| ・「※ II ※」・ |
[ Point of view: Asahi Azumane ]
Die warme Frühlingssonne schien genau in mein Gesicht, während ich in einer Ecke auf dem Dach saß und genüsslich mein Mittagessen verspeiste. Neben mir schwatzten Dean, der aber von allen nur "D" genannt wurde, und Aki. Die Beiden waren die Einzigen, mit denen ich mich hier angefreundet hatte, weil nicht viele mich wegen meines japanischen Akzentes verstanden.
„Diese Vorlesung war schrecklich. Ich wär' fast eingeschlafen, wenn Asahi mich nicht nach 'nem Kulli gefragt hätte. Was haste da überhaupt mitgeschrieben? Ich hab' da kein Wort verstanden.“
Ich reagierte erst gar nicht darauf, weil ich immer noch in Gedanken war.
„Ach, weiß ich schon gar nicht mehr.“
„Na ja, is' ja auch egal. Aus welcher Präfektur kommste nochma?“, fragte Aki. Ich musste mich, obwohl er auch Japaner war, immer noch ein wenig an seinen Akzent gewöhnen, da er aus der Präfektur Tochigi kam.
„Aus Miyagi.“, antwortete ich stumpf.
„Miyagi...“, erwiderte Dean, der hier geboren war, als würde ihm irgendetwas wichtiges dazu einfallen und rückte seine Brille zurecht.
Ich mochte die Beiden. Dean war eher still, meisterte bereits sein drittes Jahr mit Bravour und redete nicht viel von sich. Da war Aki das komplette Gegenteil. Er war locker, im gleichen Jahr wie ich, hatte zwar nicht die besten Leistungen erbracht, aber er war der einzige, bei dessen Vorträgen ich nicht halb einschlief, da ich ihn wenigstens besser verstand als viele Andere.
„Dass ich aus Tochigi komm', hab' ich euch aber schon ma' erzählt, ne?“, rief Aki und sprang auf. Sowohl Dean als auch ich wussten, dass er jetzt wieder von seiner Morutani erzählen würde, die er wegen einer gescheiterten Fernbeziehung verloren hatte. Gut, dass ich sowas nicht hatte. Und mit dieser Vermutung hatten wir Recht. Wieder erzählte er uns von der Situation, als er sie schweren Herzens in Tochigi zurück lassen musste und wie sehr er sie vermisste, als er die Nachricht bekommen hatte, sie wolle sich trennen, einen Tag, bevor er das Risiko eingehen, was auch immer damit gemeint war, und sie besuchen wollte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu.
„Asahi, du kommst doch auch nicht gerade aus der Nähe. Hast du nicht auch irgendeine tragische Liebesgeschichte?“, fragte Dean, zwar eher sarkastisch, da keiner von uns beiden solche Geschichten noch hören konnte, aber ja. Natürlich hatte ich die.
„Oh ja, erzähl' uns deine Liebesgeschichten!“, rief Aki und setzte sich wieder hin, da er ja nun seine Wut auf Morutani nicht mehr wild gestikulieren musste.
„Da gibt es nichts besonderes zu erzählen.“, winkte ich, offensichtlich zu Deans Erleichterung, lächelnd ab. Dann versank ich ein wenig in meinem Handy, als Aki immer weiter rumlöcherte. Im Laufe der Zeit hatte ich gemerkt, dass Ignoranz bei ihm am wirksamsten war.
Ich wollte über dieses Thema auch nicht reden.
Insgeheim war ich froh, dass ich Nishinoya damals nichts von meinen Gefühlen gesagt hatte. Denn meine Vermutung hatte sich nur bestätigt. Wie lange hatte das mit dem regelmäßigen Treffen geklappt? Nicht ein Mal hatten wir uns getroffen. Ab den Winterferien hatten auch die Anrufe aufgehört. Und jetzt hatten wir uns schon seit Neujahr, am dem wir uns flüchtig ein frohes neues Jahr gewünscht hatten, nicht einmal mehr geschrieben.
Warum war es nur so gekommen?
