1. Dezember - Christmas for Charity

»Harry! Schön, dass du da bist, hier entlang, bitte!« Eine Frau mit Knopf im Ohr und Nikolausmütze auf dem Kopf kommt mir entgegen, sobald ich die Anmeldung hinter mich gebracht und das große Filmstudio betreten habe. »Mein Manager ist noch draußen beim Wagen«, sage ich rasch und deute über die Schulter in Richtung Parkplatz, wo Jeff gerade mit zwei Praktikantinnen damit beschäftigt ist, meine Garderobe aus dem Wagen zu laden.

»Oh, Jeff wird wissen, wo man dich unterbringt. Komm ruhig schonmal mit mir mit«, sagt sie gut gelaunt und winkt mit ihrem Klemmbrett. Obwohl sie kleiner ist als ich, hat sie ein ziemlich schnelles Geh-Tempo drauf und ich komme kaum hinterher. Zeit scheint sie auch keine zu haben, denn bereits auf dem Weg durch das Filmstudio, fängt sie an, mir zu erklären, was heute genau abläuft. Zwar habe ich einen Plan bereits per E-Mail erhalten, aber in letzter Sekunde wird meist noch einiges umgeworfen und so habe ich die aktuellen Informationen.

»Also, die Aufzeichnung beginnt heute um 16:30 Uhr. Eine Durchlaufprobe findet kurz vorher statt, wird sich aber nur auf den Auftritt belaufen, denn alles andere haben wir mit den Moderatoren bereits gestern gemacht. Aufgrund der Covid-19 Regelungen werdet ihr alle natürlich in einem gewissen Sicherheitsabstand zueinander sitzen, trotzdem ist das Tragen einer Maske hinter der Bühne und auf dem Weg in die Garderoben Pflicht. Aber das versteht sich ja von selbst. Die Garderoben sind im ersten und zweiten Stock. Normalerweise hätten wir euch paarweise zusammengetan, aber so bekommt jetzt jeder seinen eigenen Raum. Der Zutritt in diesem Bereich ist nur einer zusätzlichen Person - Manager, oder Personal Assistant - gestattet.«

»Das wäre dann in meinem Fall wohl Jeff.«

»Richtig. Die Maske befindet sich in der ersten Etage und hat sehr strenge Zeiten, deswegen bitte ich dich, pünktlich dort zu sein.« Sie sieht auf die Uhr. »Jetzt haben wir kurz vor 11. Ab 12:15 gibt es Mittagessen unten in der Kantine, da kannst du dich bedienen. Wasser und Snacks stehen aber auch in der Garderobe bereit. Solltest du sonst Fragen oder wünsche haben, wuseln hier genug Mitarbeiter meines Teams herum.«

Mittlerweile sind wir eine Treppe hinaufgestiegen und sie drückt die Tür zu den Garderoben auf.

»Achja und die Produktion wünscht sich, dass die Gäste auch gerne etwas von hier auf Instagram oder sonst wo posten. Je mehr Zuschauer wir haben, desto besser, es ist schließlich für den guten Zweck.« Das ist richtig. Mit dem kleinen Benefizkonzert, das heute online ausgestrahlt wird und bei dem Spenden für Menschen gesammelt werden, die von Covid-19 besonders hart getroffen wurden, hoffen wir, in der Vorweihnachtszeit wenigstens einen kleinen Teil zum Wohlbefinden der Leute beitragen zu können. Ich wurde erst vor drei Wochen angefragt, ob ich hier auftreten will und weil mir die Bühne fehlt und ich natürlich auch meine Bekanntheit nutzen möchte, habe ich zugesagt.

Wer meiner Kollegen sonst noch hier sein wird, weiß ich noch nicht, weshalb ich neugierig auf die Namensschilder blicke.

Olli Murs, Adele, Rita Ora, Sam Smith, Duffy und Ed Sheeran.

