8. Dezember: Wer wagt, gewinnt
livia_calea versüßt uns den 8. Dezember mit ihrem schönen One Shot :-) Ich danke auch dir 1000 mal dafür, dass du ein Teil dieses Adventskalenders bist und so etwas schönes in die Tasten gehauen hast xx
Vielen Dank an alle von euch, die so fleißig mitlesen und kommentieren. Endlich ist mal wieder etwas Action auf diesem Account hehe :P Ich wünsche euch einen wundervollen Sonntag!
xx Michelle
Wörteranzahl: 3701
Eisige Kälte empfing Harry, als er am Freitagabend das Bürogebäude verließ. Fröstelnd zog er den Kopf ein und vergrub seine Hände in den Manteltaschen. In den letzten Wochen war es unheimlich kalt geworden und Harry wartete nur auf den ersten Schnee, der dann zu matschigen, braunen Pfützen dahinschmelzen würde. Er war kein sonderlich großer Freund vom Winter und sehnte sich jetzt schon nach dem Sommer, dabei hatte der Dezember gerade erst begonnen.
Mit seiner Aktentasche unter dem Arm machte er sich auf den Weg zu seinem Auto, das er am Morgen hinter dem Bürokomplex geparkt hatte. Sein schwarzer Mercedes war das letzte Auto auf dem sonst leeren Mitarbeiterparkplatz. Nicht, dass es Harry überrascht hätte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal vor seinen Kollegen das Büro verlassen hatte.
Schon von Weitem konnte Harry die vereiste Frontscheibe seines Wagens erkennen und ärgerte sich darüber, dass er nicht in der Tiefgarage geparkt hatte. Genervt warf er seine Aktentasche auf den Beifahrersitz, bevor er den Eiskratzer aus dem Handschuhfach holte. Nachdem die Scheibe wieder eisfrei war, ließ Harry sich auf den Fahrersitz fallen, startete den Motor und stellte die Sitzheizung an. Obwohl er keinen großen Wert auf überteuerte Luxuskarren legte, freute er sich doch hin und wieder über die Annehmlichkeiten seines Wagens. Wer würde einen wärmenden Sitz bei Minusgraden schon ausschlagen?
Harry fuhr vom Parkplatz und Richtung Innenstadt. Eine Verabredung hatte er an diesem Abend nicht mehr, aber nach Hause fahren wollte er auch noch nicht. Also schlug er den Weg zum Fitnessstudio ein.
In der Stadt herrschte das übliche vorweihnachtliche Treiben. Der Weihnachtsmarkt hatte seit einer Woche geöffnet und seitdem quoll die Stadt über vor Menschen, die gemütlich umher schlenderten, Lebkuchenherzen kauften und Glühwein tranken. Die Straßen funkelten im Schein der vielen Lichterketten und jeder Stand, jede Imbissbude und jedes Karussell war dekoriert bis ins letzte Detail.
Am Fitnessstudio angekommen, fuhr Harry direkt in die Tiefgarage. Normalerweise parkte er immer im Innenhof, aber er hatte aus seinem Fehler gelernt und wollte nicht, dass die Scheiben wieder einfroren. Er schulterte seine Sporttasche, die er immer in seinem Kofferraum mit sich herumfuhr und nahm den Aufzug in den siebten Stock. Hier war das Studio bis auf ein paar vereinzelte Sportler wie ausgestorben.
Nachdem Harry sich umgezogen hatte, wärmte er seine Muskeln auf dem Laufband auf. Mit jedem Schritt schüttelte er die Arbeitswoche von sich ab und spürte, wie sein Körper sich langsam entspannte. Nur seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Während er gleichmäßig vor sich hin joggte, blickte er durch die bodentiefen Glasfenster auf die Stadt hinunter. Egal wohin er sah, überall tummelten sich Menschen und genossen ihren Einstand ins Wochenende. Eltern, die mit ihren Kindern gebrannte Mandeln aßen. Freunde, die sich Zuckerwatte teilten und Kollegen, die sich nach der Arbeit gemeinsam einen Feierabend-Drink gönnten.
