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Wir sind die 9b. Die schlimmste Klasse des ganzen Anne-Frank-Gymnasiums, der einzigen Mädchenschule in Erlangen.
Alle Lehrer hassen uns, und das hat einen guten Grund. Wir hassen uns untereinander nämlich mindestens genau so. Und es stört uns nicht, das zu zeigen.
7:52 Uhr.
Der Lehrer, den wir in der ersten Stunde haben, zögert die Begegnung mit uns so weit wie möglich hinaus. Aber wir sind alle schon da. Klar, der Bus kam schließlich schon vor 5 Minuten an und aus einem sich mir nicht erschließenden Grund nehmen wir den alle. Weitere 17 Minuten (für mich zumindest), die wir gemeinsam auf engem Raum und ziemlich unfreiwillig verbringen.

Das Klassenzimmer, in dem wir jeden Tag 6 x 45 Minuten unseres Lebens verschwenden, ist grau und kahl. Ich meine, wer macht sich schon nach der vierten Klasse noch die Mühe, einem Klassenraum das Gefühl zu geben, er könnte in irgendeiner Weise schön sein? Die Wände waren mal weiß, doch die Zeit und sämtliche Schüler vor uns scheinen nicht sonderlich freundlich mit ihnen umgegangen zu sein. Ebenso verhält es sich mit den wackeligen Zweiertischen, mit dem einzigen Unterschied, dass deren Ursprungsfarbe wahrscheinlich grün war. Im Laufe der Jahre haben sich schrecklich viele Schüler, beziehungsweise Pseudo-Künstler in diesem Raum verewigt, an Wänden, Tischen, der Tafel. Mit Edding. Und irgendwann hat den auch keiner mehr weggemacht. Deshalb ist das Zimmer jetzt so, wie es ist. Hässlich.

Jona ist die einzige, die den Bus nicht nimmt. Vielleicht, um uns nicht allzu lange ertragen zu müssen. Vielleicht auch einfach, weil sie direkt gegenüber der Schule wohnt. Was weiß ich schon.
Aber gerade jetzt stößt sie die Klassenzimmertür auf, kommt rein und zieht so halb die gelangweilte Aufmerksamkeit auf sich, den von Blättern überquellenden Ordner unter dem einen Arm, einen Stapel Papier unter dem anderen, Füller hinter dem Ohr. Die schmutzig blonden Haare hat sie zu einem unordentlichen Dutt gebunden. Und mit 'unordentlich' meine ich nicht den lächerlichen, instagramreifen Messy Bun. Ich meine 'unordentlich'.  Als hätte sie seit Tagen ihre Haare weder gekämmt, noch gewaschen. Ich nehme an, das sagt genug über sie aus.
"Leute", ruft sie, das Wort unnötigerweise skurril in die Länge ziehend. Fremdscham, denke ich mir, wen will sie hier schon wirklich mit ihrem Gerede erreichen?
"Alle mal zuhören!"
Niemand wird leise. Was hätte ich schon anderes erwartet?  Nia, neben mir, summt. In ihren Ohren hört es sich wahrscheinlich harmonisch-melodisch oder was weiß ich an, passt im besten Falle auch noch in die Situation. Für alle umstehenden ist es schlichtwegergreifend schrecklich schief. Gerne würde ich mir die Ohren zuhalten, doch das würde die unweigerliche Folge haben, dass ich nicht weiter mitschreiben kann, was um mich herum passiert. Das mache ich immer, mitschreiben, wahrscheinlich vor allem, weil ich in der Schule nichts Besseres zu tun habe. Beziehungsweise gar nichts. Und weil ich immer noch die naive Hoffnung verfolge, damit Ordnung oder so etwas in meine Kopf zu bekommen. Ordnung, über die Sache von Donnerstag.

