18.1 Kynigós - Jäger


Es war der schönste Tag des Jahres und Athen erstrahlte in weißem Glanz. Die Sonnenstrahlen kämpften sich durch bauschige Schäfchenwolken und beschenkten die Menschen unter sich mit ihrer angenehmen Wärme. Gräser und Blätter streckten sich gen Himmel, um all die sommerliche Kraft der Sonne in sich aufnehmen zu können. Die grünen Rasenflächen waren voll mit Familien, die den Tag genossen, kühlen Wein und Saft tranken und den Kindern beim Spielen zuschauten. Ein großer Olivenbaum spendete kühlen Schatten und der Parthenon thronte über dem Horizont der Stadt. Es sah aus, als wäre er Athen eine Krone, würde sie einer Stadt der Götter krönen. Die riesengroße Marmorstatue der Athene, mit bronzenem Schild und Speer und der weisen Eule auf ihrer Schulter, leuchtete, als würde die Göttin höchstpersönlich auf die Menschen unter sich strahlen.

Eos rannte über die Wiese, spürte das kühle Gras unter seinen nackten Füßen. Er fühlte sich, als würde er fliegen, als könnte er jeden Moment die Arme ausbreiten und abheben und dann durch die Wolken im Himmel tauchen. Er würde bis zu den Göttern im Olymp hinaufsteigen und an das goldene Tor klopfen, welches ihm Einlass in die Welt der Unsterblichkeit gewähren würde.

„Ist das nicht fabelhaft?", ertönte Calypsos Stimme neben ihm und der Junge drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihr um. „Ich will, dass dieser Tag nie endet und wir für immer hier sein könnten."

„Ich auch. Nichts wünsche ich mir mehr", erwiderte er. Seine Stimme klang älter und tiefer, als er es in Erinnerung hatte. Auf seinen Armen konnte er erkennen, wie die Muskeln sich unter seiner Haut abzeichneten.

„Wir sollten einfach ewig wachbleiben", sagte sie. Ihre Gesichtszüge waren schärfer und definierter geworden. Die roten Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln und ein Windhauch zerrte einige ihrer langen blonden Strähnen hinter ihren Ohren hervor. „Diesen Tag einfach niemals enden lassen. Uns nie verlieren."

Seine Wangen schmerzten vom Grinsen, aber er wollte nicht aufhören. Er fühlte sich viel zu glücklich dafür. Kein Leid der Welt konnte ihm etwas anhaben, weil er in Gegenwart eines viel zu guten Menschen war. Calypsos weißes Kleid flog im Wind hinter ihr her und sie streckte die Hände zur Seite aus.

„Ich könnte dich nie verlieren", antwortete er sanft, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie seine Stimme überhaupt über das Rauschen der Luft um sie herum wahrnehmen konnte.

„Bleiben wir ewig hier?", fragte sie strahlend.

„Für immer und ewig", erwiderte Eos.

Die Strahlen der Sonne schenkten ihm ein warmes Gefühl auf der Haut, welches bis in sein Herz vordrang. Jeder Schlag schien mehr und mehr Wärme durch seinen Körper zu schicken. Calypsos Lächeln ließ ihn fliegen. Der Wind wirbelte seine schwarzen Haare durcheinander und er flog so hoch, dass er auf Augenhöhe mit der Statue der Athene stand. Ihr Blick durchbohrte ihn und plötzlich, als er die Augen schloss, sprach ihre Stimme in seinem Kopf.

Eos riss die Augen auf.

„Tapferer Held, der du alle Gefahren überstanden hast", sagte Athene. Ihr marmornes Gesicht hatte ein gütiges Lächeln auf den Lippen. „Tapferster meiner Recken, sieh mich an. Sag mir, bist du glücklich?"

„Ich war nie glücklicher", erwiderte er.

„Wärst du noch glücklicher auf dem Olymp an meiner Seite, mein Held?", fragte sie. „Du könntest unsterblich sein. Du würdest deinen eigenen Thron haben. Die Sterblichen würden dich als den größten Helden des Olymps anbeten. Unmengen an Opfergaben würden dir angeboten werden, es würde Tempel für dich geben. Man würde Städte nach dir benennen."

