Kapitel 5 - Der Mitbewohner

"Du bist Louisa?", hakte ich noch einmal nach, denn unter einer Louisa stellte ich mir eher ein blasses Mädchen in einem Blumenkleid vor und keinen jungen Mann im Hoodie.

"Wie gesagt, ich bevorzuge Lou."

Ich starrte ihn an. Was sollte das? Vielleicht waren seine Eltern ja auch von der Sorte, die der Meinung waren, dass ihr Kind nur etwas besonderes sein konnte, wenn es auch der Name war. Ryan Reynolds hatte seine Tochter schließlich auch James genannt und James Cordon hieß mit Zweitnamen Kimberly. Es war also alles möglich. Doch es blieb die Frage, warum mich das Internat mit einem Jungen in ein Zimmer stecken sollte. Insbesondere, wenn man die Geschlechter sogar durch zwei verschiedene Häuser trennte.

"Sind hier Mädchen und Jungs nicht getrennt?", fragte ich vorsichtig und noch immer sichtlich verwirrt. Meinen Hinkelstein stellte ich jedoch schon mal auf dem Schreibtisch ab.

Das Zimmer war wie gespiegelt. Alles, was es rechts gab, gab es auch links. Ein Bett, einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch mit einem Stuhl und ein kleines Wandregal. Mehr hatte der Raum nicht zu bieten. Die Möbeln sahen aus, als hätte sie meine Oma in den 70ern ausgesucht.

"Wem sagst du das", entgegnete er. "Wenn es nach mir ginge, würde ich auch bei den Jungs schlafen."

Ich bekam das Gefühl, dass er mir etwas vorenthielt.

"Und warum geht das nicht?"

Er verschränkte offensichtlich wütend die Arme.

"Weil ich ihnen nicht männlich genug bin."

Ich sah ihn an und auf mich wirkte er sehr männlich. Insbesondere für sein Alter. Er hatte schon einen beachtlichen Bartwuchs und eine sehr definierte Jawline. Er war zwar nicht besonders groß, aber überragte mich immerhin um einen halben Kopf.

"Ich verstehe das nicht" gab ich offen zu. "Was soll das heißen? Du bist nicht männlich genug?"

Musternd sah er mich an.
"Wie konservativ bist?"

Meine Verwirrung klärte sich dadurch nicht auf. Ich zuckte mit den Schultern.

"Nicht so sehr, denke ich."

"Okay, ich erzähle dir etwas und du wagst es nicht, dich darüber lustig zu machen, es jedem auf die Nase zu binden - wobei es eigentlich eh jeder weiß - oder es gegen mich zu verwenden. Verstanden? Wir müssen schließlich ein Jahr zusammenleben."

"Verstanden."
"Ich bin ein Junge", sprach er mit kräftiger Stimme das Offensichtliche aus. "Und nichts anderes. Aber der Körper mit dem ich geboren wurde, hatte andere Pläne. Du verstehst, was ich meine, oder?"

Er warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich war mich nicht ganz sicher, nickte jedoch. Ich würde es hoffentlich verstehen, wenn er weitersprach. Er fuhr fort zu sprechen.

"Meine Eltern haben mich immer unterstützt und so konnte ich früh mit der Hormontherapie anfangen. Und dafür bin ich meinen Eltern denkbar, denn ich musste nicht durch die weibliche Pubertät. Brüste und eine breite Hüfte bleiben mir dadurch erspart. Stattdessen bekam ich männliche Hormone und ging in die männliche Pubertät. Ich bekam einen Bart und eine tiefe Stimme. Leider steht in meinem Ausweis aber immer noch "Louisa" und "weiblich". Deshalb weigert sich diese dumme Internatsverwaltung mich als Junge anzuerkennen und steckt mich in den Mädchenflügel." Mit großen Augen sah ich ihn an. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass dieser Körper mal weibliche gewesen war. "Es tut mir leid, falls du dir eine beste Freundin erhofft hast, mit der du Nagellack und Sommerkleidchen austauschen kannst."
Er lächelte ihn an.

"Nein, ganz und gar nicht", fand ich langsam meine Sprache wieder und ich begann mich zu entspannen, denn nun verstand ich, wie es zu dieser Situation gekommen war. "Ich freue mich, dich als Mitbewohner zu haben. Du liest gern Steve King, spielst Fußball und isst gern Jaffa Cakes. Ich denke, wir werden uns hervorragend verstehen."