Hatte diese physische Distanz uns wirklich entzwei gebrochen?
War das, was wir hatten, wirklich nichts weiter als eine normale Freundschaft, die man einfach wegwaf, wenn einem die Lust ausging?
Wann hatten wir uns aufgegeben?
Schon bei den letzten Anrufen hatte ich gemerkt, dass etwas anders war.
Diese Vertrautheit von früher war vollkommen verschwunden. Noyas gute Laune ebenfalls. Unsere Gespräche waren kalt bis allerhöchstens neutral. Aber warum war es so gekommen?
Lag es wirklich nur an der mangelnden Zeit, die ich ihm gewidmet hatte? Oder hatte jemand von uns beiden den Anderen aufgegeben?
Erschrocken dachte ich nach. Ich schrieb ihm nie, rief ihn nicht mehr an, tat nichts, um unsere alte Verbindung wieder aufzubauen. Was war mit ihm?
Er hatte es immer versucht, nie hatte ich Zeit. Hieß das, dass er aufgegeben hatte? Hatte er mich aufgegeben? Mich weggeworfen? Weil ich nicht gekämpft habe? Aber hatte ich ihn dann nicht zuerst losgelassen?
Mein Handy vibrierte plötzlich.
"KarasunosSchutzgott hat einen neuen Beitrag gepostet."
Ein zweites Mal vibrierte es.
"KarasunosSchutzgott hat dich in einem Beitrag makiert."
Zurück in der Realität drückte ich auf die Graminsta-PopUp-Benachrichtigung.
In meinem Feed sah ich nun eines der Fotos, das Nishinoya in Tokio von uns beiden gemacht hatte.
Unter dem Bild stand dann erst mein eigener Nutzername und ich klickte auf "Mehr anzeigen". Dann las ich eine einzige Textzeile, die mir sofort Tränen in die Augen schießen ließ.
"Ich vermisse dich" stand da. Stumpf, ohne irgendwelche weiteren Worte, nichtmal ein Punkt. Und doch breitete sich in mir ein Gefühl aus, das ich nicht beschreiben konnte. Es war gemischt aus Trauer, Freude und Selbsthass.
Wieder war er es, der allein um uns kämpfte. Warum war ich bloß so unfähig?
Mir wurde es in diesem Augenblick zu viel.
„Asahi? War das mit der Liebe etwa 'n wunder Punkt? 'Tschuldigung.“, meinte Aki und versuchte mich zurück zu halten, weil ich aufstand. Ich wollte einfach nach Hause. Der einzige Ort, der mir mittlerweile, nach fast einem Jahr, nicht mehr fremd war.
„Aki, lass es.“, hielt Dean ihn wiederrum zurück, sodass ich ohne Umschweife zur Straßenbahn gelangte und mit laut aufgedrehter, melancholischer Musik in den Ohren durch Australien fuhr.
[ Point of view: Yū Nishinoya ]
Angespannt kaute ich auf meinem Stift herum. Niemand war noch wirklich gut gelaunt hier. Aber man konnte es niemandem verübeln. Als dann endlich die Schulglocke klingelte, die uns in die Mittagspause entließ, schnappte ich mir missmutig mein Handy und setzte mich draußen auf einen Stein. Ich hatte nichts zu tun und Hunger hatte ich auch nicht, also durchforstete ich meine Galerie, um Bilder zu löschen, da ich eine Art Tick hatte, immer sofort jedes unnötige Bild zu löschen. Irgendwann stieß ich dann auf Bilder, die meine Stimmung nur noch verschlechterten. Es waren Bilder von Asahi und mir, die wir damals in Tokio geschossen hatten... Vor fast einem Jahr.
Als er noch da war.
Als die Situation und die Umstände noch normal waren.