„Ich bin geehrt, Athene", sagte er und senkte demütig den Kopf. Niemals altern, niemals krank sein, unbegrenzte Macht den Sterblichen gegenüber... er würde alles haben und noch mehr. Sein Blick fiel auf die glänzend weißen Häuser Athens, auf die Menschen, die dort unten glücklich waren und ihr Leben genossen. Irgendwo dort war Calypso und wartete auf ihn. „Aber ich fürchte, ich muss dein Angebot ablehnen. Ich mag mein sterbliches Leben mit meiner Familie und Freunden."

Athenes Statue nickte verstehend. „Dessen bin ich mir bewusst gewesen, aber der hohe Herr Zeus wollte unbedingt, dass ich dich davon überzeuge. Ich habe ihm gleich gesagt, dass du niemals an den Olymp kommen würdest."

„Ich würde an den Olymp kommen", erwiderte er. „Aber ich fürchte, ich würde nicht bleiben. Das Leben eines Gottes ist nicht für mich gemacht."

„Wie ich dachte", antwortete die Göttin wohlwollend. „Leb dein sterbliches Leben, Eos. Sei der Mann, zu dem du immer werden wolltest. Sei ein Held. Aber vergiss nicht, dass wir dir immer einen Platz freihalten, solltest du dich umentscheiden."

„Vielen Dank, Pallas Athene. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen."

Die Statue kehrte zu ihrem berechnenden Blick zurück, mit dem sie gebaut wurde und Eos landete sanft zu ihren Füßen. Das goldene Schild, welches in ihren Sockel eingelassen wurde, glänzte im Schein der hoch am Himmel stehenden Sonne.

Am Fuße des Parthenon erwartete Calypso ihn. „Wir sollten zurückkehren", sagte sie mit einem Lächeln und streckte die Hand aus. Ihre langen Finger umschlossen seine, die Berührung so hauchzart wie eine Feder. Er verlor sich in ihren Augen und ihrem Lächeln.

Eos erwachte mit einem warmen Gefühl im Bauch. Seine Füße schmerzten nicht mehr, sein Herz war plötzlich federleicht und die Gedanken in seinem Kopf drehten langsam ihre Runden. Als er die Augen öffnete, befand er sich in dem kleinen, kreisrunden Raum, in dem sie Rast gemacht hatten, nachdem sie Castor zurückgelassen hatten.

Bei dem Gedanken an den verstorbenen Jungen biss er sich schmerzhaft auf die Lippen.

„Ich wollte dich gerade wecken", murmelte die müde klingende Lyra neben ihm, während sie sich erhob. Sie hatte sich halb heruntergebeugt und ihre Hand einen halben Fuß über seiner Schulter in der Luft hängen lassen. „Du hast Wache", fügte sie hinzu und hielt sich die andere Hand prompt vor den Mund, um ein Gähnen zu verstecken.

„Gut. Danke. Geh schlafen", erwiderte er und setzte sich auf.

Lyra legte sich einige Fuß von ihm entfernt auf den Boden.

Unweit von ihr lag Calypso zu einer Kugel zusammengerollt und schlief den Schlaf der Gerechten. Ihr Haar lag wie ein ausgebreiteter Fächer hinter ihrem Kopf.

Eos blickte auf seine Arme hinab. Sie waren nicht mehr ganz so muskulös wie in seinem Traum und seine Stimme klang jugendlicher. Für einen Moment bereute er es, aufgewacht zu sein, aber dann erinnerte er sich daran zurück, was Hypnos gesagt hatte. Er könnte ihm einen erholsamen Schlaf mit einem guten Traum spendieren, aber dort hörte seine Macht den anderen Göttern gegenüber auf. Danke Hypnos, dachte er und schickte dem Gott ein kurzes Gebet hinterher.

