17.2 Ékstasi - Trance
Er hatte so etwas zuvor noch nie gesehen, geschweige denn davon gehört, vermutete aber, dass es, genau wie der Adler, nicht aus Fleisch und Blut bestand.
Der Körper des Monsters bestand aus hunderten Bronzeplatten, die sich gegenseitig bedeckten und damit ein Schuppenmuster bildeten. Zwischen ihnen stob bei jedem Schritt Rauch aus. Das Ding stand auf zwei kräftigen breiten Oberschenkeln, die in Klauen endeten, die so lang wie ein Mann waren. Sie waren unglaublich spitz, tödlich und glänzten im Feuerschein wie Silber. An der Seite seines Körpers befanden sich zwei armähnliche Gebilde, die mit silbernen und bronzenen Platten bedeckt waren, allerdings nicht breiter als ein junger Baum waren. Sie waren mit kugelförmigen Gelenken am Körper angebracht. Auch an ihren Ende glänzten Klauen. Eine Handbreit über diesen Armen kratzten die Flügel gegen den Stein. Sie erinnerten Taras im ersten Moment an Fledermausflügel, allerdings bezweifelte er, dass die Zwischenräume ebenfalls dünn und nur mit einer feinen Haut bedeckt waren. Zwei lange Streben führten vom Körper weg und in regelmäßigen Abständen spreizten sich drei weitere Metallstifte nach unten ab. Diese Zwischenräume wurden bis zur Flügelspitze mit ebenfalls bronzenen Platten aufgefüllt, allerdings waren diese größer und nicht schuppenartig angeordnet, sondern aneinandergesteckt. Der Kopf dieser Bestie bestand aus einem langgezogenen Metallbolzen, mit zwei Silbersteckern als Augen und einem weit aufgerissenen Maul. In dessen Inneren brodelte und loderte es.
„Was bei Zeus ist das?", hauchte Taras und stolperte einen Schritt zurück. Das Monster richtete seine Silberaugen auf ihn.
„Ist doch egal", knurrte Orion. „Lasst es uns vernichten."
Aigis nickte und zog einen Pfeil aus ihrem Köcher.
„Ziel auf die Augen. Verschwende keinen Pfeil", sagte Orion mit ruhiger Stimme mit einem Seitenblick auf ihren nur zur Hälfte gefüllten Köcher. Zur Antwort nickte das kleine Mädchen.
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, stürmte der ältere Bruder vor, das Schwert fest zwischen beiden Händen. Er schlängelte sich zwischen den Beinen der Bestie durch, wurde dann allerdings mit etwas begrüßt, was zuvor durch die schiere Masse an Körper verdeckt gewesen war. Ein metallener, beweglicher und ziemlich schneller Schweif peitschte Orion entgegen. Er warf sich auf den Boden und wurde nur um Haaresbreite verfehlt.
Taras wartete nicht lange auf eine Einladung, sondern packte seine eigene Waffe und rannte seinem Bruder hinterher, machte allerdings den Fehler, sich an der Wand entlang zu quetschen. Wäre das Monster nur ein wenig schneller gewesen, hätte es ihn zwischen den Steinplatten und seinem bronzenen Oberschenkel zerdrückt. Rauch stieß ihm ins Gesicht und hustend fiel Taras auf die Knie.
Mit einem lauten Röhren schickte die bronzene Bestie ihr Maul in die Höhe und stieß eine heiße, orangefarbene Flamme gen Decke.
Die aufkommende Hitze verbrannte Taras die Haare auf seinen Armen und trieb ihm den Schweiß in die Augen. Alles um ihn herum schien in Flammen gehüllt und mit einem panischen Schrei warf er sich auf den Boden, als das Ding den Kopf senkte und einen Feuerstrahl Richtung Aigis warf.
„Weg da!", brüllte Orion, der die Arme über dem Kopf geworfen hatte.
Aigis allerdings hatte rechtzeitig reagiert und war dem tödlichen Ball aus Flammen ausgewichen, indem sie sich zur Seite geworfen hatte.
Das mechanische Wesen war allem Anschein nach diesem Angriff für einen Moment paralysiert. Dampf und Rauch quoll aus seinem Maul und den Schuppen hervor, verdickte die Luft und brannte in Taras' Augen. Mit einer zuckenden Bewegung hob das Ding sein rechtes Bein an.