Plötzlich traf Harry die Einsamkeit mit solch einer Wucht, dass er aus dem Laufrhythmus kam. Schnell drückte er den Stopp-Knopf, um das Laufband anzuhalten. Schwer atmend kam er zum Stehen und wischte sich mit seinem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Er konnte seinen Blick nicht von der belebten Stadt unter ihm lösen. Wann war er das letzte Mal Teil von etwas so Lebendigem gewesen? Wann hatte er das letzte Mal richtig Spaß gehabt und herzlich gelacht? Wann hatte er das letzte Mal eine Party besucht? Sogar seinen besten Freund Niall hatte er seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil er sich, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, in seiner Arbeit vergraben hatte.
Eine riesige Welle des Selbstmitleids überschwappte Harry. Was war nur aus ihm geworden? Alle Menschen waren in Weihnachtsstimmung und er hing allein im Fitnessstudio herum und schwitzte sich seine Traurigkeit aus dem Körper.
Nicht einmal das Training konnte ihm heute Ablenkung verschaffen. Im Gegenteil, Harry wurde immer betrübter. Nachdem er eine Stunde Gewichte gestemmt hatte, fühlte er sich zwar ausgebrannt und müde, aber das erhoffte Hochgefühl stellte sich trotzdem nicht ein. Als er kurze Zeit später unter der Dusche stand und das warme Wasser auf seinen Rücken prasselte, fasste Harry einen Entschluss. Er konnte jetzt nicht einfach nach Hause fahren und sich in seinem Schlafzimmer verschanzen. Zu viele Jahre hatte er damit verschwendet die Adventszeit zu verteufeln und sich weit weg zu wünschen. Er musste die Vergangenheit ruhen lassen. Harry hatte lange genug in Selbstmitleid gebadet und an diesem ersten Freitagabend im Dezember, wollte er dem ein Ende setzen.
Fest entschlossen schaltete Harry die Dusche aus, trocknete sich ab und zog sich dann eine Jeans, einen blauen Wollpullover und seine Daunenjacke über. Den Anzug, den er den ganzen Tag getragen hatte, stopfte er stattdessen in seine Sporttasche. Ob er darin zerknitterte oder nicht, war ihm egal. Anzüge hatte er weiß Gott genug.
Während er mit dem Aufzug in die Tiefgarage fuhr, rief er Niall an und fragte ihn, ob er spontan Zeit hätte für ein Treffen. Niall wunderte sich über Harrys unangekündigten Anruf und obwohl er ein sehr spontaner Mensch war, hatte Niall an diesem Abend keine Zeit für ein Treffen. „Hättest du nicht eher Bescheid geben können? Ich hätte dich echt gern mal wiedergesehen", maulte er in den Hörer und machte Harry damit ein schlechtes Gewissen. Sie vereinbarten stattdessen für das nächste Wochenende einen Termin und verabschiedeten sich kurz darauf voneinander.
Entmutigt von Nialls Absage steckte Harry sein Handy zurück in die Jackentasche und war kurz davor doch einfach nach Hause zu fahren, als eine Gruppe Jugendlicher aus dem Aufzug trat und auf einen silbernen VW-Bus zusteuerte. Die Jungs und Mädels lachten, redeten durcheinander und schmetterten Weihnachtslieder, die durch die Tiefgarage hallten.
Harry sah den Jugendlichen hinterher, und dann, als hätte ihr Auftauchen einen Schalter in ihm umgelegt, schmiss er seine Sporttasche in seinen Kofferraum und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Heute würde er keinen Rückzieher machen.
Schon von Weitem konnte Harry lautes Gelächter und aufgeregte Stimmen hören. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Er mischte sich unter die Menschen und ließ sich im Strom der Weihnachtsmarktbesucher treiben. Links und rechts von ihm reihten sich die hell beleuchteten Buden aneinander und manchmal blieb er stehen um die Waren in der Auslage zu begutachten.