Dann fiel ihm die Feder auf, die zwischen seinem Zeigefinger und Daumen der linken Hand steckte. Sie war weich und schneeweiß und beinahe bildete er sich ein, dass sie ein sanftes Licht von sich gab. Er fuhr mit dem Finger über das weiche Geschenk des Schlafgottes, dann legte er es sicher in Castors – jetzt seinen – Proviantbeutel.

Er war dem Gott wirklich zu Dank verpflichtet, dass er ihm diesen Traum geschenkt hatte. Eos' Wangen erröteten, als ihm einfiel, wovon dieser gehandelt hatte und er fragte sich unbewusst, woher Hypnos von seinen hintersten Gedanken und Wünschen wissen konnte.

Dass Calypso auf ihn eine gewisse Anziehung hatte, war ihm schon am ersten Tag aufgefallen, als er das erste Gespräch mit ihr geführt hatte. Aber woher konnte der Gott wissen, dass er immer schon davon geträumt hatte, auf den Olymp eingeladen zu werden? Vielleicht hatte er es ja in seinen vergangenen Träumen gesehen – dann wiederum fragte er sich aber, warum er sich gerade Eos' Wünsche und Träume merkte. Er war nicht der einzig schlafende Sterbliche und sicherlich nicht der einzige, der sich je in sein Reicht verirrt hatte.

Allen in Allem kam ihm Hypnos wie ein guter Gott vor. Er ging seiner Profession nach und hatte allem Anschein nach ein Herz für die Menschen, ansonsten würde er ihnen in schwierigen Zeiten nicht mit seinen Träumen helfen. Er fragte sich, ob er ihn jemals wiedersehen würde.

Während seine schlaflosen Stunden an ihm vorbeiglitten, als würde der Sonnenwagen des Apollo viel schneller als sonst durch den Himmel gleiten, versuchte er sich an jedes Detail seines Traumes zu erinnern. Die Statue der Athene, seine wunderschöne Heimat Athen, der Parthenon... alles verblasste langsam, doch er wollte diese Erinnerung behalten. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er sie sehen konnte.

Seine Gedanken wurden von einem Knurren unterbrochen.

Sofort war er alarmiert auf den Beinen, das Schwert fest zwischen den Fingern. Seine Augen fokussierten sich auf den Eingang, durch den sie den Raum betreten hatten und langsam schob er seine Füße zurück, bis er neben Lyra stand. Er stieß sie mit dem Fuß an, aber sie grunzte und schlug halbherzig mit der Hand zurück.

„Wach auf", zischte er und stieß noch einmal zu.

„Was is'", murrte sie mit müder Stimme und geschlossenen Augen.

„Ich hab was gehört", erwiderte er mit gesenkter Stimme. „Klang wie ein Knurren."

Jedwede Müdigkeit wich mit einem Mal aus ihrem Gesicht, als sie sich vorsichtig aufsetzte und lauschte. Sie hielt den Mund geschlossen und den Atem an.

„Ich höre nichts", murmelte sie.

„Da war definitiv etwas", sagte Eos und sog scharf die Luft ein.

Lyra zog die Augenbrauen zusammen, dann nickte sie knapp. „Wir gehen weiter. Wenn wirklich etwas war, dann werden wir es bemerken, sollte es uns folgen. Dann sind wir vorbereitet." Ohne auf seine Antwort zu warten, hob sie lautlos ihr Schwert vom Boden auf und robbte zu Calypso. Sie rüttelte an der Schulter des anderen Mädchens. „Wir müssen weiter. Eos meint, etwas gehört zu haben", erklärte sie ihr im Flüsterton und war dann auf den Beinen.

Calypso setzte sich verschlafen auf. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Sie wischte sich mit der Hand über den Mund und zog dann leise die Nase hoch. Es sah so aus, als hätte sie nicht viel geschlafen, dafür umso mehr geweint.

