18.2 - Kynigós - Jäger
Der Löwe reagierte. Er schnappte mit seinem Maul in die Richtung, in der er das Mädchen vermutete. Ein Geifertropfen fiel zu Boden. Seine Krallen kratzten über den Stein. Im nächsten Moment war er in der Luft.
Lyra ließ sich auf den Boden fallen und rollte sich zur Seite, sodass sie beinahe mit der Wand kollidierte. Die Vordertatzen des Untiers trafen genau dort auf, wo sie einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte.
„Los!", rief sie laut und Eos ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Er stürmte vor und war drauf und dran, sein Schwert in das hintere Fleisch des Löwen zu rammen, als sich das Tier mit einer Geschwindigkeit, die er nicht erwartet hatte, umdrehte und ihm seine Pranke gegen die Brust presste.
Die plötzliche Gewalteinwirkung drückte ihm allen Atem aus den Lungen und das Schwert fiel ihm klirrend aus der Hand, als er mehrere Fuß in die Luft gehoben wurde und in hohem Bogen durch den Gang flog. Er krümmte sich vor Schmerzen, als er auf dem harten Steinboden aufprallte. Jeder Rest an Atem, der sich noch in seinem Körper festgesetzt hatte, wurde vertrieben und ein trockenes Keuchen verließ seine Kehle. Stechender Schmerz an seinem Rücken durchfuhr ihn und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er sog erschrocken Luft ein.
„Eos!", rief Calypso entsetzt, aber Lyra hatte den Moment genutzt, in dem der Löwe abgelenkt gewesen war. Ihr Dolch drang tief in sein Fleisch ein und das Tier ließ ein lautes, schmerzhaftes Brüllen ertönen. Sein Heulen röhrte hohl im Gang wider, als es vor Schmerz und Schreck aufsprang und Lyra den Griff entwand.
„Scheiße!", schrie sie auf und stolperte zurück. Sie packte das Schwert an ihrer Hüfte und zog es in Windeseile hervor.
Calypso war aus ihrer Starre erwacht, als Eos auf dem Boden aufgekommen war. Ihr Schwert durchschnitt die Luft, als sie es über den Kopf schwang und mit einem Kampfschrei, dem der Junge ihr gar nicht zugetraut hatte, stach sie nach dem verwundeten Tier.
Seine Pranke flog hoch und krachte mit einem lauten Knall an Calypsos Brust. Ihr Schrei brannte in Eos' Ohren wie ein Fegefeuer und ließ einen eiskalten Schauer seinen Rücken hinablaufen. Gerade, als er sich langsam aufrappelte, fiel das Mädchen mit einem dumpfen Schlag zu Boden und blieb einen schrecklichen Moment lang liegen, ehe sie sich vor Schmerzen krümmte und ihr Stöhnen das Echo des ganzen Gangs erfüllte.
Lyra sprang vor und landete einen zweiten, weniger effektiven Schlag gegen die Seite der Bestie, wurde allerdings zu Boden geschleudert, als das Tier ihren Hieb mit dem Anspannen seiner stählernen Muskeln abwehrte. Sie ließ sich davon allerdings nicht allzu sehr beeindrucken, sondern rappelte sich auf, noch ehe Eos ganz auf den Beinen war und stürmte erneut vor.
Der Junge schloss sich dieses Mal ihrem Angriff an und gemeinsam schafften sie es das Tier zu verwirren, sodass es nur einen der Schläge mit seiner krallenbesetzten Pranke abwehren konnte. Eos hatte sich sein zweites Schwert gegriffen und die Klinge glitt durch das schwarz-gelbe Fell oberhalb der Hinterbeine und stach tief in die weiche Haut hinein, sodass der Löwe erneut vor Schmerzen aufbrüllte.