Und ich vermisste ihn so verdammt doll. Ich hatte ihn nicht gesehen, seit ich ihn am Tag des Umzugs zum Bahnhof gebracht hatte. Seine Stimme... Die Stimme, die mich sonst immer beruhigt hatte. Die mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Ich hatte sie zuletzt gehört, als wir in den Winterferien telefoniert hatten. Wieder hatte er sich entschuldigt, dass es diese Ferien finanziell mit dem Treffen nichts wird. Und die letzte Nachricht kam vor mehr als drei Monaten. In meinem Kopf wiederholten sich die ganze Zeit die Worte "Ich hasse dich". Er hat mich allein gelassen. Seine Versprechen gebrochen. Er hatte mich vergessen. Aber dennoch vermisste ich ihn. Ich vermisste ihn so verdammt doll, dass es weh tat. Ja, in meiner Brust war ein riesiges Loch, dass nur er füllen könnte. Aber wie oft hatte ich Kontakt gesucht und er hat abgeblockt? Was sollte ich noch tun? Sollte ich einen erneuten Versuch wagen und noch einmal enttäuscht werden? Was war aus unserem Versprechen geworden?
Ich errinnerte mich noch genau daran.
In der letzten Nacht, die ich bei ihm war und mir bewusst wurde, dass es erstmal das letzte Mal war, dass ich eine Nacht bei ihm verbringen würde, da ging es mir richtig beschissen. Als er fragte, was los sei, haben wir uns ein Versprechen gegeben.
„Asahi, versprich mir, dass, egal was passiert, wir uns niemals wirklich verlassen werden.“
„Versprochen. Ich verlasse dich nicht, Noya.“
„Ich dich auch nicht, Asahi.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Er hatte es gebrochen. Er war nicht mehr da, wie er es versprochen hatte.
Er existierte, aber war abwesend. Es wäre weniger schmerzhaft, wenn er einfach weg wäre.
Solangsam glaubte ich, dass der Fehler vielleicht bei mir liegen könnte. Also wollte ich es versuchen. Ein letztes Mal wollte ich versuchen, ihn zurück zu gewinnen. Ich wählte das Bild aus und lud es auf Graminsta hoch mit der Nachricht, dass ich ihn vermisste.
Bevor ich dann vor Verzweiflung noch in Tränen ausbrach, suchte ich Tanaka, um mich ein bisschen abzulenken. Obwohl auch unser Verhältnis sich verändert hatte. Aber seit elf Monaten konnte man sowieso in ganz Japan niemanden mehr finden, der sich nicht irgendwie verändert hatte.
Irgendwann am Nachmittag konnte ich dann allerdings nach Hause gehen. Das Training ließ ich lieber aus, denn heute Abend konnte ich nicht zusammen mit Tanaka nach Hause gehen, weil er beschäftigt war. Und es war nunmal nicht mehr so einfach, in Japan im Dunkeln nach Hause zu gehen, seit sich so viele Bedingungen geändert hatten. Man musste aufpassen, wann man wo war.
Zuhause ließ ich mich geschafft aufs Bett fallen.
Wann hatte ich eigentlich soviel Energie verloren?
Wo ist das Ich, dass sogar nach dem Training noch zu viel Energie hatte?
Wo war meine Lebensfreude hin?
Komplett übermüdet lag ich da, alle Viere von mir gestreckt, als ich einen unerwarteten Anruf erhielt.
Verwundert starrte ich auf das Display. Darauf leuchtete mir ein Name geradezu entgegen, sodass ich es kaum glauben konnte.
Asahi.
Schwarz auf weiß.
Ich starrte so lange diese fünf Buchstaben an, dass ich beinahe vergaß, ranzugehen.
Die ersten fünfzehn Sekunden herrschte einfach nur Stille.
Sollte ich auflegen?
Doch da erinnerte ich mich an Asahis schüchterne Seite. Ich entschied mich, den ersten Schritt zu machen.
„Asahi?“
„Ja. Ich bin's.“
„Ist... Alles okay?“
Verdammt. Warum war dieses normale Gespäch von Anfang an so komisch? Was zur Hölle sollte ich sagen?
„J-ja. Nein. Noya... Ich vermisse dich.“
Eigentlich sollte ich mich darüber freuen. Aber warum tat es dann so weh?