Im Moment konnte sich jedoch keiner der beiden anderen Zeit nehmen, um sie zu trösten. So schnell und leise sie konnten sammelten sie ihr Gepäck ein und liefen dann, immer wieder Blicke über die Schulter werfend, aus dem Raum und in den nächsten Gang hinein. Trotz ihrer Versuche, keine Geräusche zu machen, hallten ihre Schritte wie Paukenschläge im Echo wider und bei jedem von Eos' Schritten schlugen die beiden Schwertscheiden an seinem Gürtel klappernd gegeneinander. Er biss die Zähne fest aufeinander, hörte aber kein weiteres Knurren oder fremde Schritte, die einen Verfolger verraten würden.

„Vielleicht war es meine Einbildung", murmelte er langsam, als sie schließlich an der ersten Ecke angekommen waren.

„Und wenn schon", sagte Lyra. „Vorsicht ist besser als Nachsicht."

„Richtig", fügte Calypso mit dünner Stimme an und räusperte sich kurz und vernehmlich. Sie zog ihr Schwert hervor und fügte der Wand ein weiteres X hinzu, bevor sie sich aufmachten, dem linken Gang zu folgen.

Eos war sich nicht sicher, ob er etwas sagen sollte. Calypso sah so aus, als würde sie am liebsten im Gehen schlafen und Lyra hatte sich vor die beiden anderen gestellt, sodass sie ihre verkleinerte Gruppe durchs Labyrinth führte. Es war eine bedrückende Stille, die ihn schnell seiner durch den von Hypnos geschenkten Traum gewonnene Glückseligkeit beraubte. Sie alle spürten das fehlende Glied in ihrer Kette, auch wenn es nur kurz bei ihnen gewesen war.

Immer wieder drehte Eos sich um, in der vagen Hoffnung, das Echo anderer Schritte gehört zu haben, nur um dann enttäuscht zu sehen, dass kein aufgeregter und verängstigter Castor hinter ihnen lief, um sie einzuholen. Andererseits war es irgendwie beruhigend, dass ihnen der tote Junge nicht folgte. Die Vorstellung, dass er vielleicht durch den winzigsten, unmöglichsten Zufall überlebt haben könnte und nun in einem riesigen, leeren Raum erwachte, vollkommen allein und seiner Besitztümer geraubt, nahm ihm den Atem. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es für Castor wäre, sollte dieses Szenario eintreffen. Beinahe war er froh, dass der Junge wirklich tot war. Sofort danach verabscheute er sich für diesen Gedanken.

Es dauerte nicht lange, bis sie eine weitere Kreuzung erreichten. Calypso rammte ihr Symbol in die Wand und starrte es einen Moment länger an als zuvor. Ob sie denselben Gedanken bezüglich Castor gehabt hatte und nun ihre Wegmarkierungen offensichtlicher setzte, damit der Junge ihnen folgen könnte?

„Lasst uns geradeaus gehen", sagte Lyra. Sie hatte die Arme verschränkt und den mürrischen Blick verloren, den sie aufgesetzt hatte, seit sie den Raum verlassen hatten. „Wir sind bisher immer abgebogen."

„Nicht, dass es einen großen Sinn ergibt", erwiderte Calypso säuerlich.

„Wir wissen zumindest bei allen Gängen nicht, ob uns etwas an ihrem Ende erwartet", antwortete das andere Mädchen barsch.

„Gehen wir geradeaus", mischte Eos sich schnell ein, der keinen Streit mehr hören wollte. Er hatte genug davon. Streiten würde ihnen Castor nicht wiedergeben oder den Weg weisen.

„Schön", schnaubte Calypso, steckte ihr Schwert ein und verschränkte die Arme. Sie wartete, bis Lyra und Eos langsam vorgelaufen waren, dann folgte sie ihnen mit kräftigen Schritten, blieb aber stets hinter ihnen.

„Die kriegt sich wieder ein", murmelte Lyra ihm zu, als sie sein geknicktes Seufzen vernahm.

„Hoffentlich."