Die beiden Angreifer sprangen zurück, als das Tier in Rage verfiel und wild mit seinen Pranken um sich schlug und trat. Seine Krallen durchschnitten die Luft gefährlich nahe vor Lyras Gesicht und sie stolperte mit weit aufgerissenen Augen zurück, als sein nächster Hieb beinahe ihren Arm abgetrennt hätte.
Eos eilte zu der am Boden liegenden und sich krümmenden Calypso und half ihr vorsichtig in eine halbwegs sitzende Position, doch als er sie am Arm hochziehen wollte, durchfuhr ein brennendes Stechen seinen eigenen Brustkorb, als würde sich eine Nadel tief in sein Fleisch drehen. Er stöhnte kurz auf und keuchte dann schmerzerfüllt, ließ sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen.
Calypso hatte Glück gehabt, denn keine der Krallen des riesigen Löwen hatte ihren Körper erwischt. Ihr Gewand war an der Schulter eingerissen und entblößte ein Stück ihrer hellen Haut, aber ansonsten schien sie auf den ersten Blick unversehrt. Sie atmete schwer und würgte nach Luft, als Eos sie stützte. „Geht schon", hustete sie hervor und erhob sich schwerfällig. Sie musste eine Hand an die Wand drücken, damit sie das Gleichgewicht nicht verlor.
Lange konnte er sich nicht damit aufhalten, für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden zu sorgen, denn Lyra konnte das rasende Tier nicht allein aufhalten. Mit Castors Klinge in der einen Hand und seinem Schild in der anderen, näherte er sich dem Löwen von hinten. Ein Stück Fell hatte sich vom Blut dunkelrot verfärbt und das Winseln des Tiers jagte dem Jungen einen erneuten eiskalten Schauer über den Rücken.
Ihren eigenen Schild nun ebenfalls gezogen, torkelte das andere Mädchen wieder neben ihn, die Augen in heißes Feuer getaucht. Ihre Schultern drückten einen Moment lang gegeneinander, dann brach der flüchtige Kontakt und sie stürmte vor. Ihre Klinge flog so schnell durch die Luft, dass Eos Schwierigkeiten hatte, ihr überhaupt zu folgen und das nächste, was er wusste, war, dass der peitschende Schweif des Löwen abgetrennt durch den Gang segelte und einen Moment später mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden aufkam. Calypso war allerdings noch lange nicht fertig.
Während das Tier vor Qualen aufschrie und ein ohrenbetäubendes Brüllen erklingen ließ, drehte sich das Mädchen einmal um die eigene Achse und nutzte den Schwung, um mit ihrer Klinge eine gewaltige, klaffende Wunde über den linken Oberschenkel des Löwen zu ziehen.
Als Eos ebenfalls vorstieß, um sein Schwert seinerseits dem gewaltigen Raubtier ins Fleisch zu rammen, wirbelte es erneut herum. Dieses Mal darauf vorbereitet, wehrte der Junge den Prankenhieb mit seinem Schild ab, wurde aber durch die schiere Kraft, die sein Gegenüber damit ausübte, zurückgedrängt und stolperte über sein am Boden liegendes Schwert. Seine Muskeln ächzten unter der Last seines Körpers, als er sich so schnell es ging aufrappelte. Jede einzelne Faser stand in Flammen.
„Hey, Fellgesicht!", rief Lyra.
Der Löwe drehte seine Schnauze zu ihr um und erntete dafür einen dumpfen Schlag mit dem Schwertgriff gegen sein linkes Auge. Schmerzvoll brüllte er auf, ließ dem Mädchen dieses Mal aber keine Chance mehr, sich wegzurollen. Die Pranken landeten mit einem lauten Krachen auf Lyras Oberkörper.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie zu Boden ging. Dass sie nicht unter der Masse des Löwen zerquetscht wurde, war dem einfachen Grund zuzuschreiben, dass das Tier sich, kurz vor der Kollision mit dem Boden, herumgedreht hatte, als ein schrilles Kreischen seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Calypso atmete schwer, als das Tier ihr den Kopf zuwandte. Sie setzte zu einem erneuten Schrei an.