Er sah sich nun in seinem eigenen Zimmer um und entdeckte sein Buch auf dem Boden neben seinem Bett, die Fußballschuhe neben der Eingangstür und die leere Jaffa Cake Packung im Müll.

"Gutes Auge", ließ er mich wissen und sofort war da eine Verbindung zwischen uns. "Ich glaube auch, dass wir uns gut verstehen werden."

Ich ging gar nicht weiter auf seine Lebensgeschichte ein. Es musste nervig sein, wenn man ständig so eine intime Geschichte erzählen musste, nur um sich für etwas zu rechtfertigen, was man gar nicht wollte.

Es war mir egal, welche körperliche Wandlung er durchgemacht hat. Was zählte, war die Person vor mir und die machte einen netten Eindruck.

"Wo kommst du her?", fragte er und schien nun Interesse an mir zu haben.

Ich vermutete, dass es daran lag, dass ich keine große Sache aus dem machte, was er mir gerade erzählte hatte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie oft er vermutlich die gleichen Fragen beantworten musste.

"Deutschland."

Er zog die Augenbrauen hoch.

"Deutschland? Du hörst dich an, wie eine Amerikanerin."

"Ich weiß. Mein Eltern haben mich von Anfang an in englischsprachige Bildungseinrichtung geschickt. Kindergarten, Grundschule, Gymnasium. Alles auf Englisch. Als ich klein war hatten wir auch immer wieder Aupairs aus den USA. Es war meinen Eltern sehr wichtig, dass meine Schwester und ich zweisprachig aufwachsen."

"Wow, trotzdem sehr beeindruckt, dass man gar keinen Akzent hört."

"Danke", sagte ich höflich. "Aber glaube mir, manchmal kann man es raushören. Hab nur etwas Geduld. Wo kommst du her?"

"Bournemouth, Südengland. Dort gibt es offiziell den saubersten Strand des Landes."
Mitleidig sah ich ihn an.

"Und was machst du dann hier, wenn du in der Heimat das Meer direkt vor der Tür hast?"

Er lächelte, doch es wirkte eher traurig.

"Meine Eltern sind geschieden und Workaholics. Sie haben keine Zeit sich um mich zu kümmern und haben mich und meinen Bruder hierher abgeschoben."

"Da teilen wir das gleiche Schicksal."
Ich schob die Uniform auf meinem Bett beiseite und ließ mich auf die unbezogene Matratze fallen. Lou und ich warfen uns einen Blick zu und ich spürte sofort, dass wir auf der gleichen Wellenlänge waren. Manchmal traf man einfach Menschen, bei denen man schon innerhalb der ersten paar Sekunden wusste, dass man sich hervorragend verstehen würde. Vielleicht war es die Körperhaltung, die Sprache oder die Mimik. Ich wusste es nicht genau, aber zweifelsfrei gab es eine Verbindung.

"Aber es ist dein erstes Jahr im Internat, oder?", hakte er nach und sah mich mit seinen auffällig grünen Augen an. Ich hatte noch nicht oft die Kombination aus grünen Augen und goldblonden Haare gesehen.

"Ja."

"Meine Eltern haben mich schon abgeschoben, als ich 8 Jahre alt war."

Wow, sollte ich mich an dieser Stelle vielleicht sogar dankbar zeigen, weil meine Eltern entschieden hatten, mich erst mit 15 Jahren abzuschieben?
"Mit 8 Jahren? Da warst du ja noch ein kleines Kind. Und da musstest du hier schon alleine aufs Internat gehen."
Er nickte und ich konnte die Traurigkeit in seinen Augen sehen. Ich wusste genau, wie er sich fühlte: Ungewollt.

"Ja, da fragt man sich schon, warum man sich überhaupt Kinder anschafft, wenn man sie eh nur zwei Mal im Jahr zu sehen bekommt. Aber was soll man machen? Es ist halt so und ich muss sagen, dass Lantry mittlerweile zu meinen Zuhause geworden ist. Hier ist meine Familie und das ist für mich auch okay."

Ich konnte mir nicht einmal vorstellen meine Kindheit ohne meine Eltern zu verbringen.

"Ist dein Bruder jünger oder älter?"