Irgendwann hatte Harry das Zentrum des Marktes erreicht und machte an einem Glühweinstand Halt. Die kleine Holzhütte war mit grünen Tannenzweigen geschmückt und vom Dach baumelte ein großer, leuchtender Weihnachtsstern. Harry setzte sich an die Bar und machte den jungen Mann hinter dem Tresen auf sich aufmerksam. Mit einem Lächeln im Gesicht kam dieser zu ihm herüber. „Hallo, was kann ich dir denn bringen?" fragte er schwungvoll und seine rote Weihnachtsmütze rutsche ihm dabei fast vom Kopf. „Ich nehme einen Glühwein und eine Waffel mit Puderzucker", antwortete Harry. „Kommt sofort", flötete der Barkeeper und eilte davon.
Kurz darauf stand eine dampfende Keramiktasse vor seiner Nase. Da der Glühwein noch zu heiß war, machte sich Harry erst einmal hungrig über seine Waffel her.
Während er aß, schaute er dem Barkeeper bei der Arbeit zu. Höflich und gut gelaunt bediente er die Gäste und das Grinsen in seinem Gesicht schien wie eingemeißelt. Hier und da machte er eine lustige Bemerkung oder sang ein paar Zeilen eines Weihnachtssongs. Seine fröhliche Ausstrahlung war ansteckend.
Als der junge Mann Harrys leeren Teller abräumen wollte, blieb er kurz bei ihm stehen. „Bist du allein unterwegs oder wartest du auf jemanden?" fragte er Harry und lehnte sich lässig an den Tresen. „Ich bin heute allein unterwegs", sagte Harry und kam sich im nächsten Augenblick ein wenig blöd vor. Wie einsam musste sich dieser Satz angehört haben? Um seine Verlegenheit zu überspielen, nippte Harry an seinem Glühwein.
Der Barkeeper schien sich daran allerdings nicht zu stören und meinte: „Dann ist es doch super, dass du heute hier gelandet bist und die besten Waffeln der Stadt essen kannst. Apropos Waffeln, soll ich dir noch eine bringen?" fragte er Harry und deutete mit einem Kopfnicken auf den leeren Teller vor ihm. Harry nickte begeistert. „Das wäre wunderbar. Danke."
„Ich bin übrigens Louis", stellte sich der junge Mann vor und reichte Harry die Hand. „Freut mich. Ich bin Harry." Die Beiden grinsten einander an. „Arbeitest du immer hier?" wollte Harry wissen, woraufhin der junge Mann den Kopf schüttelte. „Nein, eigentlich arbeite ich tagsüber im Altenheim, aber in der Weihnachtszeit verdiene ich mir hier noch etwas dazu." In diesem Moment war Harry froh seinen teuren Anzug in die Sporttasche gestopft zu haben, statt ihn nach dem Training wieder anzuziehen. „Arbeitest du gerne im Altenheim?", fragte Harry gleich weiter und freute sich darüber, dass Louis scheinbar keine Hemmungen vor Konversation hatte. „Oh ja, ich liebe meinen Job. Ich wollte schon immer mit Menschen arbeiten und irgendetwas machen, wobei ich mein Helfersyndrom ausleben kann. Perfekte Kombination, würde ich sagen." Louis' Humor gefiel Harry und obwohl ihm langsam kalt wurde, beschloss er, noch eine Weile sitzen zu bleiben.