Eos nutzte seine Chance und raste an dem abgelenkten Feind vorüber. Er konnte erkennen, dass eines der Augen des Löwen rot und geschwollen war. Einige Blutstropfen blieben zwischen seinen Zähnen hängen, als das Tier sich mit der Zunge übers Gesicht leckte. Es schwankte und knurrte vor Schmerzen ein weiteres Mal auf, als es den restlichen Stummel seines Schweifes bewegte.
Als Eos bei Lyra ankam, hatte sie sich schon aufgerappelt. Sie atmete rasselnd. Ihr Blick war ebenso wie der von Calypso von Flammen verschlungen und als ihre Finger, die um den Griff ihres Schwertes gelegt waren, aufzuckten, war der Junge unglaublich froh, dass er sie auf seiner Seite wissen konnte. Ein Nicken ihrerseits ließ ihn herumfahren. Die beiden Kinder ließen ihre Schwertspitzen gemeinsam in die Flanke des Löwen krachen und gepeinigt fiel das Tier auf die Knie seiner Hinterbeine.
Calypso nutze ihre Chance.
Mit einem weiten Schwung zog sie ihre Klinge durchs Maul der riesigen Raubkatze und ließ feuchtes, dunkelrotes Blut auf den Stein regnen.
„Noch mal!", schrie Lyra, lief einige Schritte um das Tier herum und rammte ihm mit einem blitzschnellen Hieb das Schwert in die Seite.
Eos indes hatte Schwierigkeiten, seine Klinge aus dem Fleisch des Löwen zu ziehen. Seine vor Schmerzen brennenden Muskeln protestierten bei jedem Kraftakt, den er aufbrachte, damit er mit seiner Waffe ein weiteres Mal zustechen konnte. Er konnte seine Muskeln deutlich unter seiner Haut erkennen, als sie sich bis zum Zerreißen anspannten und er es schließlich schaffte, seine Klinge aus dem Fell zu ziehen. Das widerliche Schaben, welches dabei ertönte, zeigte ihm, dass sein Schwert einen Knochen erwischt hatte.
Der Löwe brüllte erneut auf und Calypso rammte ihm das Schwert in die Kehle.
Mit einem Mal verklang das Brüllen und wich einem kehligen Gurgeln, gefolgt von Würgen und lauten Platschgeräuschen. Das Untier zuckte.
Eos wich vorsichtig zurück, das Schwert noch immer zum Angriff erhoben.
Calypso riss ihre eigene Klinge aus dem Hals ihres Feindes und das Tier brach gurgelnd zusammen, als ein Schwall Blut aus seinem Maul spritzte und dem Steinboden eine bedrohliche, dunkelrote Färbung verlieh.
Die tödlich verletzte Bestie zuckte wild umher, schabte mit seinen Krallen über den Stein. Seine bluttriefenden Reißzähne schnappten schwach umher und es versuchte sich auf die Beine zu bringen, brach aber zusammen, kaum, dass es die Hinterbeine angehoben hatte. Beim Aufschlug auf den Boden wurde ebenso Blut aus den Wunden gedrückt, die Lyra und Eos ihr zugefügt hatten.
Und plötzlich hatte Eos Mitleid mit dem Tier. Es litt unerträgliche Schmerzen und hatte keine Chance mehr zu überleben, quälte sich aber dennoch weiter. Der Drang, seine Beute zu jagen, war stärker als alles andere, selbst, wenn das bedeutete, dass es auf gebrochenen Knochen stehen und tiefe Stichwunden ertragen musste. Letztendlich hatte es versucht zu überleben. Sein Pech war gewesen, dass diese Beute ebenfalls leben wollte und sich verteidigen konnte.