Der Junge rollte sich an ihm vorbei und landete neben seinem Bruder. Orion zeigte mit seiner Schwertspitze auf den peitschenden Schwanz. „Zerstör ihn!", rief er ihm ins Ohr und Taras nickte mechanisch.
Orion hingegen rappelte sich wieder auf und nutzte den Moment, in dem die Bestie nicht angreifen konnte. Er rammte dem Biest sein Schwert immer wieder zwischen die Gelenke seiner Flügel. Metall knirschte auf Metall und das quietschende Geräusch ließ Taras schmerzhaft ein Auge zusammenkneifen. Sein Bruder gab einem der Flügel einen weiten Schwung mit dem Schwert, dann ließ er es wieder auf das Gelenk niederkrachen.
Was immer Orion sich davon erhofft hatte, trat allem Anschein nach nicht ein, aber Taras kümmerte sich in diesem Moment mehr darauf, nicht von dem Schwanz des Monsters erwischt zu werden, dessen metallenes Gewicht ihn sicherlich nicht nur mit einem blauen Fleck davonkommen lassen würde.
Der Junge packte den Griff seines Schwertes etwas fester, ignorierte den Schmerz durch das kaputte Material und rammte die Spitze seiner Waffe in die dickste Stelle des Schwanzes. Bei einem normalen Tier wäre die Haut nun durchtrennt und das Fleisch zerschnitten gewesen, aber das schuppenbedeckte Ungeheuer schien es gar nicht bemerkt zu haben, dass die beiden Brüder sich an dessen Körper zu schaffen machten. Sein Kopf machte eine zuckende Bewegung, wie sein Bein zuvor und als Taras siegessicher dachte, sie hätten vielleicht lebenswichtige Organe durch ihre Angriffe verletzt, riss das Untier sein Maul auf und stieß ein fürchterliches Brüllen aus.
„Deckung!", ertönte Aigis' Stimme aus ihrer Reichweite und einen Moment später landete ein Pfeil direkt im Rachen des Bestienmauls. Es gab ein lautes, metallisches Geräusch, als würde ein Stein auf eine Klinge stürzen, dann wandte das bronzene Monstrum seinen Kopf herum.
„Das hat nichts gebracht!", brüllte Orion. „Die Augen! Schieß auf die Augen!"
„Ich versuch es ja!", erwiderte das Mädchen schreiend und fischte einen weiteren Pfeil hervor. „Es ist zu sehr in Bewegung!"
Taras befürchtete, dass sie keine Möglichkeit bekommen würde, dem Ding in die Augen zu schießen, wenn die Brüder es nicht wie den Adler zuvor auf dem Boden festzusetzen. Diese Bestie war allerdings weitaus größer, bedrohlicher und monströser als der bronzene Vogel. Der Zweifel, ob sie es überhaupt schaffen konnten, die Bestie zu töten, war ihm gerade allgegenwärtig.
„Wir sollten einfach rennen!", rief der Junge. Er zog sein Schwert ächzend aus dem Schweif der Bestie. „Es ist langsam!"
„Und spuckt alles verbrennende Feuerbälle", erwiderte Aigis lauter, gefolgt von einem spitzen Schrei, als die Bestie einen Schritt auf sie zu tat und die Erde krachte.
„Sein Kopf ist zu hoch, um uns zu treffen!", schrie er zurück. „Wenn wir schnell genug sind, erreichen wir sicherlich das Ende des Ganges!"
Orion tauchte schwer keuchend neben ihm auf. „Bist du sicher?", fragte er außer Atem und wischte sich über die Stirn. „Denn ich möchte wirklich keinen gegrillten Bruder haben."
„Können wir sowas großes denn töten?", erwiderte Taras atemlos. „Es zerdrückt uns nur mit seinem Fuß."
Der andere Junge kniff die Augen zusammen. „Scheiße", murmelte er leise. „Aigis, wir fliehen!", fügte er dann lauter hinzu.
„Liebend gern!", schrie sie zurück.
Taras konnte zwischen den Beinen der Bestie hindurchblicken und sehen, dass das Mädchen ihren Bogen schulterte und dann die Beine in die Hand nahm. Sie schlängelte sich an dem Monster vorbei, welches einen Moment zu lange benötigte, um zu realisieren, dass sein Ziel verschwunden war.