ED? Der wollte doch eigentlich ein Jahr Pause machen? Erfreut, dass ich ihn nach langer Zeit mal wieder sehe, will ich dir Tür aufdrücken, doch meine Begleiterin schüttelt den Kopf: »Es tut mir leid, aber es darf nur eine weitere Person in die Garderobe und das ist Eds Managerin.« Achja da war ja was. Also klopfe ich an, drücke die Tür auf und bleibe demonstrativ auf der Schwelle stehen.

»Harry!« Ed springt vom Sofa auf und kommt mir entgegen. Er will mich umarmen, hält dann aber inne. »Ach mist, das geht ja jetzt nicht. Er zieht sich die Maske über und wir stupsen uns zumindest mit dem Ellbogen an.

»Wie geht es deiner Familie?«

»Denen geht es gut, willst du mal Fotos sehen?«

Nachdem ich mir von Eds Tochter gefühlt jedes Foto aus jeder bisher vorhandenen Lebenslage angesehen habe (immerhin ist die Kleine erst knapp ein halbes Jahr alt), muss ich ihm Rede und Antwort stehen. Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesprochen und so holen wir in den nächsten 30 Minuten einiges auf, sodass wir fast die Zeit vergessen und zu spät zum Mittagessen kommen.

Bevor ich die Kantine betrete, mache ich einen kurzen Abstecher auf die Toilette. Ed wartet draußen auf mich und grinst mich an, als ich zurückkomme. Das Grinsen ist so breit, dass ich es sogar durch die Maske erkennen kann.

»Was ist? Hab ich Klopapier irgendwo?«, frage ich und drehe mich einmal um.

»Nein, aber ich habe eben jemanden gesehen ...«

»Was du nicht sagst. Hier sind ziemlich viele Leute, wen genau hast du denn gesehen? Das Christkind?«

»Sozusagen«, sagt Ed grinsend und ich erkenne in seinen Augen genau, wen er gesehen hat. Sofort schlägt mir das Herz bis zum Hals.

Louis.

Er hat Louis gesehen!

»Wo ist er?«, frage ich mit angestrengt ruhiger Stimme und sehe ihn an. Ed nickt zur Tür, durch die man wieder ins Treppenhaus gelangt.

»Ich bin, weg. Iss ohne mich, ja?«

»Selbstverständlich, Harry.« Mehr höre ich nicht mehr, denn ich bin schon wieder auf dem Flur. Der Puls pocht mir in den Ohren. Louis ist hier.

Ich habe ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Ziemlich genau auf den Tag. 9.Dezember 2016 - zwei Tage nachdem seine Mum gestorben war.

In der Zeit ist so viel in meinem und vermutlich auch in seinem Leben passiert und ich bereue es, nicht einfach mal bei ihm vorbeigefahren zu sein. Wir hätten so viel zu besprechen, so viel aufzuholen und jetzt weiß ich nicht, ob es dafür vielleicht zu spät ist.

Die Karriere hat uns auseinandergetrieben. Das Management hat uns zwar toleriert, aber nur hinter der Kamera und Louis wurde es irgendwann zu viel. Er hat mich verlassen und mir damit den wohl bisher größten Schmerz meines Lebens zugefügt. Keuchend steige ich die Treppe zu den Garderoben wieder hinauf. Ich muss mit ihm reden. Ich will ihm keinen Vorwurf machen, dazu habe ich nicht das Recht, denn ich weiß auch, dass er nur eingeknickt ist, um mich zu schützen. Nur meinetwegen hat er sich in Beziehungen drängen lassen, nur meinetwegen hat er sich mit den ganzen Mädels abgegeben - er wollte nicht, dass ich mir das antun muss.

Trotzdem war es irgendwann zu viel und er hat die Reißleine gezogen, um sich und uns beide zu schützen. Ich weiß nicht, wie ich reagiere, wenn ich ihn sehe, weil ich mir nicht einmal sicher bin, wie ich mittlerweile zu ihm stehe. Liebe ich ihn noch genau wie früher? Oder ist zwar eine Zuneigung da, aber eine, die nicht mehr zur Liebe reicht?