Eos' Atem ging schwer, Schweiß tropfte von jedem seiner Körperteile und er spürte, wie ein schwaches Beben sich zu einem manischen Schluchzen verwandelte. Schnell schlug er sich eine Hand vor den Mund und wandte sich von dem sterbenden Tier ab. Er konnte zwar immer noch hören, wie es seinen Todeskampf austrug, aber wenn er es nicht mehr sehen musste, dann war es einfacher. Siedend heißer Schmerz glitt durch seine Brust und er kniff die Augen zusammen. Seine andere Hand verkrampfte sich und klirrend fiel sein zweites Schwert zu Boden. Beinahe automatisch krallten sich diese Finger in sein Gewand, nahe seinem Herz. Es fühlte sich an, als würde jemand immer und immer wieder mit einer heißen, glühenden Nadel in sein Innerstes stechen.
„Beende es", vernahm er Lyras Stimme als dumpfes Pochen in seinem Ohr und er stöhnte schmerzhaft auf.
Die Hitze verging und stattdessen nahm Atemnot ihren Platz ein. Es fühlte sich an, als läge ein schwerer Gegenstand auf seinen Brustkorb und leerte seine Lungen wie einen Sack. Jeder Atemzug ließ ihn Qualen leiden, die sich alle zentral über seinem Herz sammelten und dann zu einer Art pulsierendem Krampf wurden, bis sie beim Ausatmen wieder nachließen.
Ein Geräusch, als würde Haut und Fleisch zerreißen, durchschnitt das Echo. Einen Augenblick später konnte Eos kein qualvolles Knurren und verzweifeltes Kratzen mehr hören. Vorsichtig, immer noch eine Hand vor den schwer keuchenden Mund gepresst, drehte er sich um.
Dem Anschein nach, hatte Calypso das Leiden des Tieres beendet, indem sie ihm die Kehle durchtrennt hatte. Ein Schwall an Blut tränkte den Boden zu ihren Füßen. Das Mädchen war grünlich im Gesicht. Tränen flossen ihre Wangen hinab.
„Reiß dich zusammen", fauchte Lyra und kniete sich neben die Leiche des Löwen. Sie schob eine Hand unter das tote Tier und suchte mit angestrengtem Blick nach etwas.
„Ich ha-hab noch nie zuvor ein Tier getö-getötet", sagte Calypso mit tränenerstickter Stimme. Ihr Blick traf den von Eos und es sah aus, als würde sie stumm um Hilfe bitten.
Der Junge war allerdings noch immer damit beschäftigt, sich selbst gegen den aufkommenden Brechreiz zu verteidigen, der ihn zusätzlich zu den pressenden Schmerzen heimsuchte.
„Du gewöhnst dich daran", war Lyras stumpfe Antwort. „In der Natur heißt es gefressen, oder gefressen werden. Wenn du das Biest nicht umgebracht hättest, dann hätte ich es getan. Und wenn ich es nicht getan hätte, dann Eos. Wenn er es auch nicht getan hätte, wären wir alle drei jetzt tot. Und du wolltest doch überleben und Castors Eltern erzählen, was für ein mutiger Held ihr Sohn war, oder?", fauchte sie gereizt, allerdings hellte sich ihr Gesichtsausdruck einen Augenblick später etwas auf und sie zog mit einem erneuten reißenden Geräusch den Dolch aus dem Bauch des Löwen hervor. Die Klinge war mit Blut verschmiert und Fellfetzen klebten daran. „Was hast du?", fragte sie mit einem zerknirschten Blick auf Eos.
Er schüttelte den Kopf und stöhnte fast lautlos auf, als er lange Luft holte. Als ob er einen Dolch verschluckt hätte.
„Alles okay?", fragte Calypso. Ihre Stimme klang wesentlich besorgter als die des anderen Mädchens. Sie eilte zu ihm, auch wenn sie es dabei vermied Lyra oder den Löwen anzusehen. Blut tropfte von ihren Fingern.
