Kapitel 4 - Die Ankunft
Mama hatte mich bis zum Flughafen gefahren und mir dort einen Schmatzer auf die Wange gedrückt. Wütend hatte ich mir mit dem Ärmel den roten Lippenstift von meiner Haut weggewischt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie meine Reaktion sah.
"Schatz, können wir uns denn nicht wenigstens versöhnlich verabschieden?"
Nein, konnten wir nicht.
Und sie hatte auch keine Berechtigung jetzt dramatisch zu werden. Schließlich war das ihre Entscheidung gewesen.
"Tschüss!", sagte ich knapp, auch um sie zu provozieren. "Wir sehen uns dann... irgendwann."
Dann drehte ich mich um und lief zum Security-Check. Ich ließ es nicht zu, dass sie mich umarmen konnte.
"Millie, ich habe dich lieb. Bitte vergiss das nicht!", rief sie mir noch hinterher, doch ich drehte mich nicht mehr um. Sie sollte auch leiden. Nicht nur ich.
Ich ließ die Kontrollen über mich ergehen und wartete dann im Transitbereich auf das Boarding. Durch die riesigen Glasfassaden hatte ich einen ausgezeichneten Blick auf das Rollfeld. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und eine Nebelschicht knapp über dem Boden verlieh dem ganzen etwas Magisches. Der Himmel schimmerte in einem Goldrot, welches sich in den Glasfassaden des gegenüberliegenden Terminals widerspiegelte.
Immer wieder sah ich mir das Bild in meinem Medaillon an und kämpfte augenblicklich gegen die Tränen an.
Ich versuchte mich nicht in meine Trauer hineinzusteigern. Es war wohl der beste Weg, mein Schicksal zu akzeptieren und meinem Schuljahr in England eine Chance zu geben.
Ich lief den Gang im Flugzeug entlang und presste mich an Körper vorbei, die gerade ihre Koffer in den Ablage pressten. Um mich herum hörte ich die verschiedensten Sprachen.
Ich kam am Notausgang vorbei und musste an meine Schwester denken.
"Dort sitzen immer die attraktivsten Männer", hatte sie immer gesagt. "Die setzen immer nur Männer im besten Alter an den Notausgang, damit die schnell handeln können und den Ausgang im Notfall nicht blockieren." Und sie hatte Recht. Zumindest, was meinen Flug heute betraf. Von den 6 Personen, die dort saßen, war 5 männlich, jung und sportlich. Nur eine Frau, die ich in den 30ern schätzte, hatte einen Gangplatz in der Royal-Reihe erhascht.
Da mein eigener Platz weiter hinten war, schleppte ich mich weiter. Mein Rucksack wurde mit jedem Schritt schwerer. Ich kam mir vor, wie Obelix, der seinen Hinkelstein trug. Nur dass ich nicht so stark war wie er.
Tatsächlich saß ich in der allerletzten Reihe und hatte somit das Aroma der Flugzeugtoilette kostenlos dazu gebucht. Doch aufgrund der durchgeweinten Nacht, war ich so müde, sodass ich noch vor dem Start einschlief und erst während der Landung wieder aufwachte.
England begrüßte mich auf seine britisch verregnete Art. Die Regentropfen hämmerten gegen das ovale Flugzeugfenster. An diesem Anblick sollte ich mich wohl besser gewöhnen.
Ich schmiss mir wieder meinen Hinkelstein auf den Rücken und machte mich auf meine Weiterreise, denn London war leider nicht mein Ziel. Zu schön wäre es gewesen, wenn ich wenigsten in städtischen Strukturen leben könnte. Aber nein, meine Eltern hatten ein Internat mitten im Nichts der englischen Einöde gefunden.
Also holte ich meinen Koffer, fuhr zur Victoria Station, wo ich einen Zug stieg, der mich zum kleinen Städtchen Huntingdon brachte. Doch auch da hatte ich mein Ziel noch nicht erreicht. Mit meinen letzten Kräften zog ich meinen Hinkelstein und meinen Koffer in den Bus, der eine weitere dreiviertel Stunde fuhr. Es war später Nachmittag, als der Bus mich in einem kleinen Örtchen namens Lantry absetzte.