Keine Ahnung.

Weil ich seinen Namen auf meiner Etage nicht gelesen habe, suche ich die anderen Garderoben auf und weil die meisten der Künstler gerade beim Essen sind, ist es still auf dem Flur. Ich höre lediglich meinen eigenen Atem und das Herzklopfen, das mir deutlich zeigt, wie dringend ich Louis wiedersehen muss.

Ob er wirklich schon da ist? Und ob er weiß, dass ich auch hier bin? Wenn nicht, dann wird ihn mein Auftauchen gleich ziemlich überraschen.

Meine Hand ist eiskalt, als ich sie zur Faust balle und an seiner Tür klopfe.

»Ja?« Seine raue Stimme bittet mich herein. Kurz werfe ich nochmal einen Blick über die Schulter, dann öffne ich dir Tür einen Spalt und husche verbotenerweise in die Garderobe meines Ex.

»Du...« Louis starrt mich an und erhebt sich langsam von der Couch, auf der er gesessen hat. Er starrt mich an, wie einen Geist. »Du bist auch hier?«

»Ja und du auch, wie es aussieht«, sage ich und muss mich räuspern, weil der Kloß im Hals immer größer wird.

»Das wusste ich nicht ...«

»Hättest du sonst abgesagt?«, wage ich zu fragen. Noch immer lehne ich mit dem Rücken an der Tür und wende die Augen nicht von ihm ab. Auch Louis sieht mich an. Er trägt keinen Mundschutz und ich sehe, dass sich seine schmalen Lippen minimal bewegen, als wäre er nicht sicher, ob er etwas sagen soll.

»Nein hätte ich nicht. Aber dann wäre ich vorbereitet gewesen.«

»Glaub mir, das war ich auch nicht.«

»Bereust du es?«

»Hergekommen zu sein?«, frage ich und sehe ihn an. Wie kann er das denken? Ich würde niemals bereuen, ihn zu sehen.

»Das mit uns meine ich«, sagt Louis leise und weicht meinem Blick aus.

»Nein. Keine einzige Sekunde. Ich bin auf vielleicht etwas zu brutale Weise dadurch erwachsen geworden.« Louis weiß genau, wovon ich spreche und ich bin mir sicher, dass auch er immer wieder an die Zeit denken muss, in der er mich verlassen hat. Ich sehe ihm in die Augen und erkenne denselben Schmerz, den ich empfinde.

»Es war so ungerecht«, stößt er hervor, streicht sich durch die Haare und kommt dann so schnell auf mich zu, dass ich vollkommen überrumpelt bin. Ohne nachzudenken, schließe ich ihn in die Arme.

Mein Herz rast, ich fühle mich schwach und überwältigt - gleichzeitig bin aufgeregt und nervös. Louis riecht noch genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Nur besser. Viel besser. Leicht herb und einfach so vertraut, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich ihn das letzte Mal im Arm hatte.

Louis hebt den Kopf, sieht mich an, dann streckt er eine Hand aus und zieht mir den Mundschutz vom Gesicht.

»Ich dachte, wir sollen Abstand halten...«

»Scheiß doch auf den Abstand. Das habe ich lange genug getan«, sagt er leise und küsst mich. Er zieht sich regelrecht an meinem Kragen hoch und ich kann nur keuchend den Kuss erwidern. Wir haben es nicht verlernt. Wir passen noch immer zusammen, als wären wir füreinander gemacht. Unsere Lippen wissen noch immer, wie es ist, einander zu küssen und mit einem Mal bin ich nicht mehr 26 Jahre alt, sondern 21. So alt, wie ich war, als Louis mich verlassen hat.

