17.1 Ékstasi - Trance
Als Taras die Augen schloss, ertrank er. Schwarzes Wasser drang in seinen Mund ein, füllte seinen Lungen aus, presste jedes Quäntchen Luft aus seinem Köper. Ein heiseres Flüstern, so leise und sanft wie ein Windhauch, umhüllte ihn, spielte mit seinen Sinnen, wisperte ihm zu.
Du bist schwach. Dein Bruder hasst dich. Deine Eltern sind froh, wenn du stirbst. Sie wollten dich nie. Du bist schwach. Du bist eine Last für all jene die sich mit dir umgeben. Eine Last, eine Blamage. Niemand will dich, keiner wollte dich je. Warum sollten sie dich brauchen? Du bist schwach. Schwach. Schwach...
Das Atmen war ihm unmöglich. Die rettende Luft war außer Reichweite und um ihn herum existierte nur das schwarze Meer und der endlose Abgrund, auf den er immer weiter zutrieb. Egal, wie viel Kraft er aufwendete, jede seiner Bewegungen wurde kraftloser, Er konnte sich nicht retten. Alles um ihn herum verlor an Farbe; wurde dunkler und luftloser. Seine Sinne verließen ihn. Das Wasser drückte ihn in den Abgrund, wollte ihn ersticken, ihn vernichten und nie mehr gesehen machen...
Mit einem Schrei erwachte Taras. Keuchend riss er seine Augen auf. Schweiß bedeckte jedes Fleckchen Haut an seinem Körper. Er war sich nicht mehr sicher, ob er aufgrund der Kälte oder seiner eigenen Angst zitterte.
Taras richtete sich vorsichtig auf. Mit der rechten Hand wischte er sich über die Stirn und schmierte dann die Schweißtropfen an seiner Hose ab. Angst packte mit eiskalten Fingern nach seinem Herzen, drückte fest zu und ließ seinen Atem panisch flach werden. Sein Blick fiel auf seinen schlafenden Bruder neben sich. Ohne, dass er es gewollt hatte, hatte er seine linke Hand in dessen Arm gekrallt; hielt ihn so fest, als würde er wieder verschwinden, sollte er loslassen. Phobos hatte gesagt, er würde immer und überall anwesend sein und hätte keine Form. Aber er hatte ihm auch gesagt, dass Angst keine Schwäche war. Wenn er sie akzeptierte, dann könnte er sie als Waffe gebrauchen. Wie genau er das tun sollte, war ihm noch nicht klar.
Taras wischte sich erneut übers Gesicht und blickte durch den Gang. Ob es abends gewesen war, als sie sich schlafen gelegt hatte, wusste er nicht. Sein Zeitgefühl war genauso wie seine Orientierung verloren. Sein Körper war gerädert. Jedes seiner Gliedmaßen fühlte sich so an, als hätte sich einer der Titanen darauf niedergelassen und sein Rücken schmerzte vom harten Untergrund, auf dem er geschlafen hatte.
„Phobos", flüsterte der Junge in die Luft. „Wie kann Angst eine Waffe sein?"
Er hatte keine Antwort erwartet, dennoch enttäuschte ihn die darauffolgende Stille. Die Knie schob er an seinen Körper und legte den Kopf darauf ab. Natürlich würde die Personifikation der Angst ihm nicht antworten. Er war nur ein unbedeutender Junge und hatte nichts vorzuweisen, was ihn in irgendeiner Weise als würdig erwies. Sein Bruder war besser im Kampf. Er war stärker, schneller und ausdauernder. Taras brüstete sich lediglich damit, dass er etwas intelligenter als Orion war, aber das würde ihm nicht viel helfen, wenn ihn der Minotaurus verschlingen wollte.
„Wie lange bist du schon wach?" Orions Stimme riss ihn aus seinem Halbschlaf.
Taras' Nacken schmerzte, als er den Kopf müde anhob. Vielleicht war es seine Einbildung, aber er hatte das Gefühl, dass die Lichtverhältnisse besser geworden waren. Alles war heller und schärfer. Irgendwie war ihm wärmer, als hätte jemand ein warmes Feuer in seinem Körper entfacht, welches ihn nun von innen langsam aufheizte.
„Keine Ahnung", sagte er ehrlich und rieb sich die müden Augen. „Du?"