Dank Google wusste ich, dass dieses Dorf 523 Einwohner hatte und die Kirche im normannischen Stil das Highlight des Ortes war. Wenn man jedoch ehrlich war, sah sie genau wie jede andere Kirche dieses Landes aus. Jedoch konnte ich mich zumindest an den kleinen Backsteinhäusern im gregorianischen Stil erfreuen. Ich hatte das Gefühl, dass man mich am Filmset einer britischen Romanze im Stile von Jojo Moyes rausgeschmissen hatte. Ich sah eine Straße entlang, die vermutlich die einzige dieses Dorfes war. Ich erblickte ein Café, einen Pub und einen Buchladen. Die Pflastersteinstraße hatte wohl nicht mehr von EU-Geldern profitieren können. Doch das Café wirkte einladend. Man konnte durch die Fenster ins Innere sehen, wo viele kleine Lichter den Raum eine gemütlich Atmophäre verliehen. Es sah aus wie der perfekte Ort, um einen regnerischen Tag mit einem warmen Kakao und einem guten Buch zu überbrücken. Auch der Buchladen hatte noch diesen alten Charme. Es war keine dieser neumodischen Filialen, wo im Fenster Erotikromane und Fitnessbüchern standen. Dieser Buchladen schien noch eine Seele zu haben. Die dunkle Holzvertäfelung und die alte, goldene Schrift verliehen dem ganzen einen Charme, der nicht mehr so ganz in die heutige Zeit passte, den ich jedoch liebte. Dir verzierte Tür wirkte so, als würde man in eine andere Welt eintauchen, wenn man dadurch gehen würde. Ich nahm mir vor, demnächst dem Geschäft einen Besuch abzustatten.
Doch erst einmal musste ich mein neues Zuhause begutachten. Ich drehte mich um und sah das historische Schloss. Es war wunderschön. Das musste ich mir eingestehen. Natürlich war es kein Schloss Neuschwanstein 2.0, sondern ein britisches Schloss. Türme mit Spitzdächern suchte man vergebens. Es erinnerte mich an den Westminster Palace, in dem in London das House of Parliament saß und direkt an den Big Ben grenzte.
Ich hatte vorher schon Fotos von dem Gebäude gesehen, doch in der Realität sah es noch einmal schöner aus und das trotz tiefstehenden, dunklen Wolken.
Leider stand der Lantry Palace auf einem Berg und so zog ich wieder mit meinem Hinkelstein los.
Je näher ich kam, desto imposanter erschien mir der Bau. Das Schloss wurde im 19. Jahrhundert gebaut und war früher eine Sommerresidenz des Kronprinzen, der jedoch verstarb, bevor er König werden konnte. Warum man sich auf einer Insel namens Großbritannien seine Sommerresidenz weit weg vom Meer baute, blieb mir jedoch ein Rätsel.
Schließlich erreichte in den Haupteingang. Es war erstaunlich still für ein Internat, was vermutlich jedoch daran lag, dass die Schule erst nächste Woche begann und die Schüler noch nicht all angereist waren.
Ich schob eine schwere Holztür auf und brauchte dafür meine letzten Kräfte. Ich fiel in den Empfangsbereich, dessen Herzstück ein Kronleuchter aus Kristall war, in dem sich das Licht in allen Farben brach.
"Wow", kam es über meine Lippen, während ich zur Decke sah. Es glitzerte, als würde der Sternenhimmel an dieser Lampe hängen.
"Schön, oder?", hörte ich plötzlich eine Stimme und drehte mich sofort um.
Ein junge, hagere Frau mit roten Locken und vielen Sommersprossen stand da und sah mich freundlich an. Das Gute an England war, dass ich nun vermutlich nicht mehr die einzige Rothaarige in der Klasse war. "Du bist Milena, oder?"
"Ja, die meisten nennen mich Millie", korrigierte ich sie.
"Super! Du bist auf die Minute genau pünktlich. Auf euch Deutsche ist wirklich Verlass. Ich bin Liza."
"Ah, Liza", kam es freudig über meine Lippen, denn sie war mir als Buddy zugeordnet worden. In Lantray war es üblich, dass man einen älteren Schüler an die Seite gestellt bekam und an den man sich bei Problemen wenden konnte. "Freut mich!"
