12. türchen - gemma's last christmas
(gemma ist hier die kleine schwester)
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„Es wird schon alles gut", flüsterte Niall und ich biss mir auf die Lippe und nickte.
„Ich hoffe es", sagte ich mit gebrochener Stimme und Niall sah mich nur besorgt an.
„Das hatten wir doch schon, Hazza. Sie schafft das."
Ich schloss die Augen und zwei einsame Tränen lösten sich aus meinen Wimpern und liefen meine Wangen herab. „Aber was wenn nicht?"
Eine Zeit lang sagte Niall nichts, sondern strich nur weiter sanft über meine Schulter und ich wusste auch ohne ihn zu sehen wie er mich gerade ansah. „Auch dann wirst du okay sein", sagte er und ich spürte, dass er Angst hatte wie ich auf diesen Satz reagieren würde.
„Aber sie nicht", hauchte ich ganz leise und Niall zog mich an sich.
„Doch. Sie auch."
Ich heulte in die Schulter meines besten Freundes.
„Du musst heute für sie stark sein, okay?", flüsterte er und ich nickte.
„Ich weiß."
„Denn falls sie es wirklich nicht schafft, sollte sie diese Welt mit einem Lächeln verlassen."
„Ich verstehe das einfach nicht", schniefte ich nach einigen Minuten. „Warum kann ich es nicht sein? Oder...oder irgendeins der Arschlöcher dieser Welt...warum...warum musste es ausgerechnet..." Ich schaffte es nicht den Satz zu Ende zu bringen und vergrub mein Gesicht wieder in seinem Shirt.
„Vielleicht braucht Gott seine Engel einfach im Himmel", flüsterte Niall und sorgte damit nur dafür, dass ich noch mehr weinte.
Erst über zehn Minuten später schaffte ich es Niall loszulassen und meine Tränen wegzuwischen. Er brachte mich nach unten und wir gingen zusammen in die Küche. Meine Eltern saßen dort bei Nialls Eltern und lächelten mir müde zu. Ich lächelte schwach zurück und sah zu meinem besten Freund.
„Danke", meinte ich.
„Keine Ursache, Harry." Niall lächelte. „Ich bin immer für dich da."
Er umarmte mich nochmal und dann standen meine Eltern auf und wir verließen zusammen das Haus der Horans. Niall würde Heiligabend jetzt mit seiner Familie verbringen.
Genau wie ich.
Nur hatte Niall das Privileg das zu Hause zu machen.
Ich stieg wieder ins Auto und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Eigentlich hatten wir gar nicht hier hin gewollt. Aber ich war irgendwann auf der Fahrt in Tränen ausgebrochen und meine Eltern hatten entschieden, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, wenn ich meinem besten Freund sein Geschenk jetzt schon gab und er mich im Gegenzug noch etwas beruhigen konnte.
Sie waren ja selber kaum imstande sich zusammenzureißen.
Von der Fahrt bekam ich nicht viel mit, ich versuchte hauptsächlich mich wieder zu beruhigen, damit ich nicht mehr verheult aussah wenn wir ankamen.
Auf dem Parkplatz war einiges los. Viel mehr als sonst, aber es war immerhin Weihnachten, es ergab Sinn, dass mehr Besuch hier war.
Als wir ausstiegen entdeckte ich einen Van, auf dem draußen ein Weihnachtsmann abgebildet war. Ich wandte den Blick ab.
Das hier war kein Weihnachten. Nicht wie sonst.
Das hier fühlte sich nicht gut an. Mit jedem Schritt, den ich weiter auf den Eingang des Krankenhauses zuging wurde mein Herz schwerer.
Und meinen Eltern schien es kaum besser zu gehen.
Sie hatten sich sogar an den Händen gefasst, dabei waren sie seit über fünf Jahren geschieden.
Die Dame am Empfang lächelte freundlich, auf ihrem Tresen stand ein kleiner Weihnachtsbaum.
Wir begrüßten sie flüchtig und machten uns dann auf den Weg nach oben. Als meine Mutter im Aufzug auf den Knopf drückte auf dem Onkologie stand musste ich mich wieder zusammenreißen nicht zu heulen.
In den letzten Wochen war es eigentlich noch okay gewesen, ich hatte mich zusammenreißen und beruhigen können, aber seit wir vor ein paar Tagen den neuen Befund gekriegt hatten war es wirklich schlimm mit mir. Und dass Weihnachten war verbesserte das Gefühl nicht unbedingt.
