alektos Stimme wie eine Bö durch den Raum, „aber du wirst die Wahrheit selbst irgendwann erkennen müssen. Dieses Mädchen hat ihre eigene Schwester kaltblutig ermordet und doch verteidigst du sie noch."
„Aber Eris hat - ", rief der Junge aufgebracht, wurde aber von Alekto unterbrochen.
„Eris hat verstärkt, was bereits war", zischte sie. „Wenn sie nichts getan hätte, dann wäre es später eingetroffen, aber eingetroffen wäre es. Die Wut, der Hass, all das brodelte im jungen Körper dieses Kindes und als Eris das Feuer entfacht hat, ist es übergekocht und das Mädchen tat das, was sie auch in einigen Jahren getan hätte. Sie ist hysterisch geworden und auf ihre Schwester losgegangen."
„Nein", sagte Medeia und spürte, wie die Tränen an ihren Augenwinkeln nagten. „Ich hätte das nie getan, wenn sie nicht gewesen wäre."
„Du weißt, dass das eine Lüge ist, damit sie sich selbst ertragen kann. Damit du ihr beistehen wirst", richtete Alekto ihre Worte an Aineas, der nach Luft schnappte, als sie ihr kümmerliches Gesicht umwandte und ihn ansah. „Wenn du nicht Acht gibst, dann wird dieses Mädchen dich als nächstes erstechen. Und wenn sie keine Waffe findet, dann erdrosselt sie dich. Oder findet einen Weg, dich zu vergiften. Hast du es denn nicht selbst bemerkt? Sie ist die ruhige. Das stille Wasser." Alekto streckte unter ihrem Flügelumhang einen Arm aus, verborgen unter einem Deckmantel aus Haaren und richtete ihn auf Medeia. „Die Stillen sind immer die Gefährlichsten. Sie hören alles. Sie sehen alles. Sie finden deine Schwächen und nutzen sie gegen dich."
„So bin ich nicht!", schrie Medeia panisch und packte mit einer Hand nach Aineas Hose. Kaum hatte sich ihre Finger allerdings in den Stoff vergraben, da zuckte der Junge unwillkürlich zusammen und sprang förmlich einen Schritt von ihr weg. In seinen Augen standen die Angst und der Schock geschrieben. „So bin ich nicht", wiederholte sie leiser und blickte ihn direkt an.
„Weiß er das?", flüsterte Alekto und senkte ihren Arm wieder. „Der Junge kennt dich nicht. Hat das Schlimmste von dir gesehen und du erwartest, dass er dir traut?"
Panisch atmete das Mädchen ein und schluchzte. „Bitte, hör nicht auf sie", wimmerte sie. „Ich würde nie", sie stockte, als der Kloß in ihrem Hals ihr die Worte stecken blieben ließ. „Ich wollte nie", fügte sie noch leiser hinzu und fragte sich gleichzeitig, wen sie überzeugen wollte.
„Kannst du einer Mörderin trauen?", fragte Alekto. „Und kannst du mit deinem Gewissen vereinbaren, ihr zu helfen, nachdem du gesehen hast, was sie getan hat? Wirst du ruhig schlafen können, wenn du weißt, dass sie neben dir sitzt und nur auf den richtigen Moment warten könnte?"
„Aufhören!", rief Aineas aus und hielt sich beide Hände an die Ohren. Seine Augen waren entsetzt aufgerissen und sein Brustkorb hob und senkte sich in einem rapiden Tempo.
„Du kannst meine Stimme nicht ausblenden, Junge", sprach die Rache weiter.
Aineas holte panisch Luft, als er augenscheinlich weiterhin hörte, was sie sagte.
„Oder willst du deine Augen vor der Wahrheit verschließen, die dort liegt? Willst du nicht mehr sehen, was dort geschehen ist? Welches Leben unrechtmäßig genommen wurde?"
Langsam nahm der Junge die Hände von den Ohren und starrte erst Alekto an, dann wandte er den Kopf und blickte Medeia direkt in die Augen, seine Pupillen vor Angst und Panik zitternd.
Sie konnte nicht erkennen, was er dachte oder ob er einen Plan hatte. Sie wusste nur, dass Alekto Recht hatte. Er kannte sie nicht. Es wäre töricht, wenn er ihr vertrauen würde, nachdem er... nachdem er gesehen hatte, zu was sie fähig war.