„Asahi...“
„Ich... Würde dich gerne sehen.“
Sofort hatte ich Bilder vor Augen von Dingen, die ihm hier passieren konnte. Seitdem es diesen einen Vorfall gab, war hier niemand sicher. Es war besser so, wenn Asahi weg blieb, so weit wie möglich.
„Es tut mir Leid. Aber das geht nicht.“
„Warum nicht? Ich schaffe es finanziell diese Ferien und-“
„Hörst du schlecht? Ich hab gesagt es geht nicht!“
Bevor ich einen verzweifelten Schluchzer losließ, drückte ich ihn weg. Es war nur zu seinem Schutz.
Wieder war ich in der gleichen Situation wie am Anfang.
Ich wollte ihn sehen. Seine Stimme wieder hören. Mit ihm lachen, die Zeit und vorallem mein Umfeld vergessen. Aber gerade wegen diesem Umfeld war es nicht möglich.
Nein, es war sogar schlimmer. Am Anfang habe ich mir nur Gedanken darüber gemacht, dass ich ihn nicht mehr sehen durfte, weil er mich nicht sehen wollte. Aber jetzt dachte ich darüber nach, was passieren könnte, wenn wir uns trafen, gerade dann, wenn er mich sehen wollte.
Es war mehr als nur ungerecht.
„Asahi...“, flüsterte ich und ließ die ersten Tränen auf mein Kissen tropfen.
Vielleicht sollte ich mich irgendwie ablenken.
Es akzeptieren, um weiter machen zu können. Aber für den Moment war das einfach nicht möglich. Meine Trauer saß zu tief, um jetzt einfach zu vergessen.
Wer hätte gedacht, dass ich jemandem mal so hinterher trauern würde, der mir, vielleicht sogar ungewollt, das Herz gebrochen hatte. Mich mehrmals enttäuscht hatte, wie so viele meiner Freunde, mit denen er auch kein Wort sprach.
Ich fühlte mich einsam.
Ich war umringt von viel zu vielen Menschen und dennoch gab mir niemand von ihnen das Gefühl von Liebe, Schutz oder zumindest Anerkennung meines Daseins. Jeder war kalt, geistesabwesend und kümmerte sich nur um sich selbst.
Und Asahi hatte mir immer das genaue Gegenteilsgefühl gegeben.
Ich konnte die Augen nicht mehr aufhalten. Ich wollte schlafen, der Welt entkommen, meinen Grund für schlechte Laune für ein paar Stunden vergessen. Ich kuschelte mich in meine Decke, als ich bemerkte, dass ich den Hoodie trug, den Asahi mir letztes Jahr geschenkt hatte. Das tat nur noch mehr weh...Mit einem Stachel im Herzen einzuschlafen, war beinahe unmöglich. Denn im Gegenzug zu einem echten Stachel konnte ich mich drehen, wie ich wollte, er würde in jeder Position gleich wehtun.
[ Point of view: Asahi Azumane ]
Nein.
Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen. Ich hatte Noya immer abgeblockt und ihn abblitzen lassen, weil ich keine Zeit für ihn hatte.
Jetzt wollte er, dass ich weg blieb.
Ich verstand nun, wie Noya sich gefühlt haben musste.
Abgestoßen. Ersetzt. Überschrieben.
Aber so war es nicht. Ich liebte ihn noch immer und ich wollte nie, dass es soweit kommt.
Wenn ich jetzt wirklich weg bleiben sollte, wie er wollte, würde ich seine Meinung aber nur unterstützen und da es nicht so war, wollte ich das nicht.
Ich werde fliegen, dachte ich.
Ich werde zurück nach Japan reisen.
Das vorzubereiten, dauerte nicht lange. Die Uni durchhalten. Sachen Packen. Die Tickets besorgen.
Weil Aki nichts zu tun hatte am Samstag, fuhr er mich zum Flughafen.
„Du bist sicher, dasste da hin wills'?“
„Klar. Ich will nur meinen Freund sehen, dass ist alles.“
„Na gut. Aber tu mir 'n Gefallen und pass auf. Könnt' gefährlich werden.“
Ohne ein weiteres Wort fuhr er davon.