Jedes Jahr waren wir sonst jetzt zusammen am Baumschmücken (wir machten das immer erst am 24., es war Tradition) oder am Essen vorbereiten oder im Gottesdienst, wenn wir in den frühen gingen.
Dieses Jahr hatten wir nicht mal einen Baum.
Wozu, wenn Gemma ihn nicht mit strahlenden Augen bewunderte und glücklich lachte wenn ich sie auf meine Schultern setzte, damit sie den Stern auf die Spitze setzen konnte?
Der Fahrstuhl hielt, ich warf meinen Eltern einen kurzen Blick zu, den sie nur so aufmunternd wie es ging erwiderten, dann öffneten sich die Türen.
Auf dem Flur war schon aufgeregtes Lachen zu hören und Musik und irgendwie musste ich trotz des unglaublichen Schmerzes in meinem Herzen ein bisschen lächeln.
Heute war es weniger trostlos im Krankenhaus als sonst.
Die Glastür zu dem Gemeinschaftsraum, der eigentlich quasi in den Flur mündete war auf.
Als ich davor zum Stehen kam vertiefte sich das Lächeln auf meinem Gesicht.
Es waren nicht viele Kinder, da es nur eine kleine Gruppe war, die über Weihnachten hier bleiben musste, aber die saßen mit Decken auf den Sofas und Sitzkissen verteilt. Um sie herum einige Eltern und Geschwister.
Sie sangen Weihnachtslieder, vor ihnen standen nämlich zwei als Elfen verkleidete Jungen, vielleicht etwas älter als ich, von denen einer Gitarre spielte und der Andere nur breit lächelte und die Kinder immer wieder animierte mitzumachen, auch wenn sie den Text nicht kannten.
Ich entdeckte meine Schwester auf einem Sofa, ihr Infusionsständer neben ihr und spürte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter.
„Geh du ruhig zu Gemma. Desmond und ich bereiten in ihrem Zimmer schon mal ein bisschen was vor, ja? Das Gemeinschaftsprogramm hier ist eh bald vorbei, damit alle Familien ein bisschen unter sich sein können."
Ich nickte nur. „Ja. Macht das."
Meine Eltern verschwanden den Gang hinunter zum Zimmer (ich merkte ihnen zwar an, dass sie ihre Tochter am liebsten sofort an sich drücken wollten, aber ihnen war bewusst, dass es ein viel schönerer Effekt wäre, wenn meine Schwester gleich in ein wunderschönes weihnachtliches Zimmer kommen würde) und ich wollte gerade zu Gemma gehen, da riss sie ihren Kopf zu mir herüber als ob sie meine Anwesenheit hätte spüren können.
Sie lächelte sofort breit und sprang vom Sofa auf. Ihr instinktiver Griff nach ihrem Infusionsständer als sie auf mich zurannte, tat mir weh mit anzusehen.
Am Anfang hatte sie ihn immer vergessen und natürlich war es gut, dass sie jetzt nicht ständig fast aus Versehen die Nadel aus ihrem Arm riss, aber es war schmerzhaft, dass sie so sehr daran gewöhnt war.
„Harry!", rief meine kleine Schwester und ich ging nur in die Hocke und breitete die Arme aus. Sie fiel mir um den Hals und ich drückte ihren kleinen zerbrechlichen Körper eng an mich.
Meine Schwester war meine Welt und es zerbrach mich, dass sie so litt.
„Du bist hier", flüsterte sie und ich lächelte nur, drückte meine Nase in das Tuch, was sie auf dem Kopf trug und seufzte leise.
„Natürlich bin ich hier", flüsterte ich zurück und stand dann mit ihr auf dem Arm auf, vorsichtig, auf ihren Infusionsschlauch bedacht. Sie hielt sich um meinen Hals fest und ich setzte mich zurück auf das Sofa, wo sie vorher gesessen hatte, sie auf meinem Schoß.
Das Lied was gerade gesungen wurde klang jetzt aus und die beiden Jungs, die das Programm hier anscheinend machten, lächelten in die Runde.
„So", meinte der mit der Gitarre. „Ich muss jetzt schonmal den Sack voller Geschenke holen, damit mein Kollege" Er machte eine Handbewegung zu dem anderen Elf. „...und ich sie euch gleich alle geben können. Damit ihr euch bis dahin aber nicht langweilt..."
„Lese ich euch jetzt noch eine Geschichte vor", beendete der andere Elf. „Habt ihr da Lust drauf?" Er lächelte sonnig und die Kinder jubelten.