„Los, los, los!", rief Orion und zog seinen Bruder mit sich. Er stolperte kurz, wich dann dem peitschenden Schweifhieb der bronzenen Bestie aus und hielt den Kopf unten, während er rannte. Das schuppenbedeckte Biest brüllte laut auf, als es endlich mitbekam, dass Aigis nicht mehr vor ihm stand und seinen Angriffen auswich.
Die nächste Feuerbrunst krachte in die Decke und Rauch erfüllte den Gang, als die Bestie den Kopf herumriss, aber das Maul nicht schnell genug in ihre Richtung bewegen konnte. Der ganze Tunnel fing an zu beben und zu zittern, Staub rieselte auf ihre Köpfe und Dampfschwaden schossen an ihnen wie Nebelgeschosse vorbei. Funken stoben in alle Richtungen und das bronzene Biest schickte einen weiteren Schrei wie einen Todesfluch in ihre Richtung, während Flammen auf es herunterregneten. Das metallene Kratzen, als seine Flügel an den Wänden schliffen, ertönte wieder, während Taras mit Orion und Aigis davonrannte.
„Das war knapp!", rief Orion über den Windzug, der an Taras' Ohren vorbeirauschte.
„Ich bin nur froh, dass es uns nicht erwischt hat", erwiderte der Junge mit stechendem Schmerz.
Das Röhren der feuerspuckenden Bestie verklang langsam aber sicher hinter ihnen, bis es bald nur noch ein grausames Echo aus der Ferne war und sich in ihre Erinnerungen als Albtraum hinter dem Rauchvorhang einbrannte. Sie gaben sich allerdings erst die Blöße einer Verschnaufpause, als sie sich wirklich sicher waren, dass das donnernde Biest sie nicht verfolgte.
„Wir sind sicher", schnaufte Orion eine halbe Ewigkeit des qualvollen Flüchtens später, hielt sich die Seite und sank dann an der Mauer nieder. Sein Gesicht war rot und schweißüberströmt, er schloss die Augen und öffnete den Mund zum schnellen, flachen Atmen.
„Vorerst", fügte Aigis hinzu und legte sich beide Hände aufs Gesicht.
Taras dankte im Stillen den Göttern, dass sie sie sicher geleitet hatten, dann ließ er sich vollkommen erschöpft aber erleichtert neben seinem Bruder nieder und lehnte sich an dessen heißen Arm. Er genoss diese Berührung, denn sie zeigte ihm, dass sein Bruder lebte und dass sie beiden in Sicherheit waren.
„Was erwartet uns noch alles hier?", murmelte Orion für sich selbst und legte den Kopf in den Nacken. Er sah so unglaublich müde aus.
Manchmal vergaß er, dass sein Bruder ein Kind war.
Mit der Zeit vergingen ihr keuchender Atmen und wich dem sanften Luftholen. Das Echo, das sie in der Ferne begleitet hatte, war verklungen und um sie herum hatte sich wieder Stille eingefunden, gelegentlich von einem Seufzen oder Gliederscharren unterbrochen.
Orion hatte seine Beine ausgestreckt und aus seinem Beutel mit Proviant einen Apfel gefischt, den er mit etwas Wasser herunterwürgte. Er hatte sich wieder etwas zur Seite gelehnt, sodass ein wenig Abstand zwischen die beiden Brüder gefallen war. Mittlerweile knabberte er nur noch an dem Apfelgehäuse herum, riss ab und an ein paar Sehnen des Fruchtfleisches heraus, war aber offensichtlich mit den Gedanken in einer anderen Welt.
„Was ist, wenn wir den Ausgang nicht finden?", fragte Aigis plötzlich und blickte auf. Ihre Augen zitterten. „Werden wir dann einfach –"
„Wir finden ihn", unterbrach Taras sie hart. „Guck dir nur an, was wir schon alles überstanden haben. Einen Ausgang finden kann da doch wirklich die geringste Hürde sein, hm?"
„Aber dieses Labyrinth", fing sie mit zitternder Stimme an. „Es ist riesig. Und – und es hat einen eigenen Willen, oder nicht?"
Orion blickte auf. „Wie kommst du darauf?", fragte er und ließ sein Apfelgehäuse sinken.