Dass sich Calypsos Laune in den nächsten Stunden besserte, konnte Eos nicht sagen. Er konnte nicht einmal sagen, ob sie wirklich Stunden unterwegs waren, oder ob er wenige Schritte bereits für vergehende Tage hielt. Er wusste, dass das Mädchen hinter ihm ab und an schnaubte, als hätte sie einen schlimmen Schnupfen und sie den Blick missmutig abgewandt hatte, als er einmal über die Schulter gesehen hatte. Den Mut, mit ihr zu reden und ihr die schmerzenden Gefühle zu nehmen, hatte er nicht. Er hatte das schlechte Gefühl, dass er sie im Stich gelassen hatte, als er Hypnos Geschenk angenommen und einen guten Traum geträumt hatte. Und nicht nur sie.

Er hatte Castor vergessen wollen. Den Jungen, der kurze Zeit zuvor von einem Gott ermordet worden war. Vor seinen Augen. Und alles, was Eos bisher mit seinem Andenken getan hatte, war, zu versuchen, es zu vergessen. Heiße Scham stieg in ihm auf, als er genauer darüber nachdachte und er krallte die Hände in sein Gewand. Er spürte, wie seine Augenwinkel anfingen zu brennen und schämte sich seiner Selbst noch mehr. Sein Vater würde ihm mit dem Rohrstock auf die Finger hauen, wenn er das wüsste.

Ein Knurren.

„Was war das?", fragten Calypso und Lyra gleichzeitig. Eine unangenehme, aufgeladene Stille legte sich über sie, als sie alle stehen blieben und die Ohren spitzten.

Eos' eigener Atem klang in seinen Gedanken wie ein tosender Orkan, der durch einen dichten Wald fegte und er fragte sich im selben Moment, ob es einen nahezu lautlosen Feind geben könnte, der sie verfolgte. Jemand, dessen Schritte sie unmöglich hören konnten. Er wandte sich langsam um und hielt den Atem an.

Sein Blick reichte kaum hundert Fuß, dann verschlangen die Halbschatten des Labyrinthes das Licht. Aber er war sich sicher, dass es dasselbe Geräusch gewesen war, welches er während seiner Wache vernommen hatte. Und es war ganz bestimmt kein Magenknurren gewesen.

„Zurück", flüsterte Lyra mit zarter Stimme und einen Moment lang war Eos so überrascht, dass sie überhaupt zu solch sanften Tönen fähig war, dass er den sich bewegenden Schatten nicht bemerkte.

„Oh, ihr Götter", hauchte Calypso mit flachem Atem und wich einige Schritte zurück, sodass sie neben ihm stand. Ihre Finger packten seinen Arm und ein Stoß durchzuckte seinen Körper, als hätten Zeus' Blitze ihn getroffen.

Ihre Berührung brachte seine Sinne zurück und er sah, was sie auch gesehen hatte.

Aus dem Halbschatten, der ihnen die Sicht genommen hatte, ragte ein fauchendes, geifertropfendes Maul mit Zähnen so lang wie ein Unterarm. Die schwarze Schnauze schnüffelte angeregt in der Luft, dann nahm es ihren Geruch auf und der Besitzer des Mauls trat weiter auf sie zu.

Vier mit schwarzem Fell bewachsene, muskulöse Beine traten ins Licht, die jedes ein paar von drei schrecklichen Klauen mit sich führten. Dasselbe Fell spross auch aus einem Körper so groß wie mehrere ausgewachsene Männer. Unter den kurzen Haaren war ein breiter Brustkorb zu erkennen, sowie eine schlanke Taille, die in ein in die Luft gehobenes Hinterteil endete, an dessen Ende ein peitschender Schwanz mit schwarzem Fellbüscheln in der Luft umherzuckte. Die schnuppernde Schnauze samt tödlich aussehendem Maul war Teil eines großen Kopfes, der von einer goldenen Schicht Fell umrahmt wurde, wovon jedes Haar abstand, als wäre es fest und spitz wie eine Nähnadel. Gelbe, gierige Augen zuckten wild zwischen den zu Stein erstarrten Kinder hin und her, als das gesamte Ausmaß des Löwen erblicken, der aus den Schatten getreten war und seinen Fokus auf seine Beute gelegt hatte.

„Keine. Hektischen. Bewegungen", flüsterte Eos so leise er konnte und versuchte den Mund nicht allzu sehr zu bewegen. „Wir müssen langsam zurück. So langsam, wie es geht."