Orion zuckte mit den Schultern und legte sich eine Hand übers Gesicht. Er sah müde aus. Älter. Als hätte die wenige Zeit, von der er nicht einmal wusste, wie viele Tage es waren, ihn um Jahre altern lassen. Das war zwar sein Bruder, aber er war ein anderer Mann geworden, seitdem sie angekommen waren. Was auch immer das Labyrinth mit den Menschen anstellte, bisher hatte es bei Taras nicht besonders viel Wirkung gezeigt. Selbst die kleine Aigis hatte an Mut gewonnen und sich ihrer Angst gestellt.
Zwar hatte er das in gewisser Weise auch, aber er sich nicht sicher, ob Phobos sich bei ihm nicht geirrt hatte. Es fühlte sich nicht danach an, als hätte er seine Ängste als einen Teil von sich akzeptiert. Er hatte eine unglaubliche Furcht vor dem Ertrinken. Und dem Tod.
Die Brüder schwiegen eine Zeit lang, bis Orion sich schließlich erhob, um wortlos seine Blase zu leeren. Das leise Plätschern löste in Taras wieder das Gefühl von Panik aus. Er schloss die Augen, als die Fluten ihn umschlossen und er den Atem reflexartig anhielt, um kein Wasser zu schlucken.
Nachdem sie Aigis geweckt und eilig ein wenig ihres Proviants heruntergewürgt hatten, schulterten sie Beutel, Schilde und Waffen und machten sich auf den Weg, dem Gang weiter zu folgen, in dem sie die Nacht – wenn es denn Nacht gewesen war – kampiert hatten. Taras' Füße protestierten bereits nach kurzer Zeit. Besonders jetzt merkte er deutlich, dass er es einfach nicht gewohnt war, viel zu laufen. Mal einen Tag war das vollkommen auszuhalten, aber so lange, wie sie nun schon am Stück unterwegs waren, fühlte es sich an, als hätte er die Strecke von Athen nach Kreta zu Fuß hinter sich gelegt – zwei Mal.
Da half es nicht, dass seine Gedanken in der Stille der Reise immer wieder zu der Begegnung, wenn man es denn so nennen konnte, mit Phobos und der Überlegung von Orion zurückkehrten. Diese beiden Dinge waren miteinander verwoben, das erkannte er. Und irgendwie hatte die Angst es ihm bestätigt, was sein Bruder vermutet hatte: Die Götter nutzten das Labyrinth, um ihre zukünftigen Helden zu testen.
Aber Taras war kein Herakles. Er besaß nicht die Stärke, einen Löwen mit den bloßen Händen zu besiegen. Und schon lange besaß er nicht den Mut, sich einem Löwen von Angesicht zu Angesicht entgegen zu stellen. Er war froh, dass die einzig furchteinflößende Begegnung, die er bis jetzt hatte erleben müssen, der bronzene Adler und die Angst selbst gewesen war. Sogar vor den Würgeranken, die ihn, seinen Bruder und Aigis überfallen hatten, fürchtete er sich nicht so sehr. In seinem Hinterkopf waren sie nur Pflanzen. Sie konnten keinen eigenen Willen aufzeigen und ihn und seine Begleiter verfolgen. Wenn ihnen jemand nachstellen konnte, dann wäre das Phobos.
Auch ohne die Anwesenheit der Angst hatte er Angst.
Je länger sie liefen, desto mehr glaubte Taras daran, dass es immer wärmer wurde. Er war kein sonderlich sportliches Kind oder hatte viel Spaß an diesen Aktivitäten gefunden, aber nicht einmal er fing durchs Gehen so stark zu schwitzen an. Nach einer kleinen Ewigkeit lief ihm der Schweiß in etlichen Bahnen den Rücken entlang und ließ seine Haut unangenehm jucken. Er fühlte sich langsam wirklich schmutzig.
„Spürt ihr das auch?", fragte er nach einer Weile, als er sich wirklich sicher sein konnte, dass es keine bloße Einbildung war. Seine Haut war heiß, seine Hände klebten unangenehm vom Schweiß und der bittere Geruch hatte sich bereits in seiner Nase festgesetzt, sodass er konstant das Gesicht zu einer Grimasse verzog.
„Es ist heiß", murmelte Aigis leise und atemlos.
„Oh, gut, ich bin nicht der einzige", keuchte Orion und wischte sich übers Gesicht. „Ich hatte schon befürchtet, das wäre eine Nebenwirkung von – ich meine, gut, dass ihr das auch spürt."
Taras konnte nicht sagen, ob sein Gesicht aufgrund der Hitze oder der Peinlichkeit eines fast ausgeplauderten Erlebnisses so rot war. Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, dass seinem Bruder knapp herausgerutscht wäre, was Phobos ihn hatte erleben lassen und mittlerweile zermarterte sich der Junge den Kopf, was es sein könnte, dass seinem Bruder solch eine Angst einjagte, dass er nicht einmal darüber sprechen wollte, denn Orion hatte vor nichts Angst. Zumindest wüsste Taras nicht davon. Er hatte seinen älteren Bruder noch nie ängstlich erlebt. Selbst im Kampf gegen den Adler war er furchtlos gewesen.
Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und sein Gesicht heizte sich mehr auf, als er Orion ungläubig und gerührt anblickte. Sein Bruder hatte das erste Mal vor Taras Angst gezeigt, als sie den Adler besiegt hatten. Als er ihn an sich gedrückt hatte und vor Angst um die Sicherheit seines kleinen Bruders sogar gezittert hatte.
„Nein, ich spüre es", erwiderte er etwas lahm. „Was – Was glaubt ihr, ist das?"
„Ich vermute Feuer", sagte Orion mit einer Spur Bitterkeit in seiner jungen Stimme. „Seid vorsichtig."
„Von wo kommt es?", fragte Aigis vorsichtig. „Aus den Wänden vielleicht?"
„Vielleicht", erwiderte der ältere Bruder. „Vielleicht ist es eine Art Wärmeleitung. Ein großer Wasserkessel, wenn man es so will. Nur..."
„Nur, dass es kein Wasser gibt", antwortete Taras. „Sondern wir gekocht werden sollen?"
„Möglich", gab Orion zu.
„Wie grausam", murmelte Aigis und wischte sich die schwitzigen Hände am Gewand ab. „Sollten wir lieber umkehren?"
„Es wäre wahrscheinlich die beste Wahl", erwiderte Orion und hielt an, wobei er kurz strauchelte. „Es wird wirklich heiß."
Taras nickte keuchend. Jeder Schritt, den sie getan hatten, schien die Temperatur zu steigern, als würden sie langsam aber stetig auf die große Sonne am Himmel zulaufen. Vielleicht näherten sie sich ja dem Sonnenwagen des Apollo und er würde sie aus dem Labyrinth mitnehmen. Dann würden sie endlich diesem Loch entkommen, in welches man sie gesperrt hatte. Dann wären sie sicher. Und weder Taras noch Orion müssten Angst haben.
Orion drehte sich um, blickte seinem Bruder qualvoll in die Augen, dann machte er sich daran, den Rückweg anzutreten. „Irgendwo sind wir an einer Kreuzung vorbeigekommen, glaube ich", sagte er langsam. Taras und Aigis folgten ihm eilig.
„Kann sein", erwiderte das Mädchen. „Hoffentlich ist einer der Wege dann sicherer. Ich will nicht wissen, was am Ende dieses Ganges gewartet hätte."
„Es war sicherlich nichts Nettes", brummte Taras.
„Wahrscheinlich tödlich", fügte Orion hinzu und grinste seinen Bruder kurz angebunden an.
Er war froh, dass sie trotz allem, was passiert war, ein wenig Humor übrighatten. Wie lange sie diesen allerdings behalten würden, wusste er nicht. Was immer im Labyrinth auf sie warten würde, es würde sicherlich nur grässlicher, schrecklicher und angsteinflößender als alles sein, was sie bisher erlebt hatten. Immerhin hatten sie das abscheulichste und ungeheuerlichste Wesen noch nicht gesehen und Taras hoffte, er betete, dass es so bleiben würde. Wenn sie dem Minotaurus von Angesicht zu Angesicht entgegenstehen würden, wüsste er nicht, was er tun würde. Selbst in den Geschichten wurde es vermieden, allzu sehr ins Detail über dieses Monster zu gehen. Vielleicht, weil es niemanden gab, der je ein Treffen mit diesem Ding überlebt hatte, um davon zu berichten. Alle, die bisher ins Labyrinth geschickt wurden oder freiwillig hinuntergestiegen waren, waren nie wieder gesehen.
Dann wiederum war Taras ganz froh, dass es niemanden gab, der ihm davon hätte erzählen können. Er glaubte nicht, dass er es wissen wollen würde, geschweige denn zuhören könnte. Ein Wesen, von dem Menschen in Angst und Schrecken versetzt wurden, wenn sie nur den Namen hörten... Er wünschte und betete, dass er diesem Monster niemals begegnen würde. Andernfalls würde er wahrscheinlich vor Furcht sterben.
„War dieser Gang wirklich so lang?", fragte Aigis nach einer halben Ewigkeit, in der sie schweigsam gelaufen waren. Die Hitze war zwar zurückgegangen, aber das hieß nicht, dass es nicht immer noch warm war. Die Kinder schwitzten unerträglich.
„Ich glaube nicht", murmelte Orion und kniff die Augen zusammen. „Aber sicherlich kommt die Kreuzung bald..."
„Und wenn nicht?", erwiderte das Mädchen und die Spur Ängstlichkeit, die sie seit einiger Zeit erfolgreich aus ihrer Stimme verbannt hatte, kehrte zurück. „Der andere Gang, der dunkle, der kam mir ewig lang vor und letzten Endes hat nur irgendeine göttliche Macht mit unseren Sinnen gespielt."
„Stimmt", sagte Taras langsam und blieb stehen. „Ob", er schluckte den aufkommenden Kloß in seinem Hals runter, „ob wir in die andere Richtung gehen müssen?"
„Entweder das", meinte Orion nachdenklich, „oder wir irren uns. Hoffentlich."
„Du meinst also, unser Weg kommt?", fragte Aigis.
„Es könnte sein", erwiderte er. „Lasst uns noch etwas weiterlaufen. Wenn es wirklich so sein sollte, dann bekommen wir das mit." Seine Hand legte sich fest um den Griff seines Schwertes und die Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an. Er tat einen vorsichtigen Schritt, dann entspannte sich sein Körper wieder. „Los", befahl er kurz angebunden.
„Na schön", stimmte das Mädchen verhalten zu.
„Und was, wenn es nicht funktioniert? Wenn der Weg ewig in die Ferne geht und wir uns die Füße ablaufen?", fragte Taras leise. „Kehren wir dann um?"
„Ich – glaube, uns bleibt dann nichts anderes übrig", knurrte Orion. „Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt. Und das, was auch immer dort am Ende des anderen Ganges lebt, ist dann vielleicht schon weg."
„Vielleicht", murmelte Aigis leise.
Sie liefen. Und liefen. Und liefen. Taras' Füße waren voller Blasen und er fühlte sich erschöpft und müde. Er konnte nicht sagen, wie lange sie dem steinernen Gang gefolgt waren, aber es musste eine Ewigkeit gewesen sein und kein war Ende in Sicht. Die Luft um sie herum war dick, knisterte vor Anspannung und roch. Sie roch nach einer Mischung aus Rauch und Schwefel.
Es kam ihm vor, als wollte das Ende dieses Ganges einfach nicht kommen. Es herrschte rauchige Schwärze, so weit er blicken konnte und das schon seit weiß-wer-wie-vielen Stunden. Orions Ausdauer wurde hart auf die Probe gestellt, als er schließlich anfing seine Schritte zu beschleunigte. Irgendwann rannte er den beiden anderen davon, aber selbst dann kam er nicht ans Ende des Weges.
Vollkommen außer Atem drückte der ältere Junge die Knie durch und stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab. „E-Es geht nicht", keuchte er, als sein Bruder und Aigis zu ihm aufgeschlossen hatten und wischte sich über die Stirn. „Wir müssen zurück."
Taras gab ein stöhnendes Geräusch von sich. „Das hatte ich befürchtet", brummte er atemlos.
Wenig begeistert drehten sie um. Obwohl sie zuvor für endlose Stunden gelaufen waren, wurde es schnell wieder heiß. Die ganze Luft brannte je weiter sie kamen und immer, wenn Taras einen kräftigen Atemzug nahm, kribbelte sein ganzer Rachen, als würde er den Rauch aus dem Ofen einsaugen. Mit einem schrecklichen Gedanken blieb er stehen und riss die Augen auf.
„K-Könnte in der Luft Gift vorhanden sein?", fragte er und hielt den Atem an. Sein Bruder kräuselte die Augenbrauen und rümpfte die Nase.
„Es riecht zwar komisch, aber warum sollte es Gift sein?", erwiderte er.
„Weil man uns tot sehen will", sagte Taras leise.
„Aber nicht so", widersprach Aigis. „Wenn sie uns vergiften wollen würden, hätten sie den Proviant vergiften können, oder?"
„Stimmt schon, aber –", fing der Junge an, wurde aber von Orion unterbrochen.
„Bitte, denk darüber nicht nach", sagte er mit flehendem Unterton in der Stimme. „Hier gibt es genug, was uns töten will. Ich bitte dich, versuch nicht allzu viel darüber nachzudenken. Es macht mich schon verrückt genug, wenn ich daran denke, was hier alles herumrennt und uns als Mahlzeit ansieht", fügte er hinzu.
„Ich –", sagte Taras und schluckte. „Tut mir leid."
„Wenn uns Gift hinrichtet, dann ist das wohl so", erwiderte Orion und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Aber mir wäre es lieber, im Kampf zu sterben."
„Mir wäre es am liebsten, wenn du gar nicht stirbst", wisperte Taras fast lautlos. Sein Bruder hatte sich schon wieder umgewandt und war weitergegangen, deswegen ging er davon aus, dass er es nicht gehört hatte, worum Taras ziemlich froh war.
Die Kinder gingen langsam aber stetig auf die Hitze zu. Nach einer Weile war sich Taras nicht mehr sicher, ob er es sich einbildete, aber mittlerweile dachte er, dass die Steine vor sich hin waberten, als würden sie schmelzen oder von innen heraus brennen. Sein Blick blieb immer wieder an den vielleicht brennenden Wänden hängen.
„Achtung!", rief die kleine Aigis aus und griff nach seinem Arm. Vor Taras' rechtem Fuß glänzte ein schmales, dünnes Seil, in welches er mit dem nächsten Schritt definitiv hineingelaufen wäre.
„Uff, danke", meinte er und rieb sich den Hinterkopf. Seine Augen tränten durch die Hitze bereits und er musste sich in regelmäßigen, viel zu kurzen Abständen den Schweiß aus dem Gesicht wischen, damit die Tropfen nicht in seine Augenwinkel laufen konnten.
„Vorsicht!", schrie Orion, bevor das Mädchen es abwinken konnte, warf sich auf seinen Bruder und zog mit einer Hand Aigis auf den Boden. Keine Sekunde später röhrte es tosend laut und ein Feuerstrahl jagte in Kopfhöhe durch den Gang, bevor er wenige Momente später in der Ferne verklang und nur das Gefühl von knapp entkommenem Tod hinterließ.
Dann hörten sie es.
Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte wenige Meter vor ihnen. Durch die Feuerbrunst hatte sich eine Rauchwand gebildet, sodass ihr Blickfeld massiv eingeschränkt wurde, aber dennoch konnte Taras, der halb unter Orion vergraben war, erkennen, dass sich in den Dunstschwaden etwas bewegte. Etwas sehr Großes.
Nach einem erneuten Krachen, welches sich anhörte, als würde Metall über Stein schaben, fühlte sich der Körper des Jungen an, als würde er von innen heraus vibrieren und erst einen Moment später stellte er fest, dass nicht er es war, sondern der Boden unter ihm. Die ganze Erde unter ihm bebte und wackelte, drohte gar unter dem Knacken der Steinplatten zu brechen.
Taras' Atem stockte, als er hinter dem Rauch erneut etwas sah, was sich bewegte. Was er zuvor für einen riesigen, klumpenförmigen Körper gehalten hatte, schien allem Anschein nach nun ein Paar gigantischer Flügel zu entfalten, die an den Steinen der Wand kratzten und ein widerliches, lautes Geräusch hinterließen, sodass er das Gefühl hatte, dass seine Ohren anfangen würden zu bluten. Vor Schmerz kniff er sogar die Augen zusammen.
„Rennt!", schrie Orion nah seinem Ohr und zerrte Taras auf die Beine, als ein erneutes Krachen ertönte, von dem der Junge erst jetzt realisierte, dass es sich dabei um die Schritte dieses Dings handelte, was auch immer es war. Danach musste er sich definitiv nicht zwei Mal sagen lassen, dass er rennen sollte. Gerade, als Aigis sich aufrappelte um den Brüdern zu folgen, raste er an ihr vorbei, sein eigener Atem im Ohr wie ein tosender Sturm. Die Hitze des Feuerstrahls, welcher zuvor durch diesen Gang gerast war, hatte die Luft verbrannt und kochte in seiner Kehle.
Ein markerschütternder Schrei ließ die Luft vibrieren. Taras war sich sicher, dass hinter dem Rauchvorhang nichts Menschliches auf sie gewartet hatte. Metall krachte auf Stein, ein lautes, qualvolles Quietschen und Kratzen ließ sein Herz kurzzeitig stillstehen.
Erst, als die Kinder gerannt und gerannt waren und ihre Lungen kurz vor dem Bersten waren, fiel Taras ein, warum sie umgekehrt waren. Vor ihnen war der einzige Weg. Nach hinten ging es nicht mehr. Sie mussten an dieser Bestie vorbei, wenn sie nicht in einem ewigen Kreis gefangen sein wollte.
„Wir müssen es bekämpfen", brüllte der Junge, bereute es aber sofort. Sein Herz verkrampfte sich und sein ganzer Körper zuckte vor Schmerz zusammen. Das Stechen wurde mit jedem Atemzug schrecklicher und ließ ihn glauben, seine ganze Haut würde in Flammen stehen.
Das Krachen lag mittlerweile weit hinter ihnen. Was immer es war, sie hatten es vorerst abgehängt, sodass Taras sich nach einem kurzen Schulterblick auf den Boden sinken ließ und sich die Hände an die Seiten presste. Seinem Bruder und Aigis erging es nicht besser. Sie keuchten mit roten Gesichtern und schweißüberströmten Körpern.
„Soetwas können wir nicht bekämpfen", brachte Orion unter stetigem Keuchen hervor. „Hast du nicht gesehen, wie groß es war? Außerdem hat es Feuer auf uns geworfen!"
„Willst du dann lieber diesem Gang folgen, wieder in die Ewigkeit ohne Aussicht auf ein Ende?", fragte Taras, nachdem er zu Atem gekommen war. „Außerdem hast du selbst gesagt, du würdest lieber kämpfend sterben und trotzdem warst du der erste, der gelaufen ist."
Orion verzog die Lippen zu einer dünnen Linie und funkelte seinen Bruder wütend an. Seine Nasenflügel bebten. „Ich bin realistisch", knurrte er. „Außerdem bin ich hier, um dich zu schützen, falls es dir entfallen sein sollte."
„Hört auf", keuchte Aigis mit verschmierten Wangen. „Ich glaube, Taras hat Recht. Wir haben schon einmal versucht zurück zu gehen."
Der ältere Bruder schnaubte hart und wandte den Kopf um, sodass er in die Richtung blickte, aus der sie gerade gerannt waren. Taras konnte erkennen, dass er nachdachte. Er biss sich auf die Lippen, wandte immer wieder die Augen um und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf dem Boden herum. Letztlich seufzte er ergeben. „Schön. Ich fürchte, ihr habt Recht."
„Glaub mir, ich will genauso wenig zurück zu dieser feuerspeienden Bestie", sagte Taras versöhnend und erhob sich vorsichtig, auch wenn seine Beine bei dieser kurzen Bewegung bereits protestierten und anfingen von innen heraus zu verbrennen, „aber was bleibt uns anderes übrig?"
Orion hob verloren seine Hand und legte sie sich einen Moment aufs Gesicht, dann folgte er dem Beispiel seines Bruders und stand langsam auf. „Ich weiß, ich weiß", erwiderte er und zog sein Schwert hervor. Das sirrende Geräusch, das die Klinge machte, als er es aus der Scheide zog, schien ihm neuen Mut zu geben. Er nickte grimmig und streckte seine Finger einmal durch, ehe er den Griff um seine Waffe verfestigte. „Lasst uns dieses Ding zerlegen."
Der Weg zurück kam Taras dieses Mal kürzer vor. Erst wurde es wieder heißer, wie sie es langsam gewohnt waren, dann erhellte in der Ferne ein röhrendes Geräusch gefolgt von einer explodierenden Flamme die Luft und wurde schließlich von einem Schritt gefolgt, welcher krachend die Erde spaltete. Eine Rauchwand baute sich vor den Kindern auf, dahinter der riesenhafte Schemen der Bestie. Es breitete seine Flügel aus und schabte mit ihnen die Wände entlang, während es langsam auf sie zutrat und mit jedem weiteren Schritt wahrscheinlich ein ganzes Haus über ihnen zum Einsturz bringen konnte. Der Junge schickte ein hoffendes Gebet an die Götter auf dem Olymp. Schützt uns, ihr Götter, bitte.
Als das Monster aus dem Smog trat, wurde Taras eiskalt.
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