„Zuerst dieser schwarze Gang", erwiderte sie. „Wir waren eine halbe Ewigkeit darin. Und am Ende stellte sich heraus, es waren nur wenige Meter. Aber irgendwas hat dafür gesorgt, dass er endlos lang erscheint. Dann war da Phobos", fügte sie murmelnd hinzu und wandte den Blick zur Seite. „Und jetzt dieser Gang! Wir sind ihm gefolgt und er wollte nicht enden. Es hat uns gezwungen, an dieser Bestie vorbeizukommen."
„Aber wieso gehst du dann davon aus, dass es das Labyrinth selbst war?", fragte Taras sie.
Aigis wirkte gequält, als sie ihre Hände langsam anhob und auf ihre Finger starrte. „Es ist einfach ein Gefühl. Es kommt mir so vor, als würden wir es verärgern."
„Du kannst ein Steingebilde nicht verärgern", schnaubte Orion und warf den abgeknabberten Rest seines Apfels beiseite. Es fiel mit einem leisen, dumpfen Geräusch zu Boden und kullerte ein paar Schritte weiter, ehe es an Kraft verlor und reglos liegenblieb. „Siehst du. Nichts passiert."
„Ich weiß, was du meinst", erwiderte der jüngere Bruder langsam und fügte dann schnell hinzu: „Aber ich glaube irgendwie nicht, dass es das Labyrinth selbst ist, sondern vielmehr die Kraft, die es beherbergt."
„Wie meinst du das?" Aigis blickte ihn aus großen, verwunderten Augen an.
„Wir wissen, dass Dädalus hier nicht allein gebaut hat", fing er an. „Er hatte auf jeden Fall Hilfe von Hephaistos. Außerdem können die anderen Götter hier wie es scheint auch ein und aus gehen, wie sie es belieben."
„Das ist, weil sie Götter sind", brummte Orion und verschränkte die Arme. „Das hat nichts mit dem Labyrinth zu tun."
„Vielleicht nicht", meinte Taras und nickte. „Aber vielleicht doch. Jedenfalls glaube ich eher, dass sich mehr die Macht in diesem Bauwerk gegen uns verschwört, als dass es das Labyrinth selbst tun würde. Wenn Hephaistos hier wirklich mitgebaut hat, dann ist wohlmöglich ein Teil seiner Macht in den Steinen erhalten geblieben."
„Du meinst also, dass uns Hephaistos' Macht versucht umzubringen?", fragte Aigis leise und drückte ihren Rücken von der Steinmauer weg.
„Nein, nicht umbringen", erwiderte der Junge. „Ich glaube nicht, dass seine Macht dafür eigenständig genug ist. Aber wenn meine Vermutung stimmt, dann leitet sie einige Dinge hier. Wahrscheinlich nur zufällig."
„Das ist Schwachsinn", entgegnete Orion ihm barsch. „Wenn das stimmen sollte, dann hätte sie uns schon längst in eine Fallgrube geführt oder schlimmeres."
„Aber wir sind bisher immer mit dem Schreck davongekommen", antwortete Taras.
„Durch Glück", erwiderte sein Bruder. „Und nicht durch irgendeine göttliche Macht, die in den Steinen schlummert. Wenn ich einen Schuldigen suche, den ich für diese ganze Misere hier verantwortlich machen will, dann steht er über uns." Orion hob seine Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Decke. „König Minos von Kreta. Niemand anderes als dieser Mann ist schuld daran, dass Dädalus und Hephaistos dieses Labyrinth überhaupt erst gebaut haben."
Seine Miene verdunkelte sich und er blickte seinen Bruder und Aigis nacheinander herausfordernd an, als wollte er, dass sie ihm widersprechen würden.
„Minos ist schrecklich", flüsterte Aigis leise.
„Sag ich ja."
„Aber er ist nicht allein hierfür verantwortlich", fügte sie hinzu und Orion stockte. „Die Götter haben ihn nicht gestoppt. Sie haben ihn unschuldige Kinder seinem Monster zum Fraß vorwerfen lassen. Haben nichts getan, um ihn aufzuhalten, haben ihm sogar geholfen. Und jetzt missbrauchen sie ihre Macht weiter und quälen uns mit Terror und Schrecken. Nur, damit sie vielleicht einen neuen Helden bekommen." Das Mädchen drückte ihre Fäuste fest an den steinernen Boden und knirschte mit den Zähnen.
