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Ich kann nicht ausweichen, sehe nur ihre Hand auf mich zukommen, wie in Zeitlupe trifft sie mein Gesicht, wo genau lässt sich nicht sagen. Meine Wahrnehmung mag langsam sein, doch in Wirklichkeit geht es alles unglaublich schnell. Meine Knie, ich spüre kaum, wie sie einknicken, der Schmerz, der sich ausbreitet, rasant, er überdeckt es. Stehe ich noch? Ich sitze irgendwo, nein, liege, versuche, mich aufzurichten, erkenne nichts um mich. Es dreht sich. Alles dreht sich. Hände, die nach mir greifen.
Stimmen.
"Was fällt dir ein?!"
"Was ist passiert?"
"Alles in Ordnung?"
"Sag mal, spinnst du?"
"Clara!"
Leute, die mich kennen. Wahrscheinlich kenne ich sie auch. Mir ist schwindelig. Nein, schlecht.
Ich muss mich vielleicht übergeben.
Oh Gott, bitte nicht, bitte nicht!
Nein, nicht übergeben, mehr, schlimmer.
Aber was?
Alles dreht sich.
Was ist los?
Es dreht sich langsamer.
Grün. Rot. Rote Linien, und weiße, und gelbe und schwarze. Grüner Boden. Ich stütze mich mit der Hand ab, richte mich auf, es rauscht in meinem Kopf.
Eine Hand greift nach meiner, Lunas Hand.
Zieht mich hoch.
Ich erinnere mich. Nia hat mich geschlagen. Nia hat mich geschlagen?
Wie Nebel ist die Erinnerung in meinem Kopf, Nebel, der sich jetzt langsam wieder verzieht und mich klarer denken lässt. Ich stehe, aufrecht. Ich habe mich nicht übergeben. Was wäre noch passiert, wäre da nicht Lunas Hand gewesen? Ich wäre ohnmächtig geworden, wahrscheinlich. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlen würde, aber ich war wie auf einer unsichtbaren Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein.
"Kann ich rausgehen?"
Meine Stimme zittert, hört sich aber nicht so schwach an, wie ich es erwartet hätte. Frau Winkler kommt zu mir, fragt mich, ob es mir wirklich gut gehe, blickt auf meine Hand.
Sie hält immer noch Lunas umklammert.
"Ich komme mit", sagt Luna. Sie sagt es nicht, wie es die Leute in der Schule machen, nur um Unterricht zu verpassen. Sie sagt es, weil sie sich Sorgen macht.
Ich merke, wie meine Hand zu schwitzen beginnt. Es ist stickig in der Halle.
Mit Luna trete ich heraus, wieder durch die Glastür, durch die wir erst vor ein paar Minuten gekommen sind. Oder ist mehr Zeit vergangen, während ich halb bewusstlos war?
"Mir geht's schon viel besser", sage ich, bemühe mich, wirklich stark zu klingen. Die Schmerzen klingen tatsächlich ab, aber etwas bleibt. Die Frage. Wieso hat Nia mich geschlagen? Mich geschlagen, so, dass ich fast zusammengebrochen wäre?
Aber ich frage Luna nicht. Sie weiß sicher genau so wenig wie ich.
Die Luft ist kalt, füllt meine Lungen aus und ich kann mich zu einem halb echten Lächeln zwingen. Schwindelig ist mir nicht mehr, ich kann allein stehen. Alles halb so wild, rede ich mir ein.
Ja, halb so wild vielleicht.
Aber nicht grundlos.
Luna schaut mich an, dann zu Boden, ihr Blick wandert auf und ab an mir. Ich versuche, in ihre Augen zu sehen, doch sie schaut weg. Immer wieder. Nervös spielt sie mit einem unscheinbaren, silbernen Ring an ihrer rechten Hand, der mir noch nie aufgefallen ist. Angespannt, fast verkrampft sieht sie aus, weicht zurück, als ich näherkommen will.
"Was ist los?", frage ich. Es stimmt etwas nicht, das sehe ich. Nur was?
"Ich weiß" Ihre Stimme klingt abgehackt, so kenne ich sie gar nicht. "Warum sie dich geschlagen hat." Die letzten Worte presst Luna schnell hervor, ihre Finger, die eben noch mit dem Ring gespielt haben, verkrampfen sich.