„Geht gleich wieder", winkte er ab und kniff ein Auge zusammen.
„Offensichtlich nicht", sagte sie alarmiert. Sie zog seine Hand von seiner Brust weg, wischte ihre Finger an ihrer Hose ab und zog dann vorsichtig sein Hemd hoch, nur um einen ungefähr faustgroßen, blau-gelb-roten Fleck freizulegen, der sich von Eos' linker Brust bis hin zur oberen Hälfte der rechten zog. „Oh, ihr Götter!"
„Das sieht nicht gut aus", meinte Lyra, die ebenfalls zu ihm gekommen war, nachdem sie festgestellt hatte, dass er sich nicht aus denselben Gründen so seltsam benahm, wie Calypso. „Wahrscheinlich eine Prellung", sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Sowas hatte meine Schwester mal, als sie vom Apfelbaum gefallen ist. Es sollte in ein paar Tagen weg sein."
Calypso ließ mit spitzen Fingern sein Hemd los.
„Hoffentlich", keuchte Eos und verzog das Gesicht. Als er langsam ein- und ausatmete, spürte er, wie der Schmerz langsam verebbte. Er streckte den Rücken durch und seufzte erleichtert auf, als diese leichte Bewegung keine erneute Pein auslöste. Es schmerzte nur dann, stellte er nach einigen Proben fest, wenn er sich leicht hinunterbeugte und seine Rippen belastete. „Geht es dir gut?", fragte er an Calypso gewandt.
„Ich – ich bin unverletzt", murmelte sie leise und wandte das Gesicht ab. „Keine Wunden, keine Schmerzen."
Er merkte, dass ihr Blick auf das Blut fiel, welches an ihrer Hose klebte und ebenfalls den Boden in Form von dunkelroten Lachen und Fußabdrücken bedeckte.
„Wir mussten es tun", stimmte er Lyra zu und sie biss sich auf die Lippe.
„Ich weiß", erwiderte Calypso. Ihre Finger zitterten und trommelten ungelenk gegen ihr Handgelenk. „Aber das Leid in seinen Augen... Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist."
„Du wolltest leben", sagte Lyra grimmig. „Das hat jeder irgendwann. Als meine Schwester und ich das erste Mal zusammen jagen waren, haben wir es nicht übers Herz gebracht, ein Tier zu erlegen. Wir konnten nicht einmal den Pfeil loslassen. Aber irgendwann lernst du, dass, wenn du nicht tötest, du selbst stirbst. Hätten wir keine Hasen und Kaninchen erlegt, dann wären wir verhungert. Wenn wir den Löwen nicht unbedingt essen wollen oder können, mussten wir ihn trotzdem töten. Er hätte uns sonst, ohne mit der Wimper zu zucken, gerissen."
„Ich weiß ja, ich weiß ja", meinte das andere Mädchen und wirkte ungeduldig. „Trotzdem tat er mir leid und... und ich tue es nicht gerne."
„Ich verstehe dich", erwiderte Eos leise. „Es war nicht das erste Mal, dass ich ein Tier erlegt habe", meinte er und bemerkte, wie Lyra überrascht die Augenbrauen anhob, „aber so eine Bestie ist mir noch nie untergekommen. Und dann noch ein Löwe! Ich habe zuvor noch nie einen gesehen."
„Das hat wahrscheinlich kaum einer von uns", sagte Lyra und nickte. „Die einzigen Löwen, von denen ich weiß, dass es sie in Griechenland gibt, sind der Nemeische und der Kithäronische. Und beide wurden von Herakles erschlagen, weswegen ich mich unweigerlich frage, was für ein Tier dieser hier war. Er ist definitiv zu groß, um ein normales Exemplar zu sein."
„Eigentlich ist es mir egal", murmelte Eos und rieb sich mit einem zusammengekniffenen Auge die Brust. „Solange es nicht noch einen davon gibt, bin ich schon recht zufrieden damit, dass dieser tot ist."