"Mich auch. Ich hoffe, es gab bei deiner Anreise keine Probleme. Es ist nicht leicht in dieses Dörfchen zu finden."
Die Art, wie sie es sagte, wirkte sehr herzlich und sie war mir auf Anhieb sympathisch.
"Ja, es hat alles geklappt. Ich bin einfach nur ein bisschen müde."
"Das verstehe ich gut. Na dann bringe ich dich erst einmal in dein Zimmer. Ich kann dir den Campus auch morgen noch zeigen. Komm', es ist nicht weit von hier."
Sie machte eine Handbewegung, damit ich ihr folgte. Wie selbstverständlich zog sie meinen schweren Koffer hinter sich her.
Elfenhaft lief sie über die Marmorfliesen. Zu meinen Bedauern verließen wir jedoch schnell wieder das Hauptgebäude und begaben uns nach draußen in das kalte Grau.
"Die Schlafräume für die Mädchen sind im Ostflügel, die der Jungen im Westflügel", erklärte sie mir. Etwas irritiert sah ich mich um. Dieses Gebäude hatte keine Flügel, doch ich ahnte, was sie meinte. Denn wir gingen zielgerichtet auf ein längliches Gebäude zu, dass augenscheinlich in den 60ern gebaut wurde und selbst damals keine Augenweide war. Optisch hatte es nicht mit dem schlossartigen Hauptgebäude zu tun.
Tatsächlich öffnete sie dir Tür zu dem Haus und vor uns erstreckte sich ein langer Flur, den man eher in einem Krankenhaus vermuten würde. Dafür zahlten meine Eltern also zehntausende Euro im Jahr. Damit ihre Tochter in einer Bruchbude leben konnte.
Liza ging den Gang entlang, ohne sich dabei umzuschauen. Es war auch besser so, denn sie würde in ein Gesicht voller Wut und Enttäuschung sehen.
Dann blieb sie stehen.
"Die Nummer 11 ist dein Zimmer. Du teilst es dir mir Louisa. Sie ist schon ein paar Jahre in Lantry. Sie wird dir auch helfen können, wenn du Fragen hast. Auf deinem Bett findest du dein Schlafzeug und deine Schuluniform. Auf deinem Schreibtisch liegt ein Willkommenspaket. Dort findest du alle notwendigen Informationen. Zum Beispiel zu den Essens- und Ruhezeiten, über unsere Freizeitaktivitäten oder aber auch anstehende Events. Aber ich würde vorschlagen wir treffen uns morgen beim Frühstück und dann erkläre ich dir alles im Detail und gebe dir eine kleine Führung. Komm erst einmal in Ruhe an."
Überrumpelt von so viel Informationen nickte ich einfach nur. Dann überreichte sie mir einen Schlüssel, an dem ein Anhänger mit dem Schullogo baumelte. Es war eine Schwalbe, die ihre Flügel ausgebreitet hatte, die im Zentrum des Logos war.
"Leb dich gut ein! Und falls etwas ist, ich bin in Zimmer 23. Das ist in der zweiten Etage", ließ sie mich noch wissen, tätschelte meine Schulter und lief dann den Gang weiter.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und bemerkte sofort, dass sie nicht abgeschlossen war. Ich drückte die Tür auf und sah neugierig hinein. Ich konnte nur hoffen, dass Louisa ein nettes Mädchen war, mit der ich friedlich ein Jahr zusammenleben konnte.
Doch ich sah kein Mädchen im Zimmer. Stattdessen sah mich ein Junge an, der auf seinem Bett saß und von einem Buch zu mir aufsah.
"Oh", sagte ich sofort. "Tut mir leid. Ich glaube, ich habe das falsche Zimmer", entschuldigte ich mich sofort und machte zwei Schritte zurück.
"Ich glaube nicht", erwiderte er. "Du bist Milena, oder?"
"Ja, Millie."
Er stand auf und kam auf mich. Höflich reichte mir der Blondschopf seine Hand.
"Lou", stellte er sich vor.
"Lou wie Louisa?"
Er verdrehte seine Augen, nickte jedoch.
Was hatte das zu bedeuten?
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