»Es tut mir leid. Es tut mir alles so leid. Ich war einfach nicht stark genug, um offen zu dir zu stehen, dabei hättest du es verdient. Du warst immer so offen und gutherzig und ich hab dir durch meine Angst so wehgetan. Ich hab dir Fesseln angelegt, das tut mir so leid, Harry. Kannst du mir verzeihen?«

»Ich glaube, dass ich das längst getan habe. Aber ich vermisse dich und damit kann ich nicht umgehen«, gebe ich zu und erwidere den Kuss gierig. Wer kann schon sagen, wie lange ich die Möglichkeit noch haben werde.

»Ich vermisse dich auch und es tut mir so leid, was da alles zwischen uns schiefgegangen ist. Ich hätte mutiger sein müssen, ich hätte für uns einstehen sollen ...« Louis lässt von mir ab und holt bebend Luft. Ich könnte jetzt sagen, dass auch ich mich für uns hätte einsetzen können, aber das stimmt nicht. Als das Management Louis die ganzen Freundinnen aufgedrückt hat, war ich gerade mal 17 Jahre alt. Was hätte ich schon ausrichten können? Ich war ja noch nicht einmal vor dem Gesetz mündig.

»Was wirst du heute spielen?«, fragt Louis leise und sieht mich an.

»Falling«, antworte ich ebenso leise und denke an die Zeit, in der ich den Song geschrieben habe. Die Tagebucheinträge, die ich dafür durchblättern musste, die Bilder, die ich mir angesehen habe - all das tat unglaublich weh. Aber es hat sich gelohnt, der Song ist gut geworden. »Und was spielst du?«

»Habit.«

»Dann wird das heute wohl ein sehr emotionaler Auftritt«, stelle ich fest und wische mir über die Augen. Ich weiß noch immer nicht, was zwischen uns nun ist, und beiße mir auf die Lippe. »Wie wird es denn sein, wenn wir wieder von der Bühne kommen? Was wird zwischen uns...«

»Ich werde auf jeden Fall da sein, wenn du von der Bühne kommst ...«

»Und dann?« Meine Güte, ich klinge total verzweifelt, das soll so gar nicht rüberkommen, aber ich habe ehrlich gesagt, eine scheiß Angst, dass wir uns dann wieder voneinander verabschieden und das nächste Treffen erst wieder in fünf Jahren zustande kommt.

»Harry, was willst du von mir hören? Ich weiß es doch selber nicht.« Ratlos wirft Louis die Arme in die Luft und dreht sich einmal im Kreis. »Ich weiß nicht, was dann sein wird. Ich weiß nicht, wie...«

»Ich weiß genau wie. Ich habe mir das jahrelang ausgemalt. Wir treffen uns wieder. Wir lassen es drauf ankommen, wir lernen wieder, uns gegenseitig zu vertrauen und wenn wir beide soweit sind, wenn da wirklich wieder Gefühle aufkommen, die stark genug sind, dann...« Ich halte kurz inne, ich weiß nicht, wie Louis es findet, wenn ich gleich von einer Beziehung spreche. Ich traue es mir ja selbst kaum zu, das Wort auch nur zu denken.

»Die Gefühle sind stark genug, Harry. Da bin ich mir sicher. Aber ich muss mich erst wieder im Kopf daran gewöhnen, dass du wieder in meinem Leben bist. Aber, wenn du möchtest, dann gewöhne ich mich gerne daran.« Er hebt den Kopf und lächelt mich unsicher an.

»Ich gewöhne mich da auch gerne daran«, sage ich, mache einen Schritt auf ihn zu, schließe Louis in die Arme und küsse ihn. »Und egal wie viel Zeit wir brauchen ... wir haben jetzt fünf Jahre gebraucht ... solange es nicht nochmal so lange dauert, warte ich, bis wir beide soweit sind.«

Egal wie lange es dauert. Wenn ich weiß, dass ich mit Louis am Ende zusammen sein kann, dann warte ich.

.-.-.-.

Und hiermit melde ich mich mit dem ersten OS in die Vorweihnachtszeit.

Schön, hier wieder hochladen zu können und euch die Zeit bis zu Weihnachten zu vertreiben. Hat euch der Eröffnungs-OS gefallen?

Alles Liebe <3

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