Calypso verzog das Gesicht und presste die Lippen erneut aufeinander. Sie trat einen Schritt von dem Jungen weg und glättete dann mit spitzen Fingern den Stoff ihrer Kleidung, der an einigen Stellen mit dunkelrotem Blut verfärbt war.
„Wir sollten einfach weitergehen." Ihre Stimme war zwar kräftig, aber Eos meinte ein nicht ganz verborgenes Zittern zu vernehmen. „Mir ist nicht wohl, wenn wir hierbleiben."
„Mir auch nicht", gab Lyra überraschenderweise zu. „Denn wo tote Tiere sind, sind Aasfresser nicht weit. Wer weiß, was der Geruch bald anlockt."
Eos hob erstaunt die Augenbrauen. Er hätte nicht gedacht, dass gerade sie solch weitreichende Gedanken hatte. Zuvor war er davon ausgegangen, dass sie eher die Sorte Mädchen war, die lieber zuschlug als Fragen zu stellen, aber die ganze Sache, wie sie den Kampf mit dem Löwen angefangen und durchgezogen hatte, hatte ihm gezeigt, dass sie etwas von Taktik verstand. Sie wusste, wo sie zustechen musste, damit ihr Opfer Schmerzen hatte. Und sie wusste, worauf es ankam, wenn man nicht die Oberhand hatte.
Der Junge stampfte über die ausgestreckten Beine des Löwen. Er vermied es, einen Blick auf sein Maul zu werfen, weil er befürchtete, dass er dem Anblick nicht ganz zugetan sein würde. Mit flinken Schritten näherte er sich seiner zu Boden gefallenen Klinge. Kaum hatte er seinen Brustkorb nach unten gesenkt, durchschoss ein erneuter, flammender Schmerz seinen ganzen Körper und er gab ein keuchendes Stöhnen von sich. Er konnte die brennenden Blicke seiner Kameradinnen in seinem Rücken spüren und seine Wangen wurden unnatürlich heiß. Mit zusammengebissenen Zähnen bereitete er sich auf den Schmerz in seinem Brustkorb vor, ehe er mit einer schnellen Bewegung sein Schwert aufhob.
Als er sich umwandte, vergaß er für einen Moment, dass dort die Leiche der Bestie lag. Sein Blick fiel genau auf das zerstörte Maul. Er konnte sehen, wo Calypso dem Tier mit ihrer Klinge die letzte Ehre erwiesen und die Kehle durchtrennt hatte. Blut floss in geringen Rinnsalen zwischen den Zähnen hervor und die einzelnen Pfützen hatten sich mit dem Geifer zu einer großen, widerlichen Lache gebildet. Das weitaufgerissene, im Todeskampf verkrampfte, Maul gab einen fürchterlichen Blick auf den zerstörten Rachen frei. Das Fleisch war zerfranst und blutig. Übelkeit regte sich in Eos' Magenbereich und er wandte den Kopf zur Seite.
„Lasst uns endlich gehen", bat Calypso ein weiteres Mal.
Der Junge beeilte sich an der Leiche des Löwen vorbeizutreten, ohne dabei die blutigen Lachen mit seinen Füßen zu berühren. Sie stand mit dem Rücken zu ihm.
Der metallische Geruch von Blut verpestete die Luft. Bei jedem Atemzug spürte er, wie es in seiner Nase anfing zu kribbeln. Sein Magen rebellierte. Er wollte weg von diesem Anblick, diesem Gestank und dem Gedanken daran, dass er dafür mitverantwortlich war. Unweigerlich fragte er sich, ob es für ihn irgendwann normal werden würde, Tiere zu töten. Würde er irgendwann aufhören, sich deswegen schuldig zu fühlen?
