Last Minute

Ethan war nicht nur high. Er war besoffen. Aber Joëlle war es auch. Sie saßen zusammen kichernd auf der Rückbank. Lachten laut. Panda verdrehte die Augen. "Könnt ihr euch mal zusammenreißen?", rief sie barsch. Sie nahm den letzten Zug aus ihrer Zigarette und warf den Stummel über das Fenster hinaus.
Doch Ethan und Jo lachten nur, bewegten sich hinten noch sehr und Lisa hatte am Steuer kaum noch Konzentration. Lisa sah kurz zu Panda hinüber und seufzte. "Kaum lässt man zu, dass die zwei zusammenkommen und schon passiert uns noch mehr Scheiße. Wir hatten vorhin echt Glück, dass der Typ in der Bar Ethan nur einmal kurz eine reingehauen hat." Panda nickte und lächelte schwach. Auf dem Rücksitz fingen Jo und Ethan an, herumzuknutschen und sich etwas zu befummeln. Panda drehte sich um und sah die zwei mahnend an. "Hey! Wartet gefälligst bis zu Hause und nehmt euch ein Zimmer!" Doch die zwei beachteten sie nicht und Panda drehte sich seufzend wieder zur Straße hin. Und in dem Moment geschah es.

Grelles Licht blendete alle Passagiere des Wagens. In Lisas Gesicht stand der Schreck geschrieben und sie krallte sich so sehr an das Lenkrad, dass ihre Knöchel weiß wurden. Die Scheinwerfer des Geisterfahrers blendeten alle. Lisa bremste so sehr es ging. Riss das Lenkrad instinktiv zur Seite. Sie krachten gegen irgendeine Straßenmarkierung, bretterten dann weiter in eine dunkle Wiese und unsanft prallte das Auto gegen einen Baum.

Es war nur eine Sache von wenigen Sekunden, doch es war, als würde es viel länger dauern. Ethan blutete am Kopf, seine Lunge drückte etwas. Seine Augen waren weit aufgerissen und er war schlagartig nüchtern. In seiner Hand, noch die warme Hand von Jo. Ihre Seite des Autos sah schrecklich aus. Die Seite hatte etwas Straßenmarkierung abbekommen. Das Glas des Fensters war zerbrochen und sie hatte viele Schnittwunden. Sie war bewusstlos, nur bewusstlos, doch verlor sie zu schnell Blut. "Jo!", krächzte Ethan panisch, "Joëlle! Jo!" Sie stöhnte auf, machte mühselig ihre Augen auf. Sie starrte Ethan ins Gesicht. Erleichtert, dass sie noch lebte lächelte er. Er lachte, doch es tat weh, wenn er lachte. Es war ihm egal. "Jo! Wie fühlst du dich?", fragte er. Doch Jo seufzte nur. Sie schloss kurz die Augen, als ob sie schlafen wollte. Doch dann öffnete sie die Augen wieder und sagte: "Ethan... erinnerst du dich, wie du mich zu der Kastanie bestellt hast?" Ihre Stimme war brüchig und Ethan starrte sie entgeistert an. Sie lächelte und sagte schließlich den Satz, den er schon früher hören wollte. Ein Flüstern, ein leichtes Röcheln fast. "Ich... liebe dich, Ethan Fawkes."

***

"Jo? Joëlle! Jo! Sag was! Jo! Ich... stirb mir nicht weg! Ich..."

"..."

"Lisa? Panda?"

"..."

"Lisa!!!!"

"...Ethan...?"

"Panda! Alles okay mit dir? Sag etwas!"

"Mh... ruf... 911... Eth...nn..."

***

Es dauerte gefühlte Stunden, bis der Krankenwagen ankam. Lisa war bei dem Aufprall sofort tot. Joëlle verblutete, als die Sanitäter sie fanden. Panda war schwer verletzt. Ethan hatte sich sämtliches gebrochen und sein Kopf sah nicht gut aus. Doch er war stabil. Als sie im Krankenhaus ankamen wurden beide schnellstmöglich behandelt. Doch Panda starb bei einer OP. Ethans erste Worte, als er aufwachte waren, wo seine Schwester war. Wo seine Freundin war und wo die Freundin seiner Schwester war. Doch er wusste die Antwort eigentlich, die man ihm schließlich gab. Und er brach zusammen, sein Zustand wurde wieder instabil. Und er fiel in einen tiefen Schlaf, den er erst zwei Monate später wieder entkommen würde.

***

"Panda?" Ich stehe auf dem Dach. Doch ich habe nicht die Absicht hinunter zu stürzen. Meine Schwester steht vor mir. So wie ich sie gekannt habe. Ihre langen blonden Locken fallen elegant über ihre Schultern. Sie lächelt. Ich ebenfalls. "Du bist auch tot, oder?", frage ich. Sie nickt nur. Ich seufze. "Ich habe mich so sehr gefragt, warum das alles soll. Diese Realität, diese Existenz. Aber ich glaube, langsam erinnere ich mich wieder. Jo hat mich auch geliebt. Und kaum tat sie es, starb sie..." Panda nickte abermals. "Es ist nicht deine Schuld, Ethan. Und nichts wäre besser geworden, wenn sie dich nicht geliebt hätte."

Ich halte kurz inne und nicke langsam. "Und nun... muss ich mich von dir verabschieden", sage ich. Ich fühle mich, so, als ob ich weinen muss. Ich zittere ein bisschen. Meine Gedanken rasen,so viel ist es für mich. Die Fragen, die ich mir so lange gestellt habe.Die Zweifel, die Schuldgefühle und meine unendliche Trauer. Alles wirkt endlich bezwingbar.

Wann hat das Warten ein Ende?

Es gibt kein Warten mehr. Es gibt nur noch diese einzige letzte Minute. Die letzte Minute im Leben, die man sich entscheidet wie es weitergeht. In der einem bewusst wird, was überhaupt passiert. Diese letzte Minute, die man auskosten will und kann. Denn alles hat irgendwo einen Grund, auch wenn es zunächst nicht ersichtlich ist. Das weiß ich jetzt.

"Danke, Panda." So viel steckt in diesem "Danke" , dass man es kaum ausdrücken kann. Danke, dass du meine Schwester warst, danke, dass du immer an mich geglaubt hast, danke, dass du mich nicht abgeschrieben hast. Danke Panda. Du hast mir geholfen, zu realisieren, was wahr und was falsch ist. Und egal was ich war, was ich werden soll. Du warst schon immer auf meiner Seite. Du und Jo und sogar auch Lisa...

"Danke", sagte ich.

Mit diesen Worten wurde alles grellweiß. Sie verschwand in dem Weiß. Ich weiß, dass es Zeit ist loszulassen. Ich springe vom Dach. Und bin dabei so frei wie nie zuvor. Ich springe...

und ich wache auf.

Allison bringt mir mein Frühstück, ich lächele sie an. Sie lächelt zurück. Vielleicht, irgendwann, kann ich selber an mir glauben, so wie Panda es getan hat. Vielleicht, irgendwann, kann ich mich selber lieben, so wie Jo es getan hat. Und vielleicht kann ich irgendwann mein stiller Unterstützer sein, der nicht urteilt. So wie Lisa.

Vielleicht, irgendwann, kann ich wieder glücklich sein.

Und meine letzte Minute meines Lebens könnte glücklich werden. Ausgefüllt. Ja, dafür könnte ich leben.

ENDE

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