Während Louis die zweite Waffel zubereitete, unterhielten sie sich über ihre Lieblingsbands und tauschten Filmrezensionen aus. Harry erfuhr, dass Louis gern mit seinen Freunden Fußball spielte und dass er eine riesige Familie hatte, mit der er Weihnachten verbringen würde. „Und wie feierst du Weihnachten?" fragte Louis irgendwann und traf mit seiner Frage direkt ins Schwarze. Von einer Sekunde auf die andere war Harrys Laune dahin. „Ich feiere kein Weihnachten. Ich werde wahrscheinlich arbeiten", gab Harry leise zu. „Oh, das tut mir leid", entschuldigte sich Louis sofort. „Das braucht es nicht, ich habe mich daran gewöhnt", beruhigte Harry den zerknirscht dreinschauenden Louis. „Das klingt wahnsinnig traurig. Vor allem für jemanden, der an Heiligabend Geburtstag hat." „Was? Du hast an Weihnachten Geburtstag?" Harrys Augen weiteten sich erstaunt. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der an Heiligabend gleichzeitig Weihnachten und Geburtstag feierte. „Ja, das haben meine Eltern toll hinbekommen, oder?" antwortete Louis mit einem schiefen Lächeln, das Harrys schlechte Laune wegfegte. „Dann werde ich Weihnachten ab heute mögen, weil ich weiß, dass du an diesem Tag geboren wurdest", sagte Harry und wollte sich im nächsten Moment selbst auf den Hinterkopf hauen. Was war das bitte für ein schlechter Spruch? Er hatte eindeutig verlernt wie man flirtet. Louis schien allerdings geschmeichelt zu sein und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er von einem neuen Gast gerufen wurde.
Langsam leerte sich der Weihnachtsmarkt und immer weniger Glühweintrinker kamen an Louis' Stand. Dieser bediente routiniert die letzten Gäste und kam immer wieder zu Harry hinüber, wenn er nichts zu tun hatte. „Ich wollte dich eigentlich nicht fragen, aber es interessiert mich einfach zu sehr. Warum feierst du kein Weihnachten? Und sag jetzt nicht, du bist der Grinch höchstpersönlich." Harry lachte herzhaft und schüttelte dann den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Ich mag die Weihnachtszeit einfach nicht. Sie erinnert mich immer an etwas, an das ich nicht erinnert werden möchte." Louis schien kurz über Harrys Worte nachzudenken. „Woran möchtest du denn nicht erinnert werden?" Harry hatte gehofft um diese Frage herum zu kommen, aber nun schwebte sie zwischen ihnen und wollte beantwortet werden. Louis bemerkte sein Zögern. „Du musst es mir nicht sagen, wir kennen uns ja kaum. Entschuldige, dass ich gefragt habe, ich bin immer viel zu neugierig. Das ist eine meiner Schwächen", ruderte Louis schnell zurück und fing an, die benutzten Keramiktassen abzuspülen. Harry schwieg einen Moment. Dann sah er Louis an und plötzlich verspürte er den Drang sich dem jungen Mann anzuvertrauen. „Meine Mum hatte am 23. Dezember vor 13 Jahren einen Autounfall, weil ein LKW auf einer vereisten Straße ins Schleudern gekommen ist und meine Mum nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Sie wollte mich zu Weihnachten überraschen und kam einen Tag früher von einer Geschäftsreise nach Hause. Ich habe ein paar Stunden später erfahren, dass – Naja,
jedenfalls habe danach keinen Weihnachtsbaum mehr ansehen können ohne in Tränen auszubrechen." Louis hatte aufgehört die Tassen zu schrubben und schenkte Harry jedes Fünkchen seiner Aufmerksamkeit. Harry wagte es ihm in die Augen zu sehen. In seinem Blick fand er kein Mitleid, dafür aber Verständnis und Zuneigung. „Sorry, ich weiß gar nicht warum ich dir das alles erzähle. Eigentlich plappere ich nicht einfach so drauf los. Ich wollte dir deine Stimmung nicht verderben", setzte Harry zu einer Entschuldigung an, aber Louis winkte nur ab. „Harry, es gab mal einen weisen Menschen, der sagte: ‚Es gibt Psychologen, die in einer kurzen weißen Jacke hinter der Bar arbeiten'. Ich trage zwar keine weiße Jacke, dafür aber eine alberne rote Mütze und ich finde es sehr mutig von dir, dass du mir das gerade erzählt hast." Louis sah Harry mit einem so aufrichtigen Blick an, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. „Aber an Weihnachten zu arbeiten ist trotzdem ein Verbrechen, mein Lieber", tadelte Louis ihn und wackelte mit dem Zeigefinger. Harry grinste. „Ich weiß, aber es hilft mir dabei mich abzulenken." „Dann kann ich mich ja glücklich schätzen, dass du heute hier vorbei gekommen bist", freute sich Louis und lenkte die Unterhaltung wieder auf fröhlichere Themen.