Außer mir (und eventuell Nia, falls ich die Ursache ihres Singens richtig gedeutet habe) scheint tatsächlich niemand Jona bemerkt zu haben. "Ich hab was mitgebracht!", ruft die, jetzt noch lauter, versucht umständlich, uns ihre Blätter zu zeigen. Ich sehe es schon kommen und lache daher nicht einmal, als die Hälfte ihren Fingern entgleitet und zu Boden segelt, wie gepackt von einem Windstoß aus dem Nirgendwo flattern die Seiten umher, verteilen sich im ganzen Zimmer.  Gelangweilt klopfe ich mit dem Werbe-Kuli auf meinen zerfledderten College-Block. Irgendwer lacht an meiner Stelle. Ich tippe auf Christina, weil es eigentlich immer Christina ist. Aber meine Augen sind auf den Kuli gerichtet, auf das Logo irgendeiner Bank oder Versicherungsgesellschaft, die mir das Ding geschenkt zu haben scheint. So halb gekonnt ignoriert Jona die Tatsache, dass sie schon wieder zum Spottobjekt geworden ist und schreit weiter. Ich wette, zu Unterichtsbeginn ist sie schon heiser. Christina lacht immer noch, gackernd, oder, anders ausgedrückt, völlig verstörend. Fremdscham, denke ich nur wieder.
"Ich habe ein gesellschaftliches Experiment!", brüllt Jona und es ist deutlich zu hören, wie ihre Stimme abknickt bei dem Versuch, den Lärm zu übertönen (Was komplett unnötig ist, da ihr so oder so niemand zuhört). 
Das Prinzip 'Gesellschaftliches Experiment' kennen wir bereits. Wahrscheinlich hat Jona es aus der Schülerzeitung, einer AG mit etwa zehn Mitgliedern, alle ähnliche Loser wie sie. Aber entweder haben sie Leser mit extrem seltsam einseitigen Interessen oder einfach gar keine, sodass es egal ist, jedenfalls kommt sie etwa alle zwei Wochen mit einem neuen 'gesellschaftlichen Experiment' an.
Mein Blick schweift durch das Klassenzimmer. Nia, neben mir, summt vor sich hin. Die Melodie, wenn man es denn überhaupt so bezeichnen darf, hat sich verändert. Nicht ins Positive.
Jona steht noch vorne, aber jetzt höre selbst ich nicht mehr zu. Christina gackert schon wieder - oder immer noch? Sie besetzt allein die gesamte erste Reihe, die ihr auch nie jemand strittig macht. Ich sitze so ziemlich mittig, direkt hinter Luna. Bleistifte aller möglichen Weichen und Buntstifte aller möglichen Farben in einem regen Chaos um sich verteilt, zeichnet sie. Nur für einen Moment nimmt sie die Hände vom Papier, lehnt sich zurück, wohl, um ihr Werk aus etwas Entfernung zu betrachten. Und das ist der Moment, in dem auch ich es sehen kann. Die schulterlangen, leicht lockigen Haare, die das längliche Gesicht eines Mädchens umrahmen. Fast skurril große Augen in einem undefinierbaren Blau-Grau-Grün-Ton. Eine im Vergleich lächerlich kleine, kindliche Nase.
Erst, als ich die Hand wieder sinken lasse, wird mir klar, dass ich sie gehoben habe, um mein Gesicht abzutasten, mir durch die ungekämmte Haarmähne zu fahren.

Unverkennbar.

Das bin ich.

"Lass den Scheiß ", sage ich und wünsche nur, das ganze Mitschreiben hätte tatsächlich Ordnung gebracht. Oder Akzeptanz. Oder irgendetwas, irgendetwas einfach. Stattdessen merke ich, wie mein Atem schneller geht, meine Stimme quietschig wird, als ich, unfähig, über Worte nachzudenken, nur hervorbringe, "So seh ich nicht aus." 

Sie dreht sich zu mir, lächelt, und ich kann nicht sagen, ob es ein gezwungenes Lächeln ist, oder ein freundliches. Keines von beidem würde mich sonderlich verwundern. Dennoch wirft mich ein Lächeln völlig aus der Bahn.
Ein Ausdruck, den ich nicht gewohnt bin. Nicht hier. Nicht in dieser Klasse. Ich weiß gar nicht, warum wir uns so hassen, es ist eben einfach so. Es stört mich nicht. Eigentlich stört das niemanden, außer ein paar Lehrer vielleicht.
Und Luna. Luna ist zu allen nett und aus irgendeinem Grund kotzt mich das total an. 

"Geheimnis"
Das Wort lässt mich zusammenzucken. Jona  hat es gesagt. Was weiß sie? Weiß sie irgendwas?!? "Was hast du gesagt?", frage ich, sicher, dass man den Schock in meiner Stimme hören kann. Aber Jona scheint lediglich überrascht, dass überhaupt jemand auf sie achtet. "Also", beginnt sie und erklärt ihr ganzes 'gesellschaftliches Experiment' noch mal. Drei Sätze, als sie es zusammenfasst. Aber drei Sätze, die es in sich haben.
"Wir werden für einen Tag die Wahrheit sagen. " Mit Schaudern stelle ich fest, dass es still in der Klasse geworden ist. "Das heißt, keine Lügen. Kein Leugnen. Und Klappe halten gilt auch nicht." 

"Wir lügen doch nicht!", ruft Sarah, ohne eine Spur Ironie in der Stimme, dabei ist sie die größte Lügnerin, die ich kenne.
"Aber wir alle", sagt Jona und ihre Stimme klingt  ein bisschen geheimnisvoll, fast schon mysteriös.
"Haben doch ein Geheimnis."

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