Als sie aufbrechen wollten, blieb Lyra noch einmal stehen. „Es ist merkwürdig, nichts von einem erlegten Tier mitzunehmen", fing sie langsam an. Sie drehte sich noch einmal um, damit sie einen berechnenden Blick auf den Löwen werfen konnte.
„Was würdest du denn bitte davon mitnehmen wollen?", fragte Calypso und stierte in die andere Richtung, als würde sie die Existenz der toten Bestie verdrängen wollen.
„Normalerweise", erwiderte sie und verschränkte die Arme, „alles. Wenn du selbst jagen gehst, lernst du irgendwann, dass man alles irgendwie verwenden kann."
„In unserer Situation können wir aber recht wenig davon wirklich gebrauchen. Ich bezweifle, dass das Fleisch bekömmlich wäre, wenn wir es nicht kochen können", gab Eos zu bedenken
„Das Fell können wir nicht gerben und vielleicht als Kleidung oder Decken nutzen", fügte Lyra hinzu und verzog die Augenbrauen.
„Das einzige, was wir eventuell aus dem Kadaver gewinnen und gebrauchen könnten, wären Zähne und Klauen", sagte er.
„Ja, daran hab ich auch gedacht", überlegte sie laut und trommelte mit den Fingern auf ihrem Unterarm. „Nur ist die Überlegung, was man genauer damit anfangen soll."
„Waffen", erwiderte Eos sofort.
Lyra schenkte ihm ein schmales, trauriges Lächeln.
„Ja, ich dachte mir fast, dass du das sagen würdest. Aber dafür sind sie zu klein und unhandlich. Du würdest sie eher im Kampf fallen lassen, als wirklich damit etwas anfangen zu können. Versteh mich nicht falsch, mit der richtigen Bearbeitung könnten Löwenzähne sicherlich großartige Dolche sein", phrasierte Lyra, „aber die haben wir nicht und selbst wenn wir die Möglichkeit dazu hätten, wäre sie eine Verschwendung von Materialien." Sie hob den Dolch hoch, den Eos aus dem Scherbenmeer geholt hatte. „Außerdem haben wir schon einen."
„Also können wir nichts damit anfangen?", fragte er.
„Ganz richtig."
Die Kinder zuckten zusammen, als eine Antwort ertönte, die von keinem von ihnen gesprochen worden war. Sie rückten näher zusammen und Eos durchforstete jeden Winkel des Gangs mit seinen Augen. Es hatte sich nichts verändert.
„Wer da?", fragte Lyra zwischen zusammengepressten Zähnen. Ihre Waffen klapperten aufgeregt nebeneinander und das Echo, das sie dabei erzeugten, vermischte sich mit ihrem Atem und dem Rascheln von Kleidungsstoff.
„Ächtet mein Ansehen nicht, indem ihr meinen Namen nicht kennt", wisperte die Stimme. Es war unmöglich herauszufinden, wem sie gehörte. Sie hatte keine Melodie, keinen tiefen oder hohen Klang, keine schwungvolle Stimmung. Sie war einfach da. „Normalerweise schlagen eure Herzen bis zum Hals, eure Glieder frieren fest. Ihr könnt euch nicht bewegen, mit steifem Körper und zitternden Augen. Ich bin das erste Monster, die erste Bestie, die jeden peinigt."
Eos spürte, wie sein kompletter Körper in Eiswasser getaucht wurde. Eine Gänsehaut zog sich von seinen Zehen bis zu den Haarspitzen, sein ganzer Arm fing an zu beben und er musste seine zweite Hand nutzen, damit er seine Waffe nicht fallen lassen würde. Der Schild hing nutzlos an seinem Rücken.
„Kommt schon", sagte die Stimme. „Ihr verletzt mich."
„Bleibt zusammen", hauchte Calypso mit ängstlicher Stimme.
Die drei Kinder rückten näher zusammen. Als Eos mit seinem Unterarm an den des Mädchens kam, erzitterte er. Ihre Haut war eiskalt.