Plötzlich sah er auch zu mir und ich erschrak fast. Klar, als ich reingekommen war hatte die Aufmerksamkeit auf Gemma und mir gelegen, aber sie hatten noch alle gesungen.
Er hatte wirklich unglaublich blaue Augen, das konnte ich sogar aus dieser Entfernung erkennen.
„Okay", sagte wieder der andere Elf. „Eure Geschenke übergeben wir euch dann in euren Zimmern, ja? Viel Spaß bei der Geschichte."
Und damit machte er sich mitsamt Gitarre aus dem Staub und überließ das Feld seinem Kumpel.
Dieser machte es sich jetzt in einem Sessel gegenüber der Kinder gemütlich und zog ein Buch aus dem Weihnachtssack, der neben ihm lag.
„Wer hier mag Märchen?", fragte er mit einem Lächeln und als sofort fast alle Kinder freudig „ich, ich" riefen grinste er nur.
„Perfekt. Du, Fred, möchtest du vielleicht zu mir kommen und dir die Bilder angucken, wenn ich die Geschichte vorlese?"
Ein kleiner Junge mit braunen Haaren, der auf einem Sitzkissen saß und der einzige zu sein schien aus dessen Familie (noch...zumindest hoffte ich das) niemand hier war, strahlte und nickte sofort. Dann stand er auf, lief zu dem Jungen und dieser hob ihn auf seinen Schoß.
Dann begann er vorzulesen. Es war eine Weihnachtsgeschichte, die ich nicht kannte, aber schon nach kurzer Zeit war ich selbst total gefangen von der Stimme des Jungen und wie spannend er die Geschichte vorlas.
Es war eine niedliche Geschichte, über ein kleines Mädchen, das versuchte den Weihnachtsmann zu finden, aber am Ende immer nur einen Schimmer weghuschen sah. Die Kinder hingen alle an den Lippen des Weihnachtselfen und ich musste lächeln.
Gedankenverloren strich ich über Gemmas Kopf und lauschte dem Jungen.
Als er die Geschichte beendete und mit den Kindern noch ein paar Scherze machte konnte ich ihm nur bewundernd dabei zusehen.
Der Junge zauberte Kekse aus seiner Mütze (die er offensichtlich vorher in der Hand gehabt hatte, aber die Kinder merkten das nicht, sie waren viel zu begeistert von der „Magie") und kitzelte diesen Fred auf seinem Schoß und als sich langsam aber sicher alle Kinder mit ihren Familien in ihre Zimmer begaben versprach er allen einzeln, dass er und sein Kumpel Liam (ich nahm mal an, das war der andere Elf) gleich noch mit ihren Geschenken bei ihnen vorbeikommen würden. Er hatte sich sogar alle ihre Namen gemerkt.
Ich hob Gemma von meinem Schoß auf den Boden und stand dann auf. In dem Moment kamen auch unsere Eltern zurück und sofort begrüßte Gemma sie freudig und umarmte sie und wurde von meinem Dad auf den Arm genommen und ich sah kurz dabei zu und warf dann einen Blick zu dem Elf, der gerade das Buch und ein paar andere Sachen, die hier rumlagen wieder in seinen Leinensack packte.
Er lächelte mir kurz zu und ich versuchte es selbst mit einem Lächeln, aber ich konnte mir vorstellen wie gezwungen es aussah.
Gemma hatte von ihrer Lebensfreude nichts verloren und das war das schönste Geschenk was ich bekommen könnte.
Aber das hieß nicht, dass es mir genauso ging.
Ich folgte meiner Familie in Gemmas Zimmer, das sie ich zwar eigentlich mit einem Mädchen namens Emilie teilte, aber wo sie zur Zeit alleine war, weil Emilie über Weihnachten nach Hause gedurft hatte.
Das zeigte mir nur wieder wie ernst es war.
Wenn kein Wunder mehr geschah, dann hatte sie nicht mehr viel Zeit.
Als wir eintraten sah ich was meine Eltern für eine Arbeit geleistet hatten mit dem winzigen Weihnachtsbaum den sie auf die Kommode gestellt hatten und der Lichterkette. Außerdem lagen viele kleine Geschenke unter dem Mini-Baum und ein Teller mit Plätzchen.
Gemmas Augen leuchteten auf und so sehr ich mich auch darüber freuen wollte, es wurde mit jeder Sekunde schwerer.
Ich hielt es nicht mal zehn Minuten aus.