Komisch.
Aber ich machte mir nicht weiter Gedanken dazu.
Als ich am Flughafen bei der Kontrolle gefragt wurde, warum ich denn so unbedingt nach Japan wollte, antwortete ich, dass ich zu meiner Familie wollte, denn zu einem Freund zu wollen, klang unglaubwürdig.
Ich machte mir irgendwann Gedanken, als sie tatsächlich meine Mutter anriefen, um zu fragen, ob sie mich erwarteten. Gott sei Dank hatte ich ihr geschrieben, dass ich kommen würde.
Es war zwar komisch, dass sie so vorsichtig waren, aber da ich nicht oft über Luftverkehr reiste, hielt ich es für Routine und dachte mir nichts weiter dabei.
Drei Stunden später landete das Flugzeug, in dem nur sehr wenige Gäste saßen. Am Ausgang musste jeder seinen Pass zeigen und eine schriftliche Berechtigung von der Australischen Fluggesellschaft vorzeigen, dass man ein Anwesenheitsrecht hatte. Da ich diese nach dem Anruf bei meiner Mutter bekommen hatte, war das auch weiter kein Problem.
Endlich atmete ich wieder frische Luft ein. Vorallem japanische Luft. Brisbane war zwar nah am Strand gelegen, aber dennoch war die frische Luft in Miyagi anders als die in Australien. Heimatlicher eben.
Auf dem Weg zum nahegelegenen Bahnhof wurde es aber langsam komisch. Überall standen bewaffnete Wachen. Keine Menschenseele war hier draußen. Selbst die Luft hatte mittlerweile etwas beängstigend erdrückendes.
Als ich am Bahnhof ankam, wurde alles strengstens kontrolliert, bevor man überhaupt den Zug betreten durfte. Fahrkarten. Pässe. Personalausweise. Gepäck. Ich wurde wortlos in den Zug eingelassen, man kontrollierte mich als einzigen dort nicht, und setzte mich auf einen freien Platz. Einige Minuten später sagten die Wachen das erste Mal ein Wort, als sie eine Frau mit ihrer Tochter kontrollierten.
„Ihren Pass bitte.“
Einige Sekunden Stille.
„Sie hat keine japanische Staatsbürgerschaft.“
„Sind Sie nicht von hier? Sie wissen von den Regeln?“
Welche Regeln? Neugierig lehnte ich mich vor.
„Ausländern ist jegliche Nutzung von öffentlichen Mitteln verboten. Machen Sie, dass Sie wegkommen. Sonst schieße ich.“
Erschrocken wich ich zurück.
Hatte ich mich da gerade verhört?
Das kleine Mädchen hinter ihr begann, zu weinen.
„Ich bitte Sie, wir werden sterben, wenn wir nicht-“
Ein Knall ertönte.
Etwa ein Schuss...?
Kindergeschrei, andere Passanten sahen einfach weg.
„Hast du nicht ein wenig zu früh geschossen? Was sollen wir denn jetzt mit dem Kind machen?“
„Unsere Aufgabe ist es, alle Unruhestifter zu eliminieren. Sie hat nicht nachgegeben. Und das Kind findet einen guten Platz im Heim.“
Mit einem Piepen schlossen sich die Türen wieder und der Zug fuhr ruckelnd los.
Ich war traumatisiert.
Ich wollte nicht glauben, was ich da gerade gesehen hatte. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film.
Wo war ich hier nur hinein geraten?
Sie hatten vor meinen Augen, nein, schlimmer, vor den Augen eines kleinen Kindes seine Mutter erschossen, weil sie Ausländerin war und einen Zug betreten wollte.
Ich wollte es nicht wahr haben.
Als ich mich umsah, blickte ich in nicht ein erschrockenes Gedicht. War das etwa Routine? Wurden hier tagtäglich Menschen erschossen?
Jetzt wurde mir langsam klar, weshalb Aki und auch Dean mich eher abhalten wollten, herzukommen. Selbst Noya wollte nicht, dass ich komme. Ob das der Grund dafür war?