„Wenn ihr einmal die Augen schließt, dann kommt ihr sicherlich drauf", flüsterte es um sie herum. „Ich bin immer da. Ich war da, als ihr gekämpft habt. Ich war da, als ihr dem Tod zugesehen hat. Ich war da, als euer Freund starb. Wie heiße ich?"
Lyra hob zitternd Luft.
„Du hast es fast, Mädchen", wisperte es nahe an Eos' Ohr, dann zog ein eisiger Luftzug an ihm vorbei und die Tatsache, dass Lyra sich einen Moment später schüttelte, verriet ihm, dass die unsichtbare Stimme weitergezogen war. „Nur noch einen Hinweis mehr."
„Verschwinde", murmelte Calypso leise.
„Wie unhöflich, Löwenschlächterin." Ein Wimmern entkam dem Mädchen. „Aber nicht doch. Du hast dich doch geschlagen. Du hast dich selbst überwunden. Einen größeren Feind zur Strecke gebracht."
Der Gang füllte sich mit leuchtenden Flecken. Zuerst dachte Eos, etwas würde mit seinen Augen nicht stimmen. Er kniff sie für einen Moment fest zusammen und öffnete sie wieder. Die Lichtflecken tanzten auf dem Stein und in der Luft, brachten ein bezauberndes Schauspiel mit sich und lenkten den Jungen für einen Augenblick von der Stimme ab. Es war erst, als sie sprach, dass er bemerkte, woher das Licht kam.
„Ihr habt meine Kreatur geschlachtet und euch mir nicht hingegeben. Euch überwunden. Dafür gebührt euch mein Respekt. Jetzt sagt meinen Namen und ihr seid frei zu gehen", wisperte und flüsterte es um sie herum.
Aus dem Fell des Löwenkadavers lösten sich Lichtflecke. Einer nach dem anderen entstieg in die Luft, tanzte und drehte sich, als würde ein unhörbares Orchester ihr Lied spielen. Auch aus den Blutlachen auf dem Boden entsprangen die hellen Lichter und tauchten den ganzen Gang in ein unwirkliches Licht. Es war beinahe so, als würden sich hunderte winzige Sonnen unter der Decke tummeln, jede von ihnen eine schimmernde, hellere Abbildung der letzten. In den dunkelroten Pfützen sahen sie aus wie tausend Augen.
Das Blut auf dem Boden wurde weniger. Das Fell verschwand. Aus dem Fleisch der Leiche wurde Luft. Der Kadaver löste sich in nichts auf.
Die Kinder beobachteten dieses Schauspiel mit offenen Mündern und weitaufgerissenen Augen.
In wenigen Momenten war der tote Löwe verschwunden, jeder Tropfen Blut war ins Nichts übergegangen und es gab keinen einzigen Hinweis darauf, dass sie wirklich gegen dieses Raubtier gekämpft und gesiegt hatten. Lediglich Eos' Brustkorb zeugte davon, dass in diesem Gang etwas geschehen war.
„Eine Illusion. Nicht mehr und nicht weniger. Leider deswegen nicht besonders mächtig", flüsterte die Stimme an ihren Ohren. „Ich brauche meinen Namen."
Eos sog scharf die Luft ein und hielt dann für einen Moment den Atem an. Er schloss die Augen und horchte in sich hinein, wie die Stimme gesagt hatte. In seinem Inneren zitterte und bebte es. Er spürte, wie die Gänsehaut seinen Körper einnahm, ihn bedeckte, wie eine Schicht aus Eis.
Als er die Augen öffnete, ließ er den Atem los, den er gehalten hatte und wusste, was er zu sagen hatte.
„Angst", sagte Eos mit lauter und klarer Stimme.
„Phobos", fügte Lyra erkennend hinzu.
„Gratulation", erwiderte die Stimme leise und mit einem weiteren Luftzug war sie verschwunden.
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