"Was?" Ich kann den Schock nicht verbergen. Was weiß Luna von Nia? Und woher? Tausend Gedanken kommen mir in den Sinn, die verrücktesten Theorien, doch keine kann wahr sein. Keine hat etwas mit Luna zu tun.
"Es tut mir Leid", murmelt sie, mit leiser Stimme.
"Hey", sage ich schnell. "Alles gut, nicht weinen, alles okay!"
Luna schüttelt den Kopf.
Mein Blick fällt wieder auf ihre Hand, sie hat den Ring abgenommen und balanciert ihn auf dem Handrücken, als sie zu schluchzen anfängt.
Lunas Hand zittert, der Ring fällt hinunter, landet im Gras.
Ich bücke mich, um ihn aufzuheben, ihn ihr zurückzugeben.
Will sie umarmen, irgendetwas tun, um ihr zu helfen, doch sie stößt mich weg. Ich stolpere, kann mich gerade noch fangen.
Wie in Zeitlupe öffnet Luna den Mund, setzt zum Reden an, bringt kein Wort hervor, schließt ihren Mund wieder. Ich warte. Was sollte ich sonst auch tun.
Warte, bis sie es sagt.
"Er ist von ihr."
Er? Der Ring? Etwas anderes kann sie ja wohl kaum meinen, aber was ist mit dem Ring? Ich frage nicht, will nicht dumm wirken.
Von ihr. Sie. Nia?
Ich komme mir blöd vor, wie ich so lange über diesen Satz nachdenken muss, und dann frage ich doch. "Von Nia?", frage ich und Luna nickt und auf einmal weiß ich alles.
Die ganze Geschichte. Die ja eigentlich nicht besonders kompliziert war. Es ist wie verknotete Fäden, die sich lösen, wenn man nur an einem von ihnen zieht.
Die Geheimnisse.
Alles.
In einem Moment wird es mir klar.
Ich spreche ganz ruhig, ganz normal. Frage nicht, zähle lediglich Tatsachen auf. Ohne Emotionen. Ich weiß es. Alles.
"Das war also dein Geheimnis. Es hatte nichts mit mir zu tun. Ich war nur ein Mädchen auf einer Party, an einem Abend. Es war nicht nur dein Geheimnis. Es war nicht unser Geheimnis. Ich dachte das nur."
Ich mache eine Pause. Äußerlich bin noch immer ruhig, sehe das alles ganz einfach objektiv. Aber in mir bricht der Vulkan aus.
"Du bist mit Nia zusammen."
Eine Lüge. Alles eine Lüge. Ich habe mich darauf eingelassen, weil ich dachte, ich könnte einfach vertrauen. Hätte immer einen Fehler gemacht, wenn ich misstrauisch war.
Ich lasse Luna nicht zu Wort kommen, ich muss weiterreden, weiter so tun, als wäre nichts. Gar nichts.
"Du hast mir nichts davon verraten. Du hast dich einfach so benommen, als gäbe es sie nicht. Sie hat uns ja nie zusammen gesehen, nie so richtig. Deshalb war sie auch so wütend, gestern beim Essen, deshalb tat sie so, als wäre sie homophob oder so was. Sie ist aber nicht homophob. Das hat sie mir später dann auch erklärt, ganz schön überzeugend geschauspielert, alles. Ihre Rolle als verwirrte Hetero.
Ich verstehe Nia. Ich verstehe, warum sie dich toll findet, deine wunderschönen Haare, dein Lächeln, dein... alles.
Ich verstehe was sie gemacht hat, warum, wie und so weiter.
Aber ich verstehe dich nicht.
Warum fängst du was mit einer dahergelaufenen eifersüchtigen Lesbe an, und vor allem, was willst du dann von mir?"
Ich breche ab, weiß nicht mehr, wie ich auch weiterreden sollte.
"Nia ist pan", sagt Luna.
Mehr nicht. Sie widerspricht mir nicht.
Ich sage auch nichts mehr.
Ich renne.
Ja, ich lebe auch noch. Tut mir Leid, dass länger kein Kapitel kam, ich hatte weder Motivation noch Zeit.
Aber hier bin ich ja wieder, mit einer Extra-Portion Drama. Ich hoffe, es wird euch nicht zu viel.
Auf jeden Fall nochmal, vielen, vielen Dank fürs Lesen!
Eure Johanna❤
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