Nach der Zugfahrt das Selbe. Kontrolle. Aber zum Glück keine Schüsse.
Ich hielt so viel Abstand wie möglich zu den Wachen. Es waren nur drei Straßen, dann würde ich bei mir zuhause ankommen... Aber ehrlich gesagt wollte ich lieber zu Noya als zu meinen Eltern, die mich nicht zu meinem Schutz fernhalten wollten, wie Nishinoya es wollte. Ich erinnerte mich daran, dass meine Mutter sogar wusste, dass ich komme und mich nicht abgehalten hatte.
Also ging ich die nächsten fünf Straßen, bis ich bei Nishinoya ankam.
[ Point of view: Yū Nishinoya ]
Ein Klingeln ertönte und weckte mich aus meinem kleinen Nickerchen. Wer könnte das sein, so spät am Abend? Sofort bekam ich es mit der Angst zu tun.
„Yū, machst du auf? Ich koche gerade!“
„Ja, mache ich!“, rief ich zurück und begab mich, schlaftrunken wie ich war, in Richtung Tür.
Kurz vorher blieb ich stehen. Durch das Glas erkannte ich zumindest keine Uniform, also legte sich meine Angst wieder. Doch sobald ich die Tür geöffnet hatte, klopfte mein Herz sogar noch schneller als vorher.
Langes, braunes Haar. Eine Brille. Ein Kinnbart.
Asahi.
Wir starrten uns an.
Unsere Herzen schienen in einer Einheit, in einem Rythmus zu klopfen.
Niemand sagte etwas oder bewegte sich. Bis ich die letzten Zentimeter zwischen uns auflöste und ihn einfach umschlung.
Es war, als würde man mir einen Dorn aus dem Herzen ziehen.
Ein Jahr war es her, dass ich ihn gesehen hatte.
„Was machst du hier?“, flüsterte ich und löste langsam meine Arme wieder.
„Ich musste dich einfach sehen.“
Ich schwieg. Es war diesmal kein distanziertes Schweigen, sondern ein glückliches. Dann bat ich ihn hinein und schloss die Tür.
„Azumane!“, rief meine Mutter, die gerade das Abendessen auf dem Tisch abstellte.
Schüchtern lächelte Asahi ihr zu.
„Setz dich doch, das Essen ist gerade fertig geworden. Du musst doch am verhungern sein!“
Asahi nickte und stellte seinen Koffer in eine Ecke des Raumes.
Dann saßen wir zu dritt am Tisch und begannen mit dem Essen.
„Wo ist Papa?“, fragte ich, als mir auffiel, dass er nicht da war.
„Er hat angerufen. Er muss überraschend eine Nachtschicht übernehmen.“
Ich starrte betreten zu Boden.
Das wievielte Mal war das?
Wie lange war er nun schon im Betrieb und kam nicht mal zum Essen nach Hause?
Ich wurde abgelenkt, als Asahi plötzlich seine Essstäbchen ins Essen fielen.
„Tut mir Leid. Nach einem Jahr Messer und Gabel muss ich mich noch daran gewöhnen, wieder mit Stäbchen zu essen.“
„Ach, das macht doch nichts. Aber stimmt, wie war Australien eigentlich?“
„Nicht besonders. Die Menschen dort sind nett, aber Kommunikation dort ist schwierig. Ich verstehe sie zwar, aber sie mich oft nicht. Und es ist gewöhnungsbedürftig, von jedem mit Vornamen angesprochen zu werden.“
„Verständlich. Wie kommst du mit dem Studium zurecht?“, fragte ich, um mich irgendwie am Gespräch zu beteiligen.
„Ganz gut, aber es ist sehr schwer. Ich muss immer viel Lernen. Was ist mit dir, Noya? Du hast dein drittes Jahr abgeschlossen. Was machst du jetzt?“
Ich überlegte. Ich würde natürlich auf eine Uni gehen, aber was ich mal machen wollte, wusste ich noch nicht.