Der Glockenschlag riss die Beiden aus ihrem Wortwechsel und ließ Louis erschrocken auf die Uhr schauen. Sie waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie gar nicht bemerkt hatten, dass der Weihnachtsmarkt mittlerweile so gut wie leer war. „Oh Mist, ich verpasse meinen letzten Bus", fluchte Louis und fing an hinter dem Tresen herumzuwuseln, Tassen einzuräumen und die Lichter auszuschalten.
„Ich kann dich nach Hause fahren, wenn du magst", schlug Harry vor und Louis hielt in seinem Tun inne. „Das würdest du wirklich machen? Ich wohne ziemlich weit außerhalb der Stadt." „Ach, das ist wirklich das Mindeste, was ich für meinen Psychologen tun kann", warf Harry lächelnd ein und zwinkerte Louis zu, der daraufhin errötete.
Wenig später liefen sie schweigend in Richtung Tiefgarage. Harry hatte seine Hände in den Jackentaschen vergraben und spielte gedankenverloren mit seinem Autoschlüssel, als er abrupt stehen blieb. Der Gedanke, Louis geradewegs zu seinem Mercedes zu führen, lähmte ihn. Nachdem Louis ihm vorhin indirekt von seinen finanziellen Sorgen erzählt hatte, fühlte sich Harry nun wie der größte Vollidiot. Er wollte nicht, dass er diese Seite an ihm kennenlernte und dann vielleicht dachte, er würde sich für etwas Besseres halten. Aber er konnte ihn nun genauso wenig einfach stehen lassen und sein Angebot zurücknehmen.
„Ist alles okay?" fragte Louis und legte seine Hand auf den Harrys Arm. Besorgt sah er ihn an. „Ich muss Dir etwas sagen", sagte Harry ernst und wand sich unter Louis' Blick. „Sag jetzt bitte nicht, dass du Oasis nicht magst, denn dann muss ich leider auf der Stelle gehen", scherzte Louis und entlockte Harry damit ein Lächeln. Dann setzte er wieder eine besorgte Miene auf. „Keine Sorge, ich mag Oasis." Übertrieben erleichtert atmete Louis auf. „Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen was ich beruflich mache und wenn du gleich mein Auto siehst, hältst du mich vielleicht für einen Angeber und glaubst, ich wäre einer dieser reichen Schnösel", gab Harry ehrlich zu und wartete gespannt auf eine Regung in Louis' Gesicht. Dieser konnte jedoch nur breit grinsen. „Mir ist schon aufgefallen, dass du mehr Geld haben musst als ich. Dein Gucci Schal hat dich verraten", sagte Louis und sah Harry dabei verschmitzt an. Dieser senkte den Blick und trat verlegen von einem Bein aufs andere. „Aber das ist mir wirklich egal, du brauchst keine Angst haben, dass du mir weniger sympathisch bist nur weil du ein teures Auto fährst. Im Gegenteil, es ist wirklich aufmerksam von dir, dass du mich vorgewarnt hast." Beruhigt seufzte Harry auf und legte auch seine Unsicherheit wieder ab. „Das nächste Mal lasse ich den Schal zuhause", antwortete er ihm und musste grinsen.