„Ich muss mal kurz..." Ich beendete den Satz nicht und verließ das Zimmer. Meine Unterlippe zitterte und ich konnte die Tränen nur schwer zurückhalten.
Ich ging zu einer Bank, auf der Mum und ich schon so oft auf neue Befunde gewartet hatten. Geschafft ließ ich mich darauf sinken stützte den Kopf in die Hände und schniefte leise.
Ich konnte das nicht. Ich konnte das einfach nicht. Ich war dafür einfach nicht stark genug.
Leise schluchzte ich und versuchte mich irgendwie noch unter Kontrolle zu halten.
Ein paar Minuten weinte ich leise vor mich hin.
Es war nicht viel los im Krankenhaus. Zumindest nicht viel was Pflegekräfte und Ärzte anging. An normalen Tagen wären schon mindestens fünfzehn Leute geschäftig an mir vorbeigelaufen.
Heute war es ruhig.
„Hey", sagte dann aber plötzlich jemand sanft und ich schreckte hoch.
Vor mir stand der Weihnachtswichtel mit den blauen Augen und hielt mir ein Taschentuch hin.
Ohne etwas zu sagen musterte ich ihn ein paar Sekunden. Er lächelte vorsichtig und ich griff nach dem Taschentuch.
„Danke", wollte ich sagen, aber man hörte es kaum.
Der Junge setzte sich neben mich und ich vergrub mein Gesicht wieder in meinen Händen.
Eine Weile schwiegen wir zusammen. Er schien irgendwie zu spüren, dass das genau das Richtige war.
„Wie...wie schaffst du das?", fragte ich dann, nahm meine Hände weg und richtete mich auf. Ich blickte aus verheulten Augen zu ihm und er lächelte vorsichtig.
„Was meinst du?"
„Ich..." Ich holte tief Luft. Dann wandte ich meinen Blick wieder ab und sah auf eine Stelle im Boden, die eine Delle hatte. „Wie kannst du hier hinkommen...jedes Jahr...und all diese Kinder...also..." Ich schluckte, weil schon wieder ein Schwall Tränen in mir aufstieg. „Du weißt, dass die meisten von ihnen sterben werden. Und das...du schaffst es aber irgendwie das auszublenden. Du kümmerst dich nur darum, dass sie einen schönen Tag haben und vergessen können, dass sie todkrank sind. Das ist so...Ich weiß einfach nicht wie du das machst."
Der Junge sah mich eine Weile nur von der Seite an.
„Ich bin Louis", meinte er dann und ich sah zurück zu ihm. Ein leichtes, winziges Lächeln trat auf meine Lippen. Louis.
„Harry."
„Und Gemma ist deine Schwester?"
Ich nickte. „Ich weiß einfach nicht...ich verstehe das nicht, warum sie?"
Und da war es wieder vorbei bei mir. Ich schluchzte leise auf, drückte das Taschentuch auf meine Augen und drehte mich leicht von Louis weg.
„Hey", sagte er und ich spürte die Sanftheit in seiner Stimme durch meinen Körper fahren. „Harry."
„Hm?"
„Ich verstehe das. Wirklich." Seine Hand legte sich etwas zögerlich auf meine Schulter. Irgendwie gab es mir Trost.
„Aber du kannst es nun mal nicht ändern", tönte seine Stimme leise zu mir rüber und ich sank in mich zusammen.
Er hatte Recht.
Gemma hatte Krebs.
Sie würde mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein paar Wochen sterben.
Und ich konnte nichts dagegen tun.
„Und du darfst darüber so traurig sein wie du willst, du darfst dich fühlen wie du dich fühlst, das ist alles okay", sagte er. „Aber du solltest heute bei ihr sein. Und Weihnachten genießen. Vielleicht mit ihr kuscheln."
Mein Herz wurde noch schwerer.
„Wie machst du das?", fragte ich dann wieder und drehte mich wieder in seine Richtung.
Ein leicht amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen und für eine Millisekunde war ich von seinen blauen Augen abgelenkt. Er sah mich fragend an.
„Na ja..." Ich biss mir auf die Lippe. „Heute ist Heiligabend und anstatt mit deiner Familie zu feiern und Kekse zu essen und Geschenke auszupacken bist du hier."
„Und ich esse hier Kekse und ich packe hier Geschenke aus...", ergänzte er und ich musste leicht lächeln.
„Ja, ich meine nur...du gibst dein Weihnachten auf, um es den Kindern hier schöner zu machen..."