„Macht stellt schreckliche Dinge mit den Sterblichen an, Junge", rezitierte die Göttin. „Ich habe es gesehen, so viele Male. Sterbliche, die vor Macht zerfressen ihre Familien töteten, ganze Armeen ins Verderben schickten, die Städte und Dörfer niederbrannten. Sie ließen nicht zu, dass sich ihnen jemand in den Weg stellte, während sie nach Macht strebten. Es gibt immer einen Sterblichen, der alles beherrschen will." Der Riss in ihrem Gesicht zitterte, als würde sie ein Lachen unterdrücken. „Willst du dafür verantwortlich sein, dass sie weiterhin nach Macht strebt?"
„Ich strebe nicht nach Macht", flüsterte Medeia leise und zog ihre Knie an ihren Körper. Alektos Worte waren zwar an Aineas gerichtet, aber sie trafen das Mädchen noch härter. Sie hatte einen Fehler begangen, den schlimmsten Fehler in ihrem Leben und sie würde alles dafür geben und tun, ihn wieder rückgängig zu machen. Wenn sie es könnten, würde sie ihr Leben gegen das ihrer Schwester tauschen. Theia hätte es viel mehr verdient zu leben als sie.
Aineas sagte nichts, aber gerade sein Schweigen war mehr wert als tausend Worte. Er blickte das Mädchen neben sich voller Angst an, als würde er Alektos Worten Glauben schenken. Als würde er wirklich glauben, sie würde ihm etwas antun, wenn sie die Möglichkeit bekommen würde. Er schob seine Füße von ihr weg, brachte Abstand zwischen die beiden, aber auch zwischen sich und Alekto.
Das Rascheln seiner Kleidung war das einzige Geräusch inmitten ihrer Atemzüge. Medeia wusste nicht, wie spät es war. Nach... nach dem Geschehen war sie eingeschlafen, aber für wie lange? Hatte es gereicht, um eine ganze Nacht herumzubringen? Oder waren es vielleicht nur wenigen Momente gewesen, in denen sie ihre Augen ausgeruht hatte, ehe die nächste göttliche Gefahr hinter ihrem Leben her war? Würde sie keine Ruhe mehr bekommen, ehe die Götter ihre Seele ihr Eigentum nennen konnten, ehe sie sie für das, was sie getan hatte, zur Rechenschaft ziehen würden?
Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, als das Bild ihrer Schwester ihr vor Augen erschien. Theia hatte ihr vertraut. Hatte ihr Leben für sie riskiert. Und gedankt hatte sie es ihr, indem sie schwach gewesen war. Eris hatte ein leichtes Spiel mit ihr gehabt und nur dadurch war Theia gestorben. Wenn sie, Medeia, doch nur stärker gewesen wäre, dann wäre das nicht passiert. Wenn sie diese Stimme ignoriert oder ihrer Schwester davon berichtet hätte. Nichts von alledem wäre passiert.
Medeia stand langsam auf, auch wenn sie ihren zittrigen Gliedmaßen nicht ganz zutraute, ihr Gewicht gänzlich zu stützen, aber sie wollte nicht mehr schwach sein und auf dem Boden kauern, während sie darauf vertraute, dass andere sie schützten. Sie hatte dieses Vertrauen nicht mehr verdient.
„Ich bin kein schlechter Mensch!", rief sie aus und Alekto wandte ihr den Kopf zu. Aufgrund der fehlenden Gesichtszüge konnte das Mädchen nicht sagen, ob sie überrascht war, oder einfach nur dem Geräusch ihrer Stimme folgte. „Ich wollte meiner Schwester nie weh tun. Aber ich weiß, dass du mir nicht trauen kannst", fügte sie an Aineas gerichtet hinzu, der ein wenig zusammenzuckte, als sie ihren Blick ihm zuwandte. „Du hast gesehen, was ich getan habe und sicherlich verachtest du mich dafür. Aber glaub mir, egal, wie sehr du mich auch hassen magst, es ist nichts im Vergleich zu dem, was ich fühle." Die letzten Wörter waren nur noch das Flüstern des Windes gewesen und kaum hatte sie den Mund geschlossen, spürte sie, wie die Kräfte sie wieder verließen. Die Tränen, die sie tapfer in ihren Augenwinkeln gefangen gehalten hatte, entkamen ihr und benetzten ihre Wangen.