„Ich halte es für eine Ehre", sagte Orion leise und mit gequältem Gesichtsausdruck. „Die Götter beobachten und testen uns. Sie wissen, dass es einer von uns bis zum Olymp schaffen kann. Vielleicht wird einer von uns irgendwann selbst einmal ein Gott."
„Genau damit locken sie uns immer", erwiderte Aigis. „Mit Macht und Reichtum. Du bist mitgekommen, um deinen Bruder zu beschützen. Aber auch wegen des Goldes, richtig? Du willst, dass man euch beiden in Gold aufwiegt, damit ihr reicht seid."
„Na klar! Wer würde nicht gerne –", fing Orion aufgeregt an, aber stockte, als er Taras bemerkte, der mit offenem Mund aufstand.
Die Stimme seines Bruders verklang im Echo, als ein lieblicher Gesang seine Ohren erfüllte. Er konnte die Stimme keiner ihm bekannten Person zu ordnen, er wusste nur, dass er unter allen Umständen zu diesem Gesang gelangen musste. Mit lahmen Bewegungen torkelte Taras den Gang entlang und stieß dabei das Schwert Orions um, welches an der Wand gelehnt hatte. Das klirrende Geräusch, das ertönte, als Metall auf Stein aufschlug, nahm er nur als leises Fiepen in seinem Ohr wahr. Nur aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Aigis ebenfalls aufstand und mit offenem Mund und glasigen Augen hinter ihm her ging.
„Schön", murmelten sie beide unisono und ließen ihre Stimmen wie einen Windhauch vergehen, um nichts von dem wunderschönen Gesang zu verpassen, der den Gang wie ein ganzes Orchester ausfüllte. So musste es sich anhören, wenn eine Muse zu ihm singen würde, dachte er mit langsam pochendem Herzen und schloss für einen Moment die Augen, als der Gesang einen hohen Ton erreichte und ihn anhielt.
Orions Stimme drang nicht zu ihm durch. Seine Ohren waren mit Schafswolle ausgefüllt, glaubte er, die nur den lieblichen Singsang hindurchließen. Er musste zu ihm. Koste es, was es wollte. Er musste die Person treffen, die so sang. Alles andere war egal. Er brauchte keinen Bruder und keine Familie, kein Gold, keine Macht, kein Leben – er musste nur diese Sängerin treffen.
„Warte auf mich", murmelte er ohne die Lippen zu bewegen und taumelte ein paar Schritte weiter, beschleunigte seine Schritte. Taras spürte eine Hand auf seiner Schulter, die ihn zurückziehen wollte, aber er schüttelte sie einfach ab. Nichts würde sich zwischen ihn und die schönste Melodie der Welt stellen. Nicht einmal die Götter könnten ihn aufhalten.
Sein Bruder zog an seinem Arm und obwohl er mindestens doppelt so stark war wie er, hatte er keine Möglichkeit, ihn von dieser Musik fernzuhalten. Seine Beine trugen ihn automatisch immer näher an die Quelle des Gesangs heran. Hinter der nächsten Ecke würde sie sein. Die schönste Stimme überhaupt. Die wunderbarste Sängerin der Welt. Sein einziger Hoffnungsschimmer in dieser Welt voll Dunkelheit. Einzig ihr Gesang gab ihm Kraft. Er würde alles für sie aufgeben. Wenn sie singen würde, er solle seinen Bruder erdrosseln, dann würde er sofort umdrehen und seine Hände um Orions Kehle legen.
Alles in ihm verzehrte sich nach dieser Melodie. Sanft und voller Liebe verklang sie in der Luft. Nur wenige Meter, dann würde er sie sehen.
Sie war direkt vor ihm. Hinter dieser Ecke. Er spürte es. Seine Zukunft wartete und sang für ihn.
In seinem Kopf erklang nur ein dröges Rauschen, als er sie erblickte. Die wunderschönste Frau, die diese Welt je gesehen hatte, kam mit langsamen und anmutigen Schritten auf ihn zu. Sie war schöner als Hera, schöner als Persephone und noch tausendmal schöner als Aphrodite selbst. Ihre vollen, roten Lippen waren zu dem herrlichsten Lächeln dieser Welt verzogen, während sie sang und aus ihren bronzefarbenen Augen strahlte die Sonne, als sie ihn erblickte.