„Ich weiß nicht.“
Dann herrschte erstmal eine lange Stille, bis Asahi etwas sagte.
„Darf ich mal was fragen?“
Meine Mutter nickte aufmunternd.
„Auf dem Weg hierher wurde ich bei jeder Kleinigkeit kontrolliert. Außerdem haben sie jemanden erschossen und es schien für alle Passanten Routine zu sein. Was ist hier passiert, während ich weg war?“
Geschockt starrte ich auf meinen Teller.
Er wusste es nicht?
Es hatte nichts mitbekommen?
„Kann es sein, dass du keine Nachrichten guckst?“, fragte ich mit großen Augen.
„Ich hatte nie Zeit dazu. Wieso denn? Was ist passiert?“
Meine Mutter seufzte, erklärte es dann aber.
„Vor elf Monaten wurde Japan zur Diktatur. Ein ehemaliger japanischer Geschäftsmann, der Macht und Geld ausnutzen will, mehr ist diese Bestie unserer Spezies nicht. Sein Name ist Akito Korisuke. Er ist tyrannisch. Ausländer werden so gut es geht ausgegrenzt und bei kleinster Abweichung seines Programms ausgelöscht. Wir werden gefiltert von ihnen. Er tut, was immer er will, feuert Leute, bricht Regeln, nimmt sich, was er will, verbietet alles. Homosexualität ist verboten und wird, wie jeder andere kleinste Fehler auch, mit dem Tod bestraft. Es gibt eine Ausgangssperre. Wer zwischen zweiundzwanzig und fünf Uhr draußen ist, wird ohne Vorwarnung erschossen. Ausländische Produkte sowie Fernsehserien, sogar Musik sind verboten. Er tut, was er will. Du bist kein Ausländer, deshalb bist du reingekommen. Jeder, der nicht seinem System entspricht, ist hier dem Tode geweiht. Es ist schlimm geworden. “
Es tat sogar weh, wenn man es wusste, aber man es sich noch einmal anhören musste.
In Asahis Gesicht konnte man puren Schock erkennen. Es muss hart sein, das zu erfahren.
„Und dagegen lehnt sich niemand auf?“
„Nein. Das Kabinett wollte eine Veränderung, als Shinzo Abe an einem Herzinfarkt gestorben ist, dann hat sich Korisuke eingeschaltet und wurde einstimmig vom Kabinett und auch dem Volk zum Premierminister gewählt, also dürfen andere Länder rechtlich nicht eingreifen. So wurde Japan unter seiner Leitung zur Diktatur, es gibt keine Monarchie und auch längst kein Kabinett mehr. Intern wird jeder erschossen, der Korisuke zu nahe kommt, also ist ein Frontalangriff nicht möglich. Aber da man seine genaue Position aus Sicherheitsgründen nie kennt und er aus Sicherheitsgründen auch nicht vor die Menschen tritt, ist auch ein Angriff von weitem nicht möglich. Er hat nämlich ebenfalls keinen Hauptsitz. Anfangs gab es natürlich Aufstände und Demonstrationen, aber all diese Menschen haben dabei ihr Leben verloren. “
„Japan hat einen Diktator gewählt? Wie konnte das passieren?“
„Er hat sich natürlich nicht als Diktator verkauft. Er wollte Frieden und Recht über das Land bringen. Als er gewählt wurde, war die Hälfte im Sitz der Regierung vermisst gemeldet und die andere Hälfte auf seiner Seite. Wir wurden manipuliert.“
Nachdenklich und noch immer geschockt aß Asahi auf, sodass wir bald fertig mit dem Essen waren.
Ich räumte alles in die Spülmaschine ein und dann brachte ich mit Asahi seine Sachen in mein Zimmer.
„Du...Darf ich hier übernachten für die nächsten Tage?“, fragte er irgendwann, als wir uns noch immer im stehen anschwiegen.
Natürlich sagte ich nicht nein.