„Ich hab sogar heute Geburtstag", fügte er noch hinzu, bevor ich weiterreden konnte und ich zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Wirklich?"
Er grinste und nickte dann. „Ja."
„Herzlichen Glückwunsch."
„Danke."
Ich seufzte. „Na dann...ist es ja noch krasser. Du opferst deinen Geburtstag und dein Weihnachten, um den Kindern hier ein Geschenk zu machen...das ist unglaublich selbstlos von dir. Ich könnte das nicht. Ich könnte nicht sehen wie schlecht es den Kindern hier geht und dann noch gute Stimmung verbreiten. Ich würde vermutlich die ganze Zeit nur heulend in der Ecke sitzen." Ich schnaubte. „Tue ich ja irgendwie auch."
Louis sagte eine ganze Weile lang gar nichts und sah mich nur an.
Gerade als ich mich schon fragte, ob ich ihn vielleicht aus Versehen irgendwie beleidigt hatte, seufzte er.
„Weißt du, Harry, vor fünf Jahren ist meine Mutter an Krebs gestorben."
Ich sah zu ihm hoch, mein Mund öffnete sich ein Stück, aber ich brachte kein Wort heraus.
„Und zwar ein paar Tage vor Weihnachten. Das war die schwerste Zeit meines Lebens. Meine Mutter und ich...also...ich meine, ich hab eine Menge Geschwister, aber am Anfang waren es immer nur sie und ich. Wir haben uns bestimmt sieben Jahre lang zu zweit durchgeschlagen, bis sie meinen Stiefvater kennengelernt und meine Geschwister gekriegt hat. Und ich habe sie sehr geliebt. Dass sie gestorben ist, hieß, mir wurde das Wichtigste was ich hatte weggenommen."
Mein Mund stand inzwischen noch weiter auf. Ich hätte nicht mit so etwas gerechnet.
„Dass sie um Weihnachten gestorben ist hat es noch schlimmer gemacht. Mein Gott, es musste nur irgendwo Last Christmas spielen und ich bin in Tränen ausgebrochen." Er lachte trocken auf.
Dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
„Ich hab einfach..." Louis seufzte. „Ich hab den Sinn von Weihnachten nicht mehr gespürt. Die Magie, die Stimmung, ich...es ging mir einfach nur schlecht, jedes Jahr. Und irgendwann...ich weiß nicht mehr genau wie ich dazu gekommen bin, aber ich glaube ein Freund von mir hat mich darauf gebracht...habe ich mich dann einfach für die Organisation angemeldet. Ich meine...ich hab ja eh kein Weihnachten mehr gefeiert."
Er sah zu mir auf und biss sich auf die Lippe. „Und als ich dann gesehen hab..." Er lächelte leicht. „Als ich zum ersten Mal das Leuchten in den Augen der Kinder gesehen habe, als ich Geschenke verteilt und Weihnachtslieder gesungen und Geschichten erzählt habe...da war es plötzlich als wäre meine Mum ganz nah."
Er legte sanft seine Hand auf mein Knie. „Ich hab den Zauber von Weihnachten wieder gespürt, die Art wie es Menschen zusammen bringen kann und...und ich weiß, dass meine Mum nicht gewollt hätte, dass ich mir jeden Jahr an Weihnachten meine Augen ausheule."
Ich legte meine Hand ganz vorsichtig auf seine. Er zog sie nicht weg.
„Es macht mich einfach glücklich das hier für die Kinder zu tun. Man sollte in seinem Leben auch mal etwas zurückgeben. Und ich tue das. An Weihnachten, an meinem Geburtstag...Geburtstage werden sowieso überbewertet."
Ein Grinsen umspielte seine Lippen und ich ließ mich langsam anstecken und strich eine Träne weg, die noch auf meiner Wange ruhte.
„Die Kinder hier verdienen das. Das was sich die meisten Menschen auf der Onkologie wünschen ist einfach nur Normalität. Normalität und behandelt zu werden als wäre man eben nicht...an Krebs erkrankt. Und ich versuche ihnen genau das zu geben. Weihnachten sollte man glücklich sein und erfüllt von Liebe und...nicht...nicht darüber nachdenken müssen, dass man vielleicht bald stirbt." Louis sah mich an. „Und selbst wenn man das tut...dann sollte es kein beängstigender Gedanke sein. Nicht an Weihnachten."
Ich konnte ihn nur bewundern. Wie viel Gutes konnte eigentlich in einem einzigen Menschen stecken?