Mit jeder weiteren Note, die sie sang, versank Taras ein wenig mehr in ihrer Welt und ihrer Schönheit. Seine sterblichen Augen konnten sie nicht komplett erfassen. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen, wurde es noch schöner. Als wäre sie im konstanten Wandel der Welt gefangen und nur ihre Stimme würde ihr einen Körper geben. Taras würde alles tun, damit sie für ihn singen würde. Nur für ihn und für immer. Sie sollte niemals aufhören. Wenn sie je aufhören würde für ihn zu singen, dann würde er sterben. Sein Inneres würde in Flammen aufgehen und er würde vergehen vor Schmerz.
Als die Frau ihm ein sanftes Lächeln schenkte, verlor er sein Herz. Mit schwankenden Schritten eilte er auf sie zu und wollte die Distanz zu ihr so schnell wie möglich überwinden. Das metallische Geräusch, welches jedes Mal erklang, wenn sie einen vorsichtigen Schritt auf ihn zumachte, irritierte ihn nicht einmal.
Orion tauchte vor seinem Gesicht auf, aber Taras nahm ihn kaum war. Er blickte an seinem Bruder vorbei und ignorierte, dass er den Mund aufgerissen hatte und ihn offensichtlich anschrie. Er konnte ihn über die wunderschöne Musik eh nicht hören. Als der Junge an seinem Arm zog, musste Taras all seine Stärke aufwenden, um ihn abzuschütteln. Er konnte es sich nicht leisten, von seiner Herzdame getrennt zu sein. Sicherlich würde sie traurig sein und aufhören zu singen, wenn er nicht bei ihr sein könnte.
Mit einem kräftigen Hieb schlug er seinem Bruder den Arm zur Seite und ging schneller. Aus dem Augenwinkel konnte er ausmachen, wie Orion sich mit wütendem und panischem Blick aufrappelte.
Seine Muse lockte ihn mit einem süffisanten Grinsen an und holte dann tief Luft, um einen hohen Ton zu halten. Ihre Stimme klang wie klirrendes Eis in seinen Ohren, sanft, melodisch, kühl und wunderschön. Er konnte ihr nicht widerstehen. Er musste zu ihr. Musste sie berühren.
Ein dumpfer Schrei drang an seine Ohren, aber er konnte nicht ausmachen, von wem er kam. Vielleicht hatte sein Bruder endlich eingesehen, dass er sich nicht zwischen ihn und seine Angebetete stellen konnte. Sicherlich hatte er seinen Neid überwunden und endlich das Glück akzeptiert, das sein Bruder gefunden hatte.
„Ja", murmelte Taras leise und streckte seine Arme aus. „So schön." Er versuchte seine Finger so lang wie möglich zu machen, damit er sie endlich berühren könnte. Ihre Augen strahlten ihn an. Strahlten nur für ihn. Strahlten, als wären sie die Sonne selbst, als hätten sie all die göttliche Magie der Welt in sich aufgesogen.
Orion stürmte vor und zog sein Schwert. Mit einem weiten Schlag versuchte er seine Herzdame zu erstechen, doch bevor Taras empört aufkeuchen konnte, schlug sie aus. Ihre Hand hinterließ dunkelrote Striemen auf Orions Gesicht und er taumelte zurück. Augenscheinlich hatte er seine Eifersucht aber nicht besiegt, denn er stürmte erneut vor. Seine Klinge stieß vor und er rammte sie der schönen Muse in die Seite.
Sie verzog keine Miene. Stattdessen lächelte sie während des Singens breiter, sodass ihre Mundwinkel einrissen und schwarzes Blut ihr Kinn hinuntertropfte. Taras riss die Augen auf, als er die Verletzung seiner wunderschönen Herzdame erblickte.
Erneut erklang ein Schrei, dieses Mal etwas weniger dumpf und Taras erkannte, dass es sich um seinen Bruder handelte. Er klang aggressiv und wütend. Sein Schwert stieß immer wieder vor und stach der Sängerin in den Bauch. Sie versuchte ihn wegzustoßen, aber er wich jedem ihrer weiteren Schläge aus.
„Hör auf", murmelte der Junge, als seine Muse für einen Moment aufhörte zu singen. Ihre Stimme kratzte, klang blechern und eisig. „Lass das..."