„I-Ich", fing Aineas an, aber stockte. Sein Mund blieb offen und er starrte das Mädchen an, als wäre er sich nicht sicher, ob sie echt war.
„Siehst du, wie sie versucht dich für sich zu gewinnen?", fragte Alekto höhnisch. „Sie ist verletzlich, klein, unschuldig. Aber kaum, dass du sie annimmst und stützt, da schlägt sie dir die Beine weg und reißt dir das Herz heraus!"
„Lügen!", schrie Medeia unter Tränen. „Alles, was ich will, ist...", der Atem blieb ihr im Hals stecken, „ist", sie wusste nicht, wo oben und unten war, als sie die Augen zusammenkniff. „Ich will nur meine Schwester zurück", sagte sie. „Mehr will ich nicht."
Das Rascheln von Alektos Haaren, kombiniert mit dem panischen Atem von Aineas und ihrem eigenen Schluchzen klingelte in ihren Ohren. Der Schmerz hinter ihren Augen verstärkte sich und sie spürte, wie ein kurzer Schwächeschub ihr in die Beine floss, sodass sie beinahe eingeknickt wäre.
„Ein Kind mit den Wünschen einer Frau", säuselte die Rachegöttin. „Macht und Wohlstand sind das, was du bestrebst. Du kannst einen Sterblichen betören, aber nicht mich. Ich sehe hinter jeden Gedanken."
„Dann müsstest Ihr wissen, dass ich nur meine Schwester zurückwill. Aber ich würde", sagte Medeia und versuchte das letzte bisschen, was sie noch an Kraft überhatte, in ihre Stimme zu packen, damit sie ruhig und klar sprechen könnte, „ich würde lieber sterben, als noch jemandem weh zu tun!"
„Lügen über Lügen", rief Alekto und der Riss in ihrem Kopf flatterte aufgeregt.
„Ich glaube dir", durchschnitt Aineas' Stimme den Zwist in der Luft und mit einem Mal verstummte die Rachegöttin. Sie wandte den Kopf dem Jungen zu. „Ich glaube dir, Medeia", wiederholte er und blickte das Mädchen direkt an. „Du wolltest Theia nichts tun."
„Niemals", flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme und konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken.
Alekto warf den beiden Kindern einen verachtungsvollen Blick zu – zumindest ging Medeia davon aus, dass sie das tun würde, wenn sie Augen haben würde – dann wandte sie sich um. Ihre Haare spreizten sich hinter ihrem Rücken zu den beiden riesigen, fledermausartigen Flügeln aus und im unsichtbaren Windzug erhob sie sich in die Luft und war mir einem Drehen der Welt verschwunden. „Du wirst es bereuen, ihr zu trauen, Junge!", hallte ihre Stimme im Wehen der Luft hinterher, dann kehrte endgültige Stille in den Raum zurück Medeias Beine knickten ein.
Ihr Schluchzen erfüllte das Echo des Raumes. Die Schuld, die sie versucht hatte zu unterdrücken, strömte erneut auf sie ein und drohte sie zu erdrücken. Alles, was sie an Gefühlen seit Theias Tod versucht hatte nicht zu fühlen, füllte sie aus und drückte auf ihre Augen und Ohren. Weinend und keuchend lag sie auf dem Boden und hielt sich selbst in den Armen, während Aineas nur zugucken konnte. Seine Augen waren traurig und verstehend.
„Du solltest schlafen", murmelte er und wandte sich ab.
„Ich kann nicht", würgte sie hervor.
„Du musst", erwiderte er. Er setzte sich an eine der Säulen im Raum und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick fiel auf die Stelle, an der Alekto verschwunden war.
Medeia meinte, dass sie das Schwingen ihrer Flügel, welche ihr eigenes Kettenrasseln war, noch immer hören konnte, als sie die Augen für einen winzigen Augenblick schloss.
Es war vorbei, aber noch lange nicht alles gut.
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