„Ich..." Ich atmete langsam aus.
„Weißt du, letztes Jahr hab ich sogar einer Gruppe etwas älterer Kinder das Märchen von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern vorgelesen. Es war etwas gewagt, das gebe ich zu, aber danach haben sie ein wunderschönes Gespräch darüber geführt, wie sie sich den Himmel vorstellen und inwiefern sie Angst vorm Sterben haben, inwiefern aber auch nicht." Louis lächelte sanft. „Das war das unglaublichste was ich je erlebt habe."
Ich musterte ihn und biss mir nachdenklich auf die Unterlippe.
„Ich weiß einfach nicht..." Ich brach wieder ab. Irgendwie hatte ich ja doch nichts zu sagen. Louis dafür schon, und zwar nur das Richtige. Wirklich, es war als wüsste er ganz genau, was er sagen musste.
„Weißt du Harry, ich denke sehr oft, dass die eigentliche Krankheit für die Menschen die krank sind...das ist, was am wenigsten schlimm ist."
„Wie meinst du das?"
„Na ja, ich meine...die Menschen, die man liebt leiden zu sehen ist das Schlimmste. Und als meine Mum zum Beispiel krank war...ich glaube es war schlimmer für sie zu sehen wie schlecht es mir ging, als Krebs zu haben, weißt du? Ich meine, ja, für dich ist es schlimm deine Schwester leiden zu sehen. Aber glaubst du nicht es ist für Gemma auch schlimm dich und eure Eltern so leiden zu sehen? Vor allem weil es ihretwegen ist."
„Nein, es ist nicht ihretwegen", sagte ich sofort. „Es ist wegen der Krankheit."
„Ja", meinte Louis leise. „Aber vielleicht kommt ihr das nicht so vor."
Ich blickte ihn nur an, blinzelte dann und sah auf unsere Hände. Er drückte meine Finger und ich nickte langsam.
„Ich sollte uns alle jetzt wirklich einfach auf andere Gedanken bringen, oder?"
„Die Hauptsache ist, du bist da", gab Louis zurück.
Ich atmete tief durch. „Ich weiß nicht ob ich das hinkriege."
Er ließ meine Hand los, um sich seine Weihnachtsmütze auszuziehen. Ich sah ihm verwirrt dabei zu. „Doch", sagte er dann, setzte mir die Mütze auf und sah mich eindringlich an.
„Du kannst das. Und du gehst da jetzt wieder rein und bescherst deiner Schwester das beste, schönste und unglaublichste Weihnachtsfest ihres Lebens." Er machte eine Pause und nahm dann wieder meine Hand, um sie kurz zu drücken. „Selbst wenn es das Letzte sein sollte."
Ich schniefte nochmal, versuchte mich an einem vorsichtigen Lächeln und drückte seine Hand zurück.
„Danke, Louis", flüsterte ich.
Und er schenkte mir nur ein atemberaubendes Lächeln und nickte dann in Richtung des Zimmers meiner Schwester.
„Na los jetzt."
_____1 Jahr später_____
Ich sah auf das Gebäude, was mir vor einem knappen Jahr meine Schwester genommen hatte und schluckte heftig. Ich war seitdem nicht mehr hier gewesen.
Ich schloss kurz die Augen.
Aber es war das Richtige. Das hier zu tun...das war das Richtige.
„Bereit heute ein bisschen Leben, Freude und Weihnachtsmagie in das Leben dieser Kinder zu verbreiten und dieses Krankenhaus zu einem schönen Ort zu machen?", fragte Louis neben mir und schulterte den Sack voller Geschenke.
Ich schüttelte den Kopf, drehte mich zu meinem Freund und rückte etwas unsicher seine Weihnachtsmütze zurecht.
Er runzelte die Stirn und setzte an etwas zu sagen, aber ich unterbrach ihn, indem ich meine Lippen auf seine legte. Er ließ den Sack wieder auf den Boden sinken, legte seine Hände in meinen Nacken und erwiderte den Kuss.
Bestimmt eine ganze Minute lang küssten wir uns vor dem Krankenhaus und als wir uns voneinander lösten schluckte ich, lächelte und nickte vorsichtig.
„Jetzt bin ich bereit."
Louis lächelte sein wunderschönes, helles Louis-Lächeln und griff nach meiner Hand.
„Na dann, mal los."
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hello
heute mal wieder eine etwas traurigere geschichte. ich hoffe sie hat euch trotzdem gefallen :)
💕
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