Calypsos Atem war zu einem schnappenden Luftholen geworden und er befürchtete, sie würde vor Angst etwas Dummes tun. Weglaufen zum Beispiel. Dann wären sie nämlich alle drei geliefert.

„Beruhige dich", hauchte Lyra mit leiser, gleichmäßiger Stimme hinter ihnen. „Du darfst es nicht erschrecken."

Einen schrecklichen Augenblick lang atmete sie weiterhin hektisch und unkontrolliert, dann sog sie scharf die Luft ein, hielt sie für einen Moment und ließ sie dann langsam und ruhig wieder raus. Ihre Fingernägel bohrten sich nicht länger in Eos' Haut und er konnte sein zugekniffenes Auge öffnen.

Der Löwe starrte die drei Kinder lediglich an. Seine gelben Augen stierten zwar wild durch die Gegend, aber langsam vermutete der Junge, dass das Tier blind und auf Hören und Riechen angewiesen war, um seine Beute aufzuspüren.

„Zurück", wisperte der Junge, hob seinen rechten Fuß nur einen Hauch von einem Millimeter an und setzte ihn einen halben Schritt zurück. Er wartete einen viel zu ruhigen Augenblick lang mit angehaltenem Atem, dann zog er den linken Fuß mit sich.

Eos wünschte sich in diesem Moment nichts weiter, als dass das alles ein Teil seines Traums war.

Auch, als er sich mit dem Zeigefinger und Daumen in den Arm kniff und so lange an seiner Haut drehte, bis sie sich rot und gereizt war, stand er noch immer in dem lichtarmen Gang und einer wahren Albtraumbestie gegenüber, die wild mit den Krallen über den Steinboden kratzte. Vorsichtig wagte er einen weiten Schritt zurück. Dann noch einen.

Der riesenhafte Löwe bewegte sich nicht vom Fleck, aber seine Schnauze zitterte in der Luft, als er die Angst seiner Opfer roch. Den gelben, hungrigen Blick hatte er genau auf den Jungen gerichtet, der sich langsam nach hinten schob.

„Zu schnell", zischte Lyra fast lautlos, als Eos den Fuß über den Boden schob und dabei ein schabendes Geräusch verursachte. Er hielt wie erstarrt inne, als sein Herz für einen Moment stehenblieb. Der dicke Kloß in seinem Hals machte das Atmen zu einer Tortur und seine Finger zitterten viel zu schnell. Eine falsche Bewegung, ein zu schneller Schritt und er wäre dem wahrhaftigen Löwen zum Fraß geliefert.

„Geh zurück", wisperte er Calypso zu, die sich, seit die Bestie aus den Schatten getreten war, nicht mehr bewegt hatte. Ihre Brust hob und senkte sich zwar nicht mehr rapide und panisch, aber sie war dennoch an Ort und Stelle festgefroren; unfähig, einen einzigen Schritt zu tun, aus Angst, das Löwenmonster würde sie dann anspringen und sein Krallengespann in ihrem Fleisch versenken.

„Calypso", redete Lyra drohend und hauchend auf sie ein, ihre Stimme ein nervliches, zitterndes Wrack.

Ein leises, metallisches Klirren und der Löwe ließ ein lautes Fauchen vernehmen. Sein Kopf huschte in ihre Richtung und er fletschte die Zähne. Der widerliche Speicher tropfte von seinem Kinn.

„Nicht bewegen", zischte Eos wie ein Windhauch.

Die Luft knisterte vor Anspannung. Es brannte in seinen Ohren, jedes Haar an seinem Körper war aufgerichtet und seine Finger bebten.

Das viel zu große Raubtier schnüffelte lautstark und schob seine Vorderbeine nach vorne. Die Krallen hinterließen zwar keine Spuren auf dem Stein, aber das Geräusch, welches sie verursachten, schickte einen eiskalten Schauer Eos' Rücken hinab. Der Löwe streckte sein Hinterteil noch höher in die Luft, fauchte und sein Schweif peitschte durch die Gegend.