Als sie kurz darauf vor seinem Mercedes standen, konnte er Begeisterung in Louis' Augen erkennen. Aufgeregt ging dieser einmal um den Wagen herum und blieb dann vor der Beifahrertür stehen. „Um ehrlich zu sein, wollte ich schon immer mal in so einem Auto sitzen", gab Louis zu und strahlte über das ganze Gesicht. Einen kurzen Augenblick lang
fühlte sich Harry undankbar, weil er den Wagen jeden Tag ganz selbstverständlich durch die Gegend fuhr, als würde er seinen Wert nicht kennen. Aber Louis' Vorfreude steckte ihn an und er war froh darüber, ihm einen Wunsch erfüllen zu können.
Während der Fahrt schwärmte Louis immer wieder über die Sitzheizung und schaute sich um, als würde er gleich aus einem Traum aufwachen. „Ich sollte definitiv öfter meinen Bus verpassen", sagte er und schenkte Harry ein zufriedenes Lächeln. „Von mir aus gerne." Schon während Harry diese vier Worte aussprach, fiel ihm auf, dass er den ganzen Abend über mit Louis geflirtet hatte und dieser sogar darauf eingegangen war. Seit der Trennung von Adam hatte er keinen Mann mehr an sich herangelassen. Das war mittlerweile schon fast vier Jahre her und Harry sehnte sich nach Geborgenheit und einem Partner, der nach der Arbeit auf ihn wartete.
„Was machst du denn nun eigentlich beruflich?", fragte Louis in die Stille hinein und unterbrach damit Harrys Gedanken. „Ich bin Wirtschaftsprüfer." „Oh wow, das klingt verantwortungsvoll", kommentierte Louis kleinlaut. Harry warf ihm einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern. „Ich mag meinen Job und ich bin sicherlich ganz gut darin, aber er bestimmt auch mein Leben und heute habe ich gemerkt, wie schlecht das für mich ist", sagte Harry und versuchte vom Thema abzulenken, als Louis dazwischenfunkte. „Hast du denn keine anderen Leidenschaften?" Harry seufzte. „Doch, aber –", setzte er zu einer Antwort an und brach dann ab. „Weißt du was? Du bist doch seit vorhin mein anerkannter Psychologe und weil wir eh noch eine Weile fahren, erzähle ich dir jetzt noch etwas über mich", teilte Harry seine Gedanken mit seinem Beifahrer. Während er seine Augen auf die Straße gerichtet ließ, spürte er Louis erstaunten Blick auf sich. Bevor Harry es sich anders überlegen konnte, redete er einfach weiter.
„Mein Vater war nach dem Tod meiner Mum sehr einsam und wütend. Er war auf einfach alles und jeden wütend und seine einzige Ablenkung war seine Arbeit. Mein Vater war auch schon vor dem Unfall ein Arbeitstier, aber danach war er wie ein Roboter und so behandelte er mich auch. Ich weiß nicht, wann ich ihn das letzte Mal umarmt habe." Harry schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und festigte seinen Griff um das Lenkrad. „Auf jeden Fall hat er mich schon immer sehr gefordert und getriezt. Statt mit meinen Freunden Fußball zu spielen, habe ich am Schreibtisch gesessen und japanisch gelernt. Da war ich sieben. Das hat sich durch meine ganze Kindheit und Jugend gezogen. Aber nach Mums Tod wurde es noch schlimmer. Mein Vater hat mir keine Fehler durchgehen lassen, alles andere als die Bestnote war für ihn eine Enttäuschung. Nach meinem Abitur hat er darauf bestanden, dass ich sofort studiere und das habe ich gemacht. Und nach meinem Studium wollte er, dass ich gleich anfange zu arbeiten. Ich habe immer versucht ihn glücklich zu machen und habe mein Glück total vergessen. Aber als ich das realisiert habe, war es schon zu spät. Also habe ich es meiner Vater gleichgetan und mich in meiner Arbeit vergraben, weil ich gut darin bin und gleichzeitig meinen Vater stolz machen kann."