Langsam begann er also, seine Sachen auszupacken und in eine leere Kommode einzusortieren. Irgendwann zog er sich dann das Shirt aus, um seinen Schlafanzug anzuziehen. Während er das tat, starrte ich geradezu auf seinen nackten Oberkörper. Ich konnte mir nicht erklären, warum das plötzlich so interessant war. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und sah schnell woanders hin, bis er sich ein T-Shirt angezogen hatte.
Dann sah er zu mir.
„Hast du Fieber? Du siehst heiß aus.“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Als ihm seine Wortwahl auffiel, versuchte er sofort, sich rauszureden.
„So meinte ich das nicht, also, ehm, deine Wangen sind rot, deshalb. Wenn dir heiß ist, kannst du dich auch ausziehen, du bist ja kein Mädchen.“
Wieder stutzte ich grinsend.
Der will was von mir, dachte ich.
„Peinlich...“, murmelte er kaum überhörbar und setzte sich auf mein Bett.
Aber ich ging seinem "Wunsch" nach und entledigte mich meines Oberteils. „Was hast du da?“, fragte Asahi plötzlich und ich folgte seinem Blick, der genau auf meine rechte Seite führte, wo ein großer Bluterguss prangte.
„Oh, das ist nichts.“, lächelte ich und setzte mich neben ihn.
Er legte seine warme Hand auf den handgroßen Bluterguss und tastete ihn vorsichtig ab.
Sofort wurde mir wieder warm. Gut, dass der Pulli schon aus war, aber jetzt hatte ich nichts mehr, das ich zum Runterkühlen ausziehen konnte.
„Nichts sieht anders aus, Noya. Das ist keine Quetschung, das muss mit äußerer, roher Gewalt entstanden sein. Hat dich jemand getreten?“
Ich überlegte ein wenig zurück, was mir verdammt schwerfiel, da ich mich, wenn er mich so anfasste, kaum konzentrieren konnte.
„Das ist vor der Schule passiert. Ich bin zu spät losgegangen und die Wache vorm Tor meinte, ich gehöre bestraft. Ich hielte mich nicht an die Regeln.“
Mitfühlend strich er mir immer wieder über die schmerzende Seite. Die Wunde war nicht das, was weh tat. Jede Berührung seiner zärtlichen Finger brannte ein wenig, aber nicht unangenehm. Im Laufe der Zeit legte ich irgendwann meinen Kopf in seinen Schoß und kullerte mich neben ihm zusammen wie ein Katzenbaby.
Er spendete mir Trost. Davon konnte ich nicht genug kriegen. Mir wurde endlich angenehm warm. Ich fühlte mich seit langer Zeit nicht mehr einsam und hoffnungslos, sondern sicher und geliebt. Zwei Gefühle, dessen Existenz ich beinahne vergessen hatte. Geborgenheit und Liebe. Dazu kamen Trost und irgendwann auch pure Zufriedenheit.
„Kannst du etwas sagen? Egal, was.“, flüsterte ich irgendwann. Ich wollte ihn hören und alles andere um mich herum vergessen. Das Leid, die ganze Welt eben. Für einen Moment die Zweisamkeit genießen mit dem Menschen, den ich liebte. Mit dem Menschen, der endlich zu mir zurück gekommen war.
Er begann, mit meinen Haaren zu spielen. War er nervös? Irgendwann stotterte er dann einen Satz, für den er sichtlich Überwindung brauchte.
„Ich liebe dich, Noya.“
Stille.
Ich hatte alles erwartet, nur nicht das. Wieso das plötzliche Geständnis? Warum heute und warum hatte er sich dann so lange immer von mir distanziert? Trotztdem machte es mich glücklich, auch, wenn es tausende Fragen in mir aufwarf.
„Ich-“, begann ich lächelnd und wäre beinahe ins Land der Träume abgedriftet, doch ich konnte meinen Satz nicht mehr beenden, denn dann knallte es mehrere Male laut. Erschrocken fuhren wir beide zusammen. Die nächsten Sekunden herrschte eine erdrückende Stille und außer dem lauten Piepsen in meinen Ohren hörte ich gar nichts mehr.
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