Kapitel 6 - Das Team
Das Klopfen der Regentropfen an die dünne Fensterscheibe holte mich aus dem Schlaf. Es war noch dunkel und außerhalb meiner Bettdecke eiskalt.
Was machte ich hier? Wie konnte das so schnell geschehen? Letzte Woche war noch alles gut gewesen und plötzlich lag ich in diesem düsteren Raum in einem fremden Land.
Ich griff nach meinem Handy. Es war 6.25 Uhr. Mein Wecker würde eh in 5 Minuten klingeln.
Collin hatte mir geschrieben.
Hey Millie, ich vermisse dich jetzt schon. Du fehlst mir. Erzähl mal, wie dein erster Tage in deiner Hogwartsschule war.
Er hatte ein Herz mitgeschickt, welches mein eigenes schneller schlagen ließ. Der Kuss war mir noch so präsent. Ich bereute es so sehr, dass wir nur diesen einen Kuss hatten. Danach hatte sich einfach keine Gelegenheit mehr ergeben.
Hey Collin, ich vermisse dich auch. Ich bin gerade aufgewacht und fühle mich jetzt schon einsam. Es sind bisher zwar alle nett, aber ich wünschte, ich wäre bei euch. Die Schlafsäle sehen aus wie in einer Psychiatrie aus einem Horrorfilm. Im Bad saß gestern eine Spinne, die wahrscheinlich von Aragog abstammt.
Mein Wecker klingelte.
Ich klickte auf "Senden" und schickte noch ein Herz. Ich sah, wie Lou sich neben mir im Bett langsam umdrehte.
Dann sah er mich an.
"Morgen", murmelte er und fuhr sich durch seine kurze Haarpracht, die aussah, als hätte er die Nacht im Herzen eines Hurricanes verbracht.
"Guten Morgen."
Er richtete sich auf und ich bemerkte, dass er kein Shirt trug. Da war nicht einmal ein Brustansatz und keine Narbe. Lou hatte gestern erzählt, dass er schon früh Hormone bekommen hatte, um genau das zu verhindern. Trotzdem war ich beeindruckt, wie weit unsere Medizin bereits war, dass man mit ein paar Spritzen verhindern konnte, dass einem Brüste wuchsen.
Er sah aus, wie ein ganz normaler Junger. Selbst ein paar Haare tummelten sich auf der Brust und ich vermutete, dass er stolz darauf war.
Er stand auf und ich stellte fest, dass er nur Boxershorts trug. Ich schämte mich ein wenig dafür, doch ich fragte mich aus Neugierde, wie weit sein Angleichungsprozess schon fortgeschritten war.
Doch das sollte mich nicht interessieren, denn schließlich war das seine Intimsphäre. Leider schwirrten die Gedanken zu seiner Geschlechtsumwandlung trotzdem ständig im Kopf.
Mir war gestern Abend noch aufgefallen, dass er erst spät zu den Duschen gegangen war. Es war offensichtlich gewesen, dass er gewartet hatte, bis alle anderen Mädchen fertig gewesen waren.
Ich zog meine Uniform an, die mich brav wirken ließ, obwohl ich die Röcke als etwas zu kurz empfand. Am liebsten hätte ich wie die Jungs eine Hose. Gerade bei dem Wind musste ich gut aufpassen. Immerhin trug ich zum Schutz eine blickdichte Strumpfhose darunter.
Nachdem wir uns gesellschaftsfähig hergerichtet hatten, machten wir uns auf den Weg zum Frühstückssaal. Lou führte mich zurück in das Hauptgebäude.
Als wir den Saal betraten, durchfuhr mich eine angenehme Wärme. Gleichzeitig stieg aber auch ein seltsamer Geruch in meine Nase.
Vor uns erstreckten sich lange Tischreihen, an denen Kinder und Jugendliche im Alter von 8 und 18 Jahren saßen. Es war laut, denn alle redeten durcheinander. Am Ende des lichtdurchfluteten Saals sah ich das Frühstücksbuffet, auf das auch Lou zielgerichtet zulief. Je näher ich kam, desto größer war die Gewissheit, dass der seltsame Geruch vom Essen kam. Ich hatte auf den Geruch von Brötchen und Croissants gehofft, doch vor mir erstreckte sich nun die gesamte Vielfalt des English Breakfasts: Würstchen, Bacon, Bohnen, Pilze und Hashbrowns. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich die einzige schien, die einen Magen besaß, der bei diesem Essen rebellierte.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich sah mich um und erblickte Liza, die hinter mir stand und mich anlächelte.
"Guten Morgen", begrüßte sie mich mit einem Lächeln.
"Hey", erwiderte ich sofort und freute mich ein bekanntes Gesicht zu sehen.
"Keine Sorge, es gibt dort hinten auch Müsli. Ich weiß ja, dass ihr Deutschen das Deftige am Morgen nicht so gern habt. Aber mit der Zeit kommt das schon noch. Wir haben ein paar Deutsche an der Schule und die meisten haben sich mit der Zeit an die englische Küche gewöhnt."