Sie hielten an einer Kreuzung und bis auf das stetige Klicken des Blinkers war es still. Harrys Blick haftete an der roten Ampel vor ihnen, aber als Louis ihm seine Hand auf den Oberschenkel legte, wagte er es ihn anzusehen. In Louis' Augen glitzerten Tränen, die er sich mit dem Jackenärmel wegwischte. „Sorry, es ist bestimmt nicht sonderlich professionell als Psychotherapeut vor seinen Patienten zu heulen." Harry mochte es, dass Louis es mit einem Satz schaffte, ihm die Anspannung zu nehmen. „Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Es tut mir unheimlich leid, dass du das erleben musstest und dass dein Vater dir so viel abverlangt hat. Ich fühle mich geehrt, dass du es mir erzählt hast." Die Ampel schaltete auf grün, aber bevor Harry losfuhr, sah er Louis in die Augen und hätte sich beinahe in ihnen verloren, wenn es hinter ihm nicht gehupt hätte.
Schnell sammelte Harry sich wieder und drückte aufs Gas. Dann fiel ihm auf, dass Louis' Hand immer noch auf seinem Oberschenkel lag und diese Geste ließ sein Herz hüpfen. Er wollte ihm etwas zurückgeben, ihm zeigen, wie viel ihm dieser Abend bedeutet hat.
„Louis? Hättest du vielleicht Lust auf den letzten Kilometern mal das Steuer zu übernehmen?" Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, schnellte Louis' Kopf zu ihm herum. „Was? Du willst ... Warte, du veräppelst mich doch. Als würdest du mich deinen Wagen fahren lassen", stotterte er hilflos vor sich hin, aber Harry war bereits rechts ran gefahren und hatte am Straßenrand gehalten. „Okay, du meinst es also ernst", stellte sein Beifahrer fest und konnte sich nun gar nicht schnell genug abschnallen. Sie stiegen aus, umrundeten das Auto und tauschten die Plätze. Eifrig stellte Louis den Sitz und die Spiegel richtig ein und ließ dann den Motor an. „Was ist, wenn ich einen Unfall baue? Ich bin noch nie einen Mercedes gefahren", warf er besorgt ein und wandte sich Harry zu. Dieser saß völlig gelassen auf dem Beifahrersitz und grinste vor sich hin. „Das ist bloß ein Auto, Louis. Mein Vater hat es mir zu meiner letzten bestandenen Prüfung geschenkt und ich fahre es nur, weil er sich das wünschen würde. Also falls du einen Kratzer rein machen solltest, geht die Welt nicht unter."
Kurz darauf schoss Louis über die beleuchtete Schnellstraße. Harry hatte seine Augen immer auf Louis' Gesicht gerichtet um jede Sekunde seiner Freude festhalten zu können. Ein Gefühl von Zufriedenheit machte sich in ihm breit und er spürte, dass dieser Abend ein erster Schritt in die richtige Richtung war.
Wenig später hielten sie vor Louis' Wohnkomplex und blieben noch eine Weile stumm nebeneinander sitzen. Harry überlegte, ob er Louis bitten sollte noch ein wenig zu bleiben, als dieser ihm zuvor kam. „Ich sollte rein gehen. Es ist schon spät und ich muss morgen wieder arbeiten. Danke für den schönen Abend und die Heimfahrt", sagte er, aber anstatt sich abzuschnallen, drehte er sich zu Harry um und drückte ihm einen Zettel in die Hand. „Du solltest dringend mal wieder Weihnachten feiern, Harry", sagte er dabei, drückte ihm einen sanften Kuss auf die Wange und war im nächsten Moment auch schon aus dem Wagen gestiegen.
Harry sah ihm verdutzt nach und erst als Louis schon längst im Hauseingang verschwunden war, erwachte er aus seiner Starre und schaut auf seine Hand hinab, die den Zettel fest umklammert hielt. Auch wenn er das Papier noch nicht auseinander gefaltet hatte, wusste er, dass er Louis' Nummer darauf finden würde.
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