„Verdammt, beruhige dich!", brüllte Orion an seinem Ohr und drückte ihn zurück. Dieses Mal hatte er nicht die Kraft dem Griff seines Bruders zu entkommen.
Orion schubste ihn zurück, hob sein Schwert hoch über den Kopf und ließ es dann mit rasender Geschwindigkeit nach unten fallen. Es durchbohrte den Kopf der Muse mit einem Hieb und mit einem Mal hallten alle Geräusche auf Taras ein.
Ein blecherner Schrei. Das Klirren von Metall auf Stein. Knackende Bronzegelenke. Ein schmerzvolles Stöhnen.
Stechender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Kopf und Taras sank mit zusammengekniffenen Augen auf die Knie. „Aaahrg", murmelte er leise und hielt sich die Hände an die Schläfen.
„Na endlich", keuchte Orion an seiner Seite. Der Junge öffnete die Augen und blickte erst seinen Bruder und dann auf die Frau.
Nur war dort keine Frau mehr. Statt einem schönen Gesicht mit vollen, geschwungenen Lippen und bronzenen Augen lag dort ein metallenes Wesen mit bronzefarbener Haut. Dampf strömte aus ihrem zerstörten Kopf, der bei näherer Betrachtung überhaupt nicht schön war. Fast der größte Teil des Gesichtes wurde von einem weit aufgerissenen Mund eingenommen, dessen Inneres mit kleinen, scharfen Messerspitzen versehen war, die kreisförmig angeordnet waren. Statt Armen hatte sie lange, schartige Flügel mit tödlich aussehenden Klauen.
„Seid ihr wieder bei Sinnen?", fragte Orion und ließ sich keuchend auf den Boden sinken.
„Was ist –", fing Aigis leise an, von der Taras nicht mitbekommen hatte, dass sie ihm gefolgt war, stockte aber und hielt sich ebenfalls den Kopf.
„Dieses – Ding hat euch betört", knurrte der Junge. „Ihr seid wie in Trance auf es zugelaufen."
„Sieht aus – es sieht aus wie eine Sirene", sagte das Mädchen leise und schreckte zurück, als etwas Dampf aus dem offenen Mund strömte.
„Warum wurdest du nicht betört?", fragte Taras seinen Bruder. Er war überrascht, als er die tiefroten Wangen Orions bemerkte, ehe er den Kopf abwenden konnte.
„S-Sirenen sollen nur Menschen anlocken können, die keine romantischen Gefühle für jemanden hegen", murmelte er leise.
Taras öffnete überrascht den Mund, schloss ihn wieder und wiederholte diese Prozedur ein weiteres Mal, bis er tatsächlich ein paar Worte herausbrachte: „Also hast du – ich meine, nicht, dass es mich etwas angeht, aber – hast du –"
„Natürlich hab ich", brummte Orion wütend und schnaubte. „Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich bin froh, dass das Ding wohl schon einmal angegriffen wurde. Es war langsam und angeschlagen, also bedarf es nur einiger Schläge von mir, bis ich es zerstören konnte."
„Also hast du uns gerettet", sagte Aigis erstaunt. „Dankeschön."
„Nicht der Rede wert", murmelte der Junge und erhob sich. Seine Wangen waren noch immer rot.
Auf dem Boden hinter ihnen lagen ihre drei Proviantbeutel, Taras' Schwert und Aigis' Bogen. Bei ihrem überstürzten Aufbruch, um der mechanischen Sirene in die Arme zu laufen, musste sie ihre Besitztümer einfach zurückgelassen haben. Taras schickte ein weiteres Stoßgebet an die Götter und dankte ihnen für seinen Bruder. Ohne sein schnelles Denken und seine Kraft wären sie vielleicht verloren gewesen. Und er dankte dem Mädchen, welches auch immer sein Herz erobert hatte.
„Kenne ich sie?", fragte er leise.
„Ja", brummte Orion. „Sie ist in Athen, also... werde ich sie wohl kaum wiedersehen."
„Du hättest es mir sagen können."
„Wozu?", fragte Orion barsch und hob seinen Beutel auf. „Lass gut sein", fügte er etwas sanfter hinzu. „Ich will nicht darüber reden."
Taras nickte verständlich und Orion schenkte ihm eindankbares Lächeln.
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