Dankbar erwiderte ich ihr Lächeln. Es überstieg jedoch meine Vorstellungskraft jemals eine fettige Wurst zum Frühstück zu essen. Selbst wenn sie ausschließlich aus Pflanzenproteinen bestehen würde.
"Danke!"
"Gern, ich sitze dorthin mit Freundinnen am Fenster. Wenn du willst, kann du dich zu uns setzen."
Ich sah zu Lou, der sich gerade allein an einen Tisch setzte. Es wirkte nicht so, als hätte er Freunde, die ihm gleich Gesellschaft leisten würden.
"Danke, das ist nett. Aber ich glaube, ich glaube erst einmal bei meinem Mitbewohner. Dann können wir uns besser kennenlernen."
Ich nickte in Richtung Lou. Liza schien zu verstehen und nickte zustimmend.
"Ja, mach das! Ich hoffe, es ist okay, dass ich es dir gestern vorher nicht gesagt habe. Ich dachte, es wäre besser, wenn er es dir selbst erklärt. Lou hat es nicht so einfach. Ihr könnt euch gerne auch zu zweit zu uns setzen, aber wie ich Lou kenne will er das nicht. Er gibt sich ganz bewusst nicht mit zu vielen Mädels ab. Aber das Problem ist, dass die Typen ihn meiden. Deshalb ist er oft allein. Ich denke, es ist gut, dass ihr beiden jetzt zusammen wohnt. Ihr passt wirklich gut zusammen."
"Ich habe mir schon gedacht, dass er es wirklich nicht einfach hat."
Liza nickte zustimmend.
"Ja, es ist nicht mal so, dass jemand ihn ganz offensichtlich deshalb angreift. Ich habe noch nie gehört, dass er einen Spruch aufgedrrückt bekommen hat, weil er so lebt, wie er eben jetzt lebt. Aber viele meiden ihn, weil sie nicht genau wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen. Vielleicht schaffst du es ja Zugang zu ihm zu finden. Wenn was ist, kannst du natürlich jederzeit zu mir kommen."
"Danke! Wir haben ja auch noch das ganze Schuljahr Zeit, um mal zusammen zu frühstücken."
Sie winkte mir noch einmal zu und schlängelte sich dann an einer Gruppe Kinder vorbei, um zu ihren Freundinnen zu gelangen.
Ich holte mir mein Müsli und ging dann zu Lou, der sich in die dunkelste Ecke des Raumes gesetzt hatte.
"Ihr Deutschen", sagte er schmunzelnd, als er mein Frühstück sah.
"Ihr Briten", konterte ich und sah abwertend auf seine Speise, bei dem die Arterien schreiend wegrennen würden, wenn sie könnten.
Ich setzte mich ihm gegenüber.
"Warum bist du nicht mit Liza mitgegangen?", erkundigte er sich und schob sich einen Champignon in den Mund.
"Ich wollte lieber bei dir sitzen", antwortete ich beiläufig und schob mir einen Löffel Müsli in den Mund.
Lou sah mich daraufhin lange und intensiv an.
"Warum?", hakte er nach.
Ich zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht weil wir uns ein Zimmer teilen und es ganz nett ist, sich mit seinem Mitbewohner gut zu verstehen." Er wirkte nachdenklich und schob sich noch einen zweiten Champignon hinterher. Stirnrunzelnd sah er auf seinen Teller. "Was ist?", forderte ich ihn auf mir zu sagen, was in ihm vorging.
"Ist es ein Problem für dich mit mir ein Zimmer zu teilen?"
"Nein, warum sollte ich?", antwortete ich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen.
"Weil ich ein Junge bin."
Lou war nun sichtlich unsicher.
"Es ist mir egal. Du wirkst nett und das ist das, was für mich zählt."
Er legte nun sein Besteck auf den Tisch.
"Letztes Jahr gab es ein riesiges Drama. Ich hatte vier Mitbewohnerinnen und alle wollten unbedingt aus dem Zimmer, weil sie es nicht mit mir teilen wollten."
Seine Verletzlichkeit, die er bisher so gut hinter seine Fassade versteckte, kam nun zum Vorschein.
"Das tut mir leid. Aber ich bin nicht so. Ich habe mir mit meinem besten Freund im Kindergarten, in der Grundschule und auch jetzt noch ein Bett geteilt. Ich kann mir wirklich gut vorstellen, dass es für dich schwierig ist, dass du noch im Mädchenflügel schlafen musst. Ich weiß, dass du da nicht hingehörst, aber ich würde vorschlagen, dass wir beide einfach das Beste daraus machen. MIch stört es nicht."
Seine Gesichtszüge entspannten sich. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Okay."
"Also sind wir jetzt ein Team?", fragte ich ihn und versuchte so motiviert wie möglich zu klingen. Er sollte wissen, dass ich niemand war, der ihn verurteilen würde.
"Team!", kam es mit kraftvoller Stimme und einem Grinsen zurück.
Er reichte mir die Hand und ich nahm sie entgegen. Es folgte ein kräftiger Händedruck und ich spürte, dass das nicht nur eine Floskel war. Wir waren jetzt ein richtiges Team.
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