Einen Augenblick bevor der Löwe zum Sprung ansetzte, riss Eos Calypso mit sich zu Boden.

Das Tier flog eine handbreit über ihre Köpfe hinweg und landete lautlos mit seinen Pfoten auf dem Stein hinter ihnen. Sein Knurren hallte laut im Gang wider. Das Echo klirrte in ihren Knochen. Geifer tropfte in eine widerliche Pfütze auf dem Boden und der Löwe leckte sich mit der langen, rosafarbenen Zunge über die rasiermesserscharfen Zähne.

„Lyra?", rief Eos, wirbelte herum und packte sein Schwert. Die Schwertscheiden klapperten laut gegeneinander.

„Ich bin okay!", schrie sie und er konnte ihren rotbraunen Haarschopf erkennen, als sie einige Schritte hinter dem Löwen auf die Beine kam.

Es bedarf keiner weiteren Worte, damit sie alle wussten, was sie zu tun war. Jetzt, da das Tier wusste, dass sie da waren, gab es keine Möglichkeit mehr zu flüchten. Der Löwe würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit überholen und dann wären sie geliefert, egal, wie schnell und weit sie rennen würden. Ihr einziger Vorteil war, dass sie ihn unwissentlich umzingelt hatten.

„Steh auf", zischte Eos und stellte sich breitbeinig vor Calypso. „Komm schon, reiß dich zusammen!"

Lyra klapperte erneut – wie er nun feststellte – mit dem Dolch an ihrer Schwertscheide und der Löwe streckte den riesigen Kopf in die Luft. Seine Ohren zuckten aufgeregt hin und her. Der heiße Atem, den es mit jedem Hecheln ausstieß, brannte in Eos' Augen und kitzelte unangenehm in seiner Nase.

Ein tiefes, kehliges Knurren verließ das Maul des Löwen und er wandte den Körper herum, sodass sein Hinterteil mit dem peitschenden Schweif samt Fellbüschel nun in Eos' und Calypsos Richtung zeigte.

„Warte", flüsterte Lyra so leise, wie sie konnte. „Auf mein Zeichen greift ihr an." In ihrer ruhigen Hand hielt sie den reich verzierten Dolchgriff umschlungen. Die Klinge glänzte im sanften Schein des Labyrinthes. Ihr wütendes, beinahe aggressives Gesicht lag im Halbschatten. In diesem Moment wirkte sie wie eine ebenso große Gefahr wie der Löwe selbst.

Eos wusste nicht, worauf sie wartete, aber er hielt die Füße still.

Der Löwe stierte das kämpferische Mädchen vor ihm an.

Ein leises Rascheln verriet ihm, dass Calypso hinter ihm auf die Beine gekommen war. Sie schob sich langsam an seine Seite, ihr eigenes Schwert sicher zwischen ihren Fingern. Ihr ganzer Körper bebte und die blauen Augen wirkten auf einmal viel zu riesig für ihr Gesicht.

„Langsam", murmelte Lyra mehr zu sich selbst. „Ganz langsam." Während sie sprach, schob sie ihre Füße zurück. Den Dolch hatte sie weit vor sich gestreckt und jedem ihrer Schritte folgte ein leises Knurren.

Der Löwe verlor die Geduld mit seiner Beute.

„Gleich."

Während sich eine angespannte Gänsehaut über seinen ganzen Körper zog, sammelten sich Tränen in seinen Augen, weil er sich weigerte, zu blinzeln. Ein Moment der Unachtsamkeit könnte einem weiteren Kameraden das Leben kosten und das könnte er sich noch weniger verzeihen. In der letzten Gefahrensituation hatte er nichts tun können. Er war gefesselt und stumm gewesen. Hatte nur zusehen können.

Das würde nicht erneut passieren. Solange er ein Schwert in der Hand halten konnte, würde er kämpfen und sei es das Letzte, was er in diesem vermaledeiten Loch tun würde.

„Auf mein Zeichen", zischte Lyra und ließ ihren Fuß auf den Boden krachen.

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