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Als wir uns ein paar Minuten später mit den Lehrern zum Wandern treffen, bin ich immer noch verwirrt. Wütend. Verletzt. Ich finde Luna, Jona und Sarah ganz vorne in der Gruppe. Keiner spricht mich auf die Sache mit Nia an. Ich wünschte, jemand würde es tun. Dann könnte ich ihnen alles erzählen. Alles...
Und ich glaube, es wäre gut, es zu erzählen.
Alles. Allen.
Die ganze Geschichte.
Das ganze Geheimnis.
Es tut weh, es will raus und ich weiß, wenn ich noch lange warte, dann macht es mich von innen kaputt.
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Luna zieht mich näher an sich, küsst mich und ich mache einfach mit. Denke nicht nach. Ich versinke in dem Kuss, lasse nichts von der Außenwelt an mich heran. Alles ist egal. Alles. Alle.
Sie ist da. Mehr nehme ich nicht wahr. Und mehr brauche ich auch nicht.
Bis ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, eine große Hand, mit Fingernägeln, die sich in den Stoff meines Tops bohren, und die mich ruckartig zurückzieht. Ich kann noch das Entsetzen in Lunas Gesicht sehen, dann schubst er mich zu Boden. Luna schreit. Ich weiß nicht, was. Ich bin wie in Trance, Bildfetzen treten vor meinem inneren Auge auf und ich bin mir nicht sicher, was real ist und was nicht.
Dieser Typ, er brüllt Luna an. Ich sehe sie weinen, für den Bruchteil einer Sekunde, sehe ihn, einfach nur wütend. Aggressiv trifft es besser. Seine Hand. Ballt sich zur Faust, wie in Zeitlupe. Lunas Augen, voller Tränen. Und ich weiß nicht, ob sie weint, oder ob sie schreit oder was auch immer sie tut. Töne dringen kaum zu mir durch.
Und da erkenne ich den Typen.
Es ist der, der mit Luna hier war. An dessen Arm sie sich geklammert hat, ganz zum Anfang der ?Party, als ich sie heute das erste Mal gesehen habe.
Ich habe ihn vergessen, vergessen, dass er überhaupt existiert. Ich habe nur an mich gedacht, als ich Luna geküsst habe. Nicht an sie. Was mit ihr passieren könnte.
Nicht an ihn. Was er tun könnte, wenn er uns zusammen sieht.
Ich habe nie überlegt, was ich tun könnte, wenn er das vorhat, wonach es aussieht. Er holt aus, die Faust so angestrengt geballt, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Diese kleine Detail, das ich schärfer wahrnehme als alles andere um mich herum, lässt mich wieder klarer denken. Ich liege am Boden. Mein Schädel pocht, ich bin auf den Kopf gefallen. Mit mir ist nichts besonders schlimmes passiert. Mit mir nicht. Aber Luna passiert etwas. Warum tut denn niemand etwas? Sehen sie es nicht? Diesen Typen, wie er mit der Faust ausholt? Sehen sie nicht seine weiß hervortretenden Fingerknöchel?
Nein, das tun sie nicht, und ich frage mich, ob ich mich glücklich schätzen sollte, weil ich hier liege und alles sehen kann. Jedes Detail. Oder ob es ein Unglück ist, dass ich es so nah miterleben muss.
Ich rappel mich hoch, so gut es eben geht, wenn einem schwindelig ist und man gerade erst zu Boden gestoßen wurde. Ich komme auf die Beine, noch immer dreht sich alles.
Ich hole aus, balle die Faust, so dass meine Fingerknöchel ganz sicher weiß hervortreten. Er schlägt nicht zu. Aber ich. Ich treffe seine Nase, so ungefähr, genau kann ich es nicht sagen. Seine Hand wandert langsam nach oben und beführt sein Gesicht. Ob da Blut ist? Ich sehe es nicht. Die Welt um mich dreht sich. Ich schlage zu, in die ungefähre Richtung seines Kopfes, wieder und wieder. Ich schreie, kann kaum hören, was ich schreie. Andere Schreie dringen zu mir durch, doch ich nehme sie kaum wahr. Das einzige, was ich wahrnehme, ist, wie der Typ zu Boden geht und wie Luna mich ansieht, geschockt, und sich wegdreht.
Dann geben meine Beine meinem Gewicht nach und ich falle, mir wird schwarz vor Augen, noch bevor ich aufkomme.
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Luna geht ein paar Meter vor mir. Sie sieht nicht, was in mir vorgeht.
Aber ich sehe es wieder ganz genau vor Augen.
Mein Geheimnis.
Ich frage mich noch immer, ob er wirklich zugeschlagen hätte, hätte ich es nicht getan. Was wäre passiert?
Und was ist passiert? Luna hat den Notdienst gerufen, als ich wieder zu mir gekommen war, weil der Typ sich nicht mehr gerührt hat, aber die haben ihr nicht geglaubt. Ein angetrunkenes, 14-jähriges Mädchen, das bei der Polizei anruft und zusammenhangsloses Zeug stottert. Ihr glaubt man nicht.
Ich weiß nicht, was ich dem Typen getan habe. Er ist nicht tot, so viel ist klar.
Aber ich habe jemanden geschlagen, der jetzt vielleicht im Krankenhaus liegt oder im Rollstuhl sitzt oder was ich, was ich ihm angetan habe.
Und das ist schlimm genug.
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