"Jünger. Er ist zwölf. Ich glaube, er leidet mehr darunter nicht zuhause wohnen zu können, aber das ist vermutlich auch das Alter." Er zuckte mit den Schultern und sah dann aus dem Fenster. "Was hältst du davon, wenn ich dich ein bisschen rumführe? Und damit meine ich nicht die Langweiligen Sachen, wie die Bibliothek oder das Sekretariat. Sondern die coolen Plätze." Er lächelte mich schief an. "Da, wo wir nach dem Unterricht unsere Zeit verbringen."

Ich war zwar müde, doch seine Energie steckte mich an.

"Sehr gern."
"Gut, nimm dir am besten eine Jacke mit!"

Gesagt, getan. Zunächst führte mich Lou in den sogenannten Turmsaal, der im Hauptgebäude war. Es war der offizielle Gemeinschaftsraum, zu dem Lehrer und Betreuer unter normalen Umständen keinen Zugang hatten. Lediglich einmal die Woche wurde nach dem Rechten gesehen. Es gab dort einen Billardtisch, Dartscheiben, Gesellschaftsspiele, ein Bücherregal, gemütliche Sessel, eine große Couch und einen Tischkicker. Über all dem schwebte auch hier ein riesiger Kronleuchter, dem ganzen eine aristokratische Atmosphäre gab.

"Momentan ist es leer, weil viele noch nicht angereist sind", ließ er mich wissen, "...aber das wird sich ändern. Wir verbringen hier wirklich viele Abende."

Dann zeigte er mir das Kaminzimmer, indem man für gewöhnlich war, wenn man mal seine Ruhe brauchte.

Schließlich führte er mich nach draußen. Wir folgten einem kleinen Pfad, der uns zunächst nur an Gestrüpp und Steinbrocken vorbeiführte. Der Wind pfiff uns um die Ohren und ließ meine Haare in alle Richtungen tanzen.

Dann tauchte eine kleine Hütte auf.

"Das ist die sogenannte Liebeshütte", sagte er mit einem vielsagenden Blick. "Offiziell ist es einfach nur ein Schuppen, der nicht genutzt wird. Irgendein Schüler hat dafür mal den Schlüssel ergattert, der jetzt immer hier liegt." Er hob einen Blumentopf hoch und zeigte mir den Schlüssel. "In dem Schuppen ist es mittlerweile sehr gemütlich. Du musst wissen, dass Jungs nicht im Mädchenflüger erlaubt sind und Mädchen nicht im Jungsflügel. Daher verziehen sich die Paare für ein bisschen Zweisamkeit hierher." Er verzog das Gesicht. "Wenn du mich fragst, würde ich an deiner Stelle diesen Ort meiden, denn ich will gar nicht wissen, was da drin schon alles passiert ist, ohne das mal ordentlich sauber gemacht wurde. Aber ich wollte dir den Ort auch nicht vorenthalten."

Dann ging er weiter, während ich die kleine Hütte genauer begutachtete. Von außen sah sie wirklich nicht sehr einladend aus. Es war ein altes Steinhaus mit vergitterten Fenstern. Ein paar Dachziegel lagen auf dem Boden und die Fensterscheiben waren so dreckig, dass vermutlich kaum Tageslicht hineinfiel. Vermutlich war das aber auch so gewünscht.

Ich fragte mich, ob ich mich mit Collin dorthin zurückziehen würde, wenn er hier wäre.

"Und jetzt kommen wir zu einem kleinen Highlight zum Schluss." Er führte mich einen kleinen Hügel hinauf. Es dämmerte mittlerweile, wovon man durch die Wolkendecke nicht viel mitbekam. Wir machten ein paar letzten Schritte und erreichten dann den höchsten Punkt des Hügels. Lou war stehen geblieben und zeigte auf Lantry. "Von hier aus hat man einen schönen Ausblick auf unser Internat als auch auf das Dorf Lanty. Im Sommer sind wir oft hier oben."

Ich sah auf die Häuser hinab. Die Erhebung, auf der wir waren, war nicht hoch, doch sie reichte aus, um über das gesamte Dorf zu schauen, in dem die ersten Lichter angegangen waren und die Straßenlaternen den schmalen Gassen Licht spendeten.

"Es ist wirklich schön", sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

"Ja, das ist es. Aber wie du siehst ist es auch winzig. Gewöhn dich schon mal daran. Lantry ist auf den ersten Blick schön, doch es nicht alles, was Gold, was glänzt."

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