Kapitel 34 - Die Ungewissheit

Mama hatte sich dazu breitschlagen lassen, dass ich zumindest noch am Derby teilnehmen dürfte. Doch sie hielt weiterhin an dem Plan fest, mich nach Vancouver zu meinem Vater zu schicken.

Sie selbst war vor ein paar Stunden schon wieder nach New York abgereist, sodass ich meine Chancen besser einschätzte, als noch vor ein paar Tagen. Sie konnte mich immerhin nicht ins Flugzeug zerren. Denn nur so würde sie mich aus England bekommen.

"Meinst du, sie sagt die Wahrheit?", fragte mich Lou, als ich ihm alles erzählt hatte, was Amy mir berichtet hatte.

Glücklicherweise hatte er sich mittlerweile wieder beruhigt und wir konnten normal miteinander sprechen. Eine gewisse angespannte Grundstimmung blieb jedoch.

"Ich glaube schon."

"Vielleicht ist das auch nur eine Finte und man versucht uns in die Irre zu führen. Ich habe noch nie davon gehört, dass die Enkelin von Mrs. Richmond an unserer Schule ist und auch nicht, dass ihre Tochter damals mit John im Auto saß."

"Aber das können überprüfen. Wir können John fragen. Wenn das stimmt, dann stimmt der Rest vermutlich auch."

"Hmm, ja, das macht Sinn. Was glaubst du denn, was sie für Samstag geplant haben? Ich meine, was kann denn noch schlimmer als Feuer sein?"

"Wenn ich das nur wüsste. Meinst du wir sollten den anderen Bescheid geben?"

"Besser nicht. Ich denke, es ist besser, wenn wir erst etwas sagen, wenn wir uns sicher sind."

"Weißt du was? Ich schreibe John einfach sofort. Dann haben wir Gewissheit."

"Ja, gute Idee."

Hey John, ich habe eine kurze, aber wirklich wichtige Frage. (und tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Nachmittag störe). Kennst du die Tochter von Mrs. Richmond?

Er las die Antwort sofort.

Nein, ich wusste nicht einmal, dass sie eine Tochter hat, kam prompt die Antwort zurück. Wieso?

Lou hatte mit auf meinen Bildschirm gesehen.

"Siehst du? Diese Amy hat dich einfach nur angelogen."

Ich schüttelte den Kopf.

"So wirkte sie aber wirklich nicht."
"Manche Leute können einfach richtig gut lügen."

"Aber nicht so gut", widersprach ich.

"Ach Millie, steigere dich da jetzt nicht so rein. Du hast eh andere Sorgen. Heute Morgen habe ich deinen Collin im Dorf gesehen. Er ist also noch nicht abgereist."
"Er ist nicht mein Collin", stellte ich sofort klar. "Und meine Mutter hat mir auch schon erzählt, dass sie heute mit ihm zusammen gefrühstückt hat und sie sehr enttäuscht von mir ist, dass ich nicht dabei war... Unglaublich, oder? Na ja, er reiste heute Abend zum Glück ab. Dann habe ich schon mal ein Problem weniger."

Ich dachte daran, was Amy über Harry gesagt hatte. Sie hatte behauptet, dass Tom mal etwas mit Harry hatte. Vielleicht sollte ich mal bei ihm nachfragen, ob etwas dran war.

"Glückwunsch! Auch die kleinen Erfolge sollte man feiern."
"Hmm." Ich sollte so schnell wie möglich mit Harry sprechen. Warum also nicht jetzt? "Lou, ich geh noch mal kurz eine Runde, um meinen Kopf frei zu bekommen."

"Draußen ist ein Schneesturm", erinnerte er mich und zeigte aus dem Fenster, wo die Schneeflocken gegen die Scheibe peitschten.

"Egal, ich brauche frische Luft."
"Wie du meinst, aber lass dich nicht wegwehen."

"Mach ich."

Ich wickelte mich in meinen Mantel und setzte mir eine Wollmütze auf. Dann schlüpfte ich in meine Stiefel und marschierte zum Jungsflügel.

Harry teilte sich ein Zimmer mit einem Jungen namens Richard. Nachdem ich geklopft hatte, öffnete glücklicherweise jedoch Harry die Tür.

"Hey, was machst du denn hier?", begrüßte er mich in einer ausgeleierte Jogginghose und einem verbleichten Hoodie.

"Bist du allein oder ist Richard da?", erkundigte ich mich.

"Allein. Richard ist in der Bibliothek. Ist etwas passiert?"

"Vielleicht. Können wir reden?"
Er trat beiseite, sodass ich ins Zimmer eintreten konnte.

"Na klar, komm rein! Entschuldige die Unordnung!"
Ich sah mich im Zimmer und es herrschte tatsächlich das reinste Chaos.

"Habt ihr im Jungsflügel keine Kontrollen?", fragte ich neugierig.

"Doch, aber Carlo, der eigentlich zuständig ist, ist noch im Urlaub. Deshalb ist es ein bisschen eskaliert." Er schob einen Wäschehaufen vom Stuhl. "Setz dich!".

Ich klopfte mir den Schnee vom Mantel und setzte mich auf den Holzstuhl.

"Was gibt es?", fragte er interessiert.

Wie sollte ich überhaupt anfangen?

"Ich hatte ein sehr interessantes Gespräch mit einem Mädchen, das glaubt zu wissen, wer hinter dem Feuer und den Schmierereien steckt, aber ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit sagt. Deshalb versuche ich gerade Dinge zu überprüfen, die sie gesagt hat und du könntest mir dabei helfen."

"Okay, schieß los! Ich will schließlich auch wissen, wer für den ganzen Mist verantwortlich ist."

"Sie meinte, dass du und Tom mal was miteinander hattet und dass das der Grund ist, warum faggots geschrieben wurde."

Harry sah mich überrascht an, jedoch nicht verärgert oder beschämt.

"Das stimmt", sagte er erstaunlich unemotional. "Es sollte niemand wissen. Mir war es egal, aber Tom nicht. Aus irgendeinem Grund war es für ihn die absolute Horrorvorstellung gewesen, dass jemand wissen könnte, dass er auch auf Männer steht. Als uns damals Mrs. Richmond erwischt, hat er sich sofort Liza geangelt und war von da an mir ihr zusammen. Und wir beide haben so getan, als wäre nie etwas gewesen."

"Wow, damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Man hat euch nie etwas angemerkt."

Er lachte und wirkte absolut entspannt.
"Ich weiß. Wir sind beide die größten und stärksten Kerle der Mannschaft. Irgendwie denken immer alle wir wären hetero. Dabei hatte ich noch nie eine Freundin. Aber um auf den ursprünglichen Punkt zurückzukommen: Von wem weißt du das und wer soll angeblich dahinterstecken?"

"Mrs. Richmond! Zumindest hat mir das eine Schülerin erzählt. Sie soll die Lantry Girls angestachelt haben."

"Was?, fragte er skeptisch. "Ich meine, wir wissen alle, dass diese Frau verrückt ist, aber so etwas traue ich ihr nicht zu."

"Ich weiß es auch nicht, aber die Tatsache, dass das mit dir und Tom stimmt, ist schon mal ein Indiz dafür, dass es vielleicht doch alles andere auch stimmen könnte. Und es gibt das Gerücht, dass für Samstag noch etwas geplant ist. Und ich habe wirklich ein bisschen Angst davor, was es sein könnte."

Harry sah nachdenklich aus, aber nicht übermäßