1.1 Moíra - Schicksal

Taras hatte Angst zu sterben. Er wollte nicht in dieses Labyrinth gehen und noch weniger wollte er als Mahl für den Minotaurus enden. Er hatte von dieser Bestie in Büchern gelesen – ein Wesen halb Mensch, halb Stier. Es fraß Menschen und konnte lange Zeit ohne Nahrung überdauern, doch je weniger es fraß, desto angriffslustiger und grausamer wurde es. In der Dunkelheit wäre es blind, wenn es nicht an die Schatten gewohnt wäre, die im Labyrinth herrschten und es konnte seine Umgebung mit seinem Geruchssinn spüren. Taras würde untertreiben, wenn er behaupten würde, er hätte die größte Angst in seinem jungen Leben.

Man hatte ihn ausgewählt, in das Labyrinth zu gehen. Er würde eines der Opfer sein, die eine Schuld begleichen würde, die beinahe ein Jahrzehnt zurücklag und für die er ganz sicher nichts konnte. Er würde dem Minotaurus zum Fraß vorgeworfen werden und er konnte rein gar nichts dagegen tun. Einerseits war er dankbar, dass sein Bruder Orion bei ihm war, aber andererseits auch nicht. Denn er wusste, dass sie beide sterben würden. Orion war freiwillig mitgekommen, um seinen kleinen Bruder zu beschützen und nun würden sie beide mit dem Leben bezahlen.

„Sei unbesorgt, Taras", flüsterte Orion hinter ihm und ließ ihn zusammenschrecken.

Die Wachen warfen ihnen abschätzige und beinahe belustigte Blicke zu, aber sie sprachen nicht. Wenn sie etwas dagegen hätten, dass sie redeten, dann hätten sie wohl längst von ihren Speeren Gebrauch gemacht, die sie in den Händen trugen und wie Fahnenstangen in den Himmel hoben.

„Dir wird nichts geschehen, dafür sorge ich doch."

Wenn er das grobschlächtige Gesicht seines Bruders hätte sehen können, dann würde er wohl sein schiefes, aufmunterndes Lächeln sehen, vermutete Taras. Er schluckte.

„Du kannst mir nicht versprechen, dass wir das überleben werden, aber ich danke dir für deine Worte."

Orion schnaubte, aber sagte nichts weiter.

Taras' Knie zitterten und er musste seine Finger in sein sandfarbenes Gewand krallen, damit diese sich nicht auch unkontrolliert schüttelten. Sein Mund war vollkommen trocken und in seiner Nase hatte sich der metallische Geruch von frischem Blut festgesetzt. Er wollte nicht, dass dies das Letzte war, das er von der wirklichen Welt riechen würde.

Vor ihm konnte er die schwarzen Locken des Mädchens erkennen, welches mit ihm und seinem Bruder in die erste Gruppe eingeteilt worden war. Ihren Namen hatte er nicht mitbekommen, zu sehr hatte sein Kopf gerauscht und ihm seinen nahen Tod angekündigt, in den abartigsten Klängen, die er sich nur ausmalen konnte. Sie konnte nicht älter sein als er, dachte Taras bedrückt. Vielleicht genauso alt oder jünger.

Er schluckte erneut. Seine Lippen bebten vor Angst. Einen grausameren Mann als König Minos von Kreta hatte Taras sich noch nicht einmal in seinen schrecklichsten Albträumen ausgemalt. Er schickte Kinder in ihren sicheren Tod, für eine längst vergangene Tat, für die sie keineswegs etwas konnten. Niemand von ihnen hatte Schuld am Tod seines Sohnes. Wie konnte der König von Athen nur zulassen, dass dies geschah?

„Wir sind da", sprach eine der Wachen und Taras stolperte fast in das Mädchen vor ihm, als sie beim Ausruf des Mannes abrupt stehen blieb.

Vor ihnen erstreckte sich eine weite Ebene aus flachem Gras, mit sanften Hügeln. Sie waren weit gelaufen und bereits jetzt schwitzte der Jüngling unter der Sonne. In der Ferne konnte man die Umrisse Kretas ausmachen, weiße Häuser und ein goldenes Schloss, welches gegen den Himmel strahlte, wie eine helle Silhouette entgegen dem Blau des Himmels. Die Farben, die selbst aus der Ferne von hunderten Schritten Entfernung noch auszumachen waren, übertrafen keineswegs die bunte Vielfalt in Athen, aber als Taras das dunkle Blau und satte Rot erblickte, welches die Wände von Häusern schmückte, vergaß er beinahe die Schönheit seiner Heimat. Kreta stand Athen in nichts nach, doch mit dem Minotaurus unter der Stadt war sie weitaus gefährlicher. Noch dazu gab es Gerüchte, dass die Frau des Königs eine mächtige Zauberin, eine Tochter des Sonnentitanen höchstselbst, war. Alles an dieser Stadt wirkte erhaben und königlich. Aber Taras dachte, dass sie vielmehr einer Gefängnisanstalt ähnelte. Und er war gerade mit weichen Knien auf dem Weg zu seiner eigener Hinrichtung.

Eine schmale Treppe führte in den sandigen Untergrund. Der Boden ringsum war dunkel und feucht, es roch nach Schlamm und Hitze und ein ungewöhnlich kalter Schauer jagte über seinen Rücken, als Taras die reich verzierte Bronzetür betrachtete, die von zwei Marmorsäulen bewacht wurde. Die weißen Obelisken versanken in der Erde und die Tür leuchtete in einem hellen Licht, als würde sie von innen heraus strahlen. Eine einzelne Fackel war an der Wand zur rechten Seite angebracht, doch sie brannte nicht. Wahrscheinlich würde man sie nachts entzünden.

Auf der Tür war das erschreckende Bildnis des Minotaurus zu sehen, tief in die Bronze eingraviert, wie er gerade eines seiner Opfer verschlang. Andere Bilder zeigten Bestien aus all den Sagen, welche die Welt umrankten und mit einem erschreckenden Gedanken musste Taras feststellen, dass vielleicht nicht nur das mystische Ungeheuer im Labyrinth hauste und darauf wartete, dass sein Mahl ihm auf einem Silbertablett serviert wurde. Welche anderen schrecklichen Bestien warteten gerade wohl mit Geifer im Maul darauf, dass die Bronzetür sich hinter ihnen wieder schließen würde, damit sie sich aus den Schatten auf sie stürzen konnten?

Ein Schlüsselloch konnte er in der Pforte nicht erkennen.

„Das ist für euch", sagte der zweite Wachmann und lehnte seinen Speer gegen die Wand, ehe er den weißen Stoffsack von seinem breiten Rücken nahm. Es klapperte noch lauter als beim Laufen, als er ihn auf dem Boden abstellte und das Band löste. Zum Vorschein kamen Schilde, doppelt so groß wie Teller, Schwerter in Bronzescheiden, die einst glänzend und prunkvoll gewesen sein musste, und kleine Beutel, die wohl mit ihrem Proviant gefüllt waren. Der Wachmann gab jedem von ihnen einen der Beutel, dann kippte er den Rest auf dem Erdboden aus.

Orion war der erste, der nach vorne schritt, Taras folgte ihm zögerlich. Er hielt es für das Schlauste, wenn er sich an seinen kräftigeren Bruder hielt. Neben den Schwertern und Schildern hatte sich auch ein alt aussehender Bogen mit einem Köcher, gefüllt mit einem guten Dutzend Pfeilen, zwischen die spärliche Ausrüstung geschlichen, die für die nächsten Tage ihre einzige Form von Verteidigung sein würden. Ihr Leben hing von diesen Waffen ab, doch sie sahen nicht so aus, als hätte König Minos ihnen diese aus Güte gegeben. Von einem der Schwerter war der Griff abgebrochen, die Sehne des Bogens wirkte spröde, als würde sie bald reißen und die Schilde waren zerkratzt und matt. Wahrscheinlich waren es ausrangierte Übungswaffen.

Orion hatte sich einen Schild um die linke Hand geschnürt und sich eines der Schwerter gegriffen, welches er nun ein paar Mal durch die Luft schwang.

Der zweite Wachmann hatte den Speer griffbereit, falls er auf dumme Gedanken kommen würde. Wahrscheinlich hätte die glänzende Spitze den Brustkorb des Jungen durchbohrt, bevor dieser auch nur daran denken konnte, ihn anzugreifen.

Das Mädchen traute sich mit zittrigen Beinen auch nach vorne und nach einem flüchtigen Blick auf die Wachen, nahm sie sich den Bogen und den Köcher.

Taras war damit der letzte Schild überlassen worden und das Schwert mit dem kaputten Griff, welches schrecklich schwer in seiner Hand lag. Es fühlte sich an, als würde er eine Tonne an zusätzlichem Gewicht mit sich herumtragen.

„Bereit?", fragte der erste Wachmann und zog aus einer Tasche seines Waffengürtels drei schwarze Stoffballen hervor. „Dann kommt her."

„W-Was soll das?", sprach nun das Mädchen zum ersten Mal, seit man sie mit den beiden Brüdern in eine Gruppe getan hatte. Ihre Stimme zitterte wie Laub im Oktoberwind. Taras konnte es ihr nicht verübeln. Wahrscheinlich war seine Aussprache in keiner besseren Verfassung.

„Wir verbinden euch die Augen", erklärte die Wache mit einem freudlosen Lächeln. „Sonst ist es doch viel zu einfach wieder herauszukommen, nich' wahr? Ihr könntet einfach vor dem Eingang kampieren." Sein Grinsen entblößte gelbe Zähne und Taras hoffte, dass er sich geirrt hatte, aber für einen kurzen Augenblick meinte er, einen unnatürlichen Hunger in den Augen des Wachmannes gesehen zu haben. So, als würde er sich schon darauf freuen, sie zu bestrafen, wenn sie wirklich ein paar dumme Tricks versuchen würden.

Zum wiederholten Male an diesem Morgen schluckte Taras schwer und der Kloß in seinem Hals schien jedes Mal nur noch dicker und schwerer zu werden.

Wie, um es zu demonstrieren, packte der Wachmann grob den Arm des Mädchens und zog sie an sich heran. Ihr Wimmern ignorierte er und wickelte das schwarze Stoffband um ihren Kopf. Noch wirkte es wie ein Stirnband, doch sobald sie alle drei bereit wären, würden ihre Augen verdeckt werden und Schatten würden ihre Sicht verschleiern.

Taras versuchte sich das Sonnenlicht einzuprägen. Wie es auf dem Erdboden aussah, wie weiß die Wolken am Himmel und wie schön der Geruch war. Er wollte sich all die Farben einprägen, die Gerüchte, die Geräusche, doch kaum hatte das Band seine Augen bedeckt, hüllte ihn Schwärze ein und alles, was er sehen konnte, waren die unnatürlichen Formen, die nun vor seinem inneren Auge umhertanzten.

Und Bilder vom Tod, die sein Geist ihm präsentierte, wie eine letzte Henkersmahlzeit.

„Wir bringen euch rein", hörte Taras die Stimme des zweiten Wachmannes und jemand packte seine Schulter. Grob bohrten sich kräftige Finger in seine Haut und der Impuls ließ elektrische Schmerzensstöße durch seinen Körper ziehen. Ein Kribbeln machte sich dort bemerkbar, wo einer der beiden Männer ihn packte. Im nächsten Moment wurde er gegen jemanden gestoßen, den er als seinen Bruder Orion erkannte. Er wollte nach etwas von ihm greifen – ein Ärmel, sein Arm, ein Finger würde schon reichen – doch die Brüder wurden wieder voneinander getrennt, als Taras erneut vorwärts gestoßen wurde. Das Bronzetor wurde mit dem Geräusch von schabendem Metall auf Stein geöffnet. Ein helles Quietschen, das in seinen Ohren klingelte und die Haare zu Berge stehen ließ. Mit vorsichtigen Schritten tasteten sie sich voran und die Steintreppen wichen den groben Platten eines schweren Bodens. Ihre Schritte hallten laut und der Schall ließ seinen Kopf dröhnen. Taras hätte längst die Orientierung verloren, wenn die Wachen ihn nicht immer weiter nach vorne getrieben hätten. Sie wurden immer weiter Richtung Norden getrieben. Oder war es doch schon Westen?

„Das reicht", rief der zweite Wachmann und nach einhundert Schritten blieben sie stehen. Es könnten auch nur fünfzig gewesen sein, oder dreihundert. Taras konnte es beim besten Willen nicht sagen. Das Echo ihrer Schritte hallte noch immer nach und in seinen Ohren klingelten es unangenehm. Er wurde an eine Wand gedrückt und der kalte Stein bohrte sich durch sein Hemd. „Gleich seid ihr auf euch allein gestellt", sagte er noch. „Irgendwelche letzten Worte?"

„Bitte", wimmerte das Mädchen, dessen Namen er noch immer nicht kannte. „Ich will nach Hause." Sie schluchzte leise und auch wenn Taras sie nicht sehen konnte, so war er sich beinahe sicher, dass sie bereits die ersten Tränen vergoss.

„Herzallerliebst", erwiderte die Wache und Taras konnte das Feixen aus seiner Stimme hören. „Gehabt euch wohl, junge Frau. Einen schönen Tod wünsche ich."

Nach diesen Worten verschluckte das Echo des boshaften Lachens ihre Schritte und begann, sie langsam in Stille zu hüllen. hinterher und nach einem kurzen Kampf mit der engen Augenbinde konnte Taras sie sich vom Kopf reißen.

Sie befanden sich in einem langen Gang, dessen Decke nicht auszumachen war, obwohl die Treppe sie nicht allzu tief in den Grund geführt haben konnte. Waren sie während ihrer Blindheit noch weiter gelaufen, ohne, dass er es mitbekommen hatte? Taras warf nun einen genaueren Blick auf die Wände. Sie waren aus Steinquadern und es roch nach modriger Erde. Obwohl nicht eine Fackel zu sehen war, die den Gang erleuchten würde, drang ein sanftes Licht zu ihnen, als würde das Labyrinth selbst leuchten und der Junge hielt verwundert seine Hand hoch, um zu testen, ob er sie wirklich erkennen konnte. Von den beiden Wachmännern war keine Spur. Sie schienen verschwunden und auch die Tür aus Bronze war nirgendwo zu sehen.

„Keine Sorge", sagte Orion, der offensichtlich einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte. „Meine Orientierung ist unglaublich gut, ich kann uns ganz sicher wieder zum Eingang bringen." Er wandte sich von seinem Bruder an das Mädchen. „Wie ist dein Name?", fragte er sie, während diese ihren neugewonnenen Bogen umklammerte, als würde er sie wieder in die Freiheit bringen. Spuren von Tränen waren auf ihrer schmutzigen Wange zu erkennen.

„Aigis", antwortete sie kleinlaut und wich seinem Blick aus, der zugegeben etwas bedrohlich wirkte. Orion hatte, wie sein Bruder auch, fast schwarze Augen, die im düsteren Licht des Labyrinths zu glänzen schienen und die schwarzen Haare, die er vor ihrer Abreise kurz geschoren hatte, schluckten jedwede Helligkeit und wirkten auf Taras dadurch nur noch dunkler. Schatten hatten sich auf sein Gesicht gelegt, die seinen bedrohlichen Blick nur noch verstärkten und wenn er seinen Bruder nicht kennen würde, dann würde er Aigis' Angst vor ihm nachvollziehen können.

„Aigis", wiederholte Orion. „Nach dem Schild?"

Das Mädchen nickte schwächlich.

„Na gut." Orion kratzte sich an seinem Kinn und drehte er sich einmal um die eigene Achse. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir von dort kamen. Folgt einfach mir, dann überleben wir das ganz sicher. Das wird leicht verdientes Gold." Die Zuversicht in seiner Stimme konnte Taras nicht ganz anstecken.

Mit zitternden Fingern umklammerte er das Schwert, auch wenn der kaputte Griff in seine Haut schnitt und er folgte seinem Bruder.

Aigis hielt sich dicht an ihn, als würde sie hoffen, er könnte sie im Fall eines Falles verteidigen. Was sich wohl nicht bewahrheiten würde.

Taras hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehabt und dazu war diese noch kaputt. Sein Arm fühlte sich jetzt schon schwer vom zusätzlichen Gewicht an, seine Muskeln brannten unangenehm und Feuer leckte durch seine Venen. Am liebsten hätte er die kaputte Waffe zur Seite geworfen, aber er wusste, sie war seine einzige und beste Chance, die er hatte, um sich irgendwie selber zu verteidigen.

Orion führte sie durch den Gang, in eine Richtung, von der Taras nicht sagen konnte, ob es Westen oder nicht doch Süden war. Sie waren vielleicht zehn Minuten im Labyrinth von Kreta und schon jetzt hatte ihn seine Orientierung verlassen. Nachdem sie jedoch einige Minuten gelaufen waren – vielleicht waren es auch schon Stunden - und all die Steine in der Wand und auf dem Boden noch immer vollkommen gleich aussahen.

Orion blieb stehen und stemmte das Schwert auf den Boden. „Vielleicht sollten wir doch in die andere Richtung gehen?", fragte er, als erwartete er, dass sein Bruder oder die kleine Aigis wüssten, wo es langging. Seine Stimme klang fest, aber Taras konnte die aufkeimende Panik in den Augen seines Bruders erkennen.

„Dort scheint mir das Licht etwas heller zu sein", sagte Taras aufmunternd, in der Hoffnung, dass er den Optimismus in seinem Bruder wecken würde. „Vielleicht geht es dort ja schon raus?"

„Ja, du hast Recht", erwiderte der Ältere halbherzig und mied seinen Blick. Eine glatte Lüge, wie Taras erkannte. Das Licht wurde nicht heller. Dort war nicht der Ausgang. „Lasst uns weiterlaufen."

Aigis hielt sich an Taras, damit sie nicht alleine verloren ging und blieb weiterhin stumm. Wahrscheinlich war das auch eine gute Entscheidung. Der Minotaurus konnte sie bestimmt hören, wenn sie laut sprachen.

Nach einigen weiteren Minuten, die sie schweigend gelaufen waren, weitete sich der Gang langsam aus und mündete schließlich in einen Raum. Er unterschied sich nicht wirklich vom steinernen Tunnel, nur waren seine Wände gerade und reichten noch höher in die fast schwarze Dunkelheit. Nun konnte Taras die Decke tatsächlich nicht mehr ausmachen. Der Raum war nicht groß, bot aber genug Platz für die drei Kinder. Wahrscheinlich hätten all die vierzehn Opfergaben in ihn gepasst.

„Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen", schlug die kleine Aigis vor. Jetzt, wo wie stillstanden, konnte Taras einen guten Blick auf ihr hübsches Gesicht werfen. Sie hatte die braunen, unschuldigen Augen eines Rehs und sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt.

„Gute Idee", erwiderte Orion und lehnte seine Schwertscheide samt Inhalt an die Wand. „Wir werden alle Kraft brauchen." Er versuchte weiterhin stark zu klingen, aber Taras hatte bemerkt, dass seine Hände gezittert hatten, als der Schwertgriff seine Finger verlassen hatte.

Sie entledigten sich ihrer Waffen und legten sie neben sich auf den Boden, dann setzten sich in einen Halbkreis auf den steinernen Boden. Es war angenehm kühl, dennoch schwitzten sie.

Orion nahm seinen eigenen Beutel vom Rücken und zog das Band auf und der jüngere Bruder tat es ihm gleich.

Zum Vorschein kam ein einziger Schlauch mit Trinkwasser, ein Laib mit Brot, welches keinesfalls frisch war und etwas Obst. „Davon sollen wir sieben Tage leben?", fragte er empört und starrte seinen Bruder an.

„Ich wusste es", sagte Taras mit belegter Stimme. „Der König spielt nach seinen Regeln. Er sieht es keinesfalls vor, dass wir hier lebend rauskommen. Wir sollen sterben. Egal, ob durch die Klauen des Minotaurus oder durch Hunger. Letztendlich wettet er darauf, dass wir hier sterben."

Erschrocken blickte Taras zur Seite, als ein leises Schluchzen ertönte und mit dem Anflug eines schlechten Gewissens erinnerte er sich daran, dass Aigis ja auch noch da war. Da er nicht ganz wusste, was er tun sollte, tätschelte er ihr unbeholfen den Rücken. Doch es beruhigte sie kaum. „Ich will nach Hause!" Sie weinte nur noch heftiger. „Ich will nicht sterben!"

„Wir... werden hier nicht sterben", sagte Orion. „Keine Sorge, dafür sorge ich. Ich bin hier, damit mein Bruder wieder nach Hause kommt. Du wirst auch wieder zu deiner Familie zurückkehren können." Er versuchte sich an einem Lächeln, doch genauso gut hätte er es der Wand schenken können, denn Aigis hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben.

Taras überraschte es, dass sein Bruder solch verständnisvollen Worte für ein fremdes Mädchen aufbringen konnte. Normalerweise war Orion nicht sehr gut mit Worten. Er ließ lieber seine Muskeln sprechen und für Mädchen hatte er meist nicht viel übrig. Er hielt sie für schwächlich.

Es dauerte eine quälende Weile, bis sich Aigis wieder beruhigt hatte. Auch im schummrigen Licht des Raumes konnte Taras erkennen, dass ihre Augen rot vom Weinen waren und ihre Hände zitterten, als wären sie in Eiswasser getaucht worden. Keiner von ihnen entschied sich dazu, schon etwas zu essen oder zu trinken.

Orion hatte vorgeschlagen, dass sie erst dann von ihrem Proviant nehmen würde, wenn sie vor Hunger nicht mehr Laufen konnten. So konnten sie zwar nicht sicher sein, dass es all die sieben Tage reichen würde, aber damit wäre all die Speise nicht schon nach zwei Tagen aufgebraucht. Es war ihre einzige Hoffnung, die sie hatten und Taras klammerte sich daran.

„Wurdet ihr auch ausgewählt?", fragte Aigis schließlich, als die Stille zu ihrer Begleiterin geworden war. Sie hatte die Angst aus ihrer Stimme verbannt und versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen, dennoch hörte Taras, dass sie noch immer sehr nahe am Wasser gebaut war.

„Ich wurde gewählt", sagte er und erinnerte sich lebhaft an die panischen Schreie seiner Mutter zurück. „Mein Bruder hat sich gemeldet."

„Wieso?", fragte sie und blickte Orion mit einer Mischung aus Bewunderung und Verständnislosigkeit an. „Der sichere Tod wartet hier."

„Deswegen", antwortete Orion langsam und warf einen kurzen Blick auf sein Schwert. „Ich muss sichergehen, dass mein Bruder wieder nach Hause kommt. Ich kann nicht zulassen, dass er einem Ungeheuer als Mittagsmahl serviert wird. Allein würde er sich nicht verteidigen können." Er wirkte stolz auf sich selbst. „Deswegen habe ich mich gemeldet, um mitzukommen. Ich werde meinen Bruder beschützen und das Gold nach Hause bringen."

„Das ist ziemlich mutig", sagte Aigis beeindruckt. „Aber... glaubst du wirklich, dass ihr es beide schaffen werdet?", fragte sie. „Von den letzten vierzehn Opfergaben hat es keine geschafft."

„Es gibt immer ein erstes Mal", erwiderte Orion grimmig und ein Anflug von Stolz entfachte in Taras' Brust. Selbst in dieser Situation konnte er ein Lächeln für seinen Bruder nicht unterdrücken. „Ich werde überleben und zum Helden werden. Die Götter werden uns leiten, wir müssen daran glauben. Sie lassen nicht zu, dass unschuldige Kinder so zu Tode kommen."

Aigis sagte nichts. Sie starrte auf ihre Hände und wirkte so, als wolle sie etwas sagen, aber sie brachte es nicht über ihre Lippen.

Taras brach das Schweigen schließlich, in dem er sich laut räusperte. „Vielleicht sollten wir weiterziehen?", fragte er. „Wir können keinen Ausweg finden, wenn wir stillsitzen."

„Das denke ich auch. Wir können ruhen, wenn wir uns schlafen legen. Aber noch ist meine Kraft frisch und ich kann mein Schwert schwingen. Lasst uns aufbrechen." Aigis sagte noch immer nichts, nickte auch nicht, sondern stand einfach auf. Sie schloss sich den beiden Brüdern an und folgte ihnen, wie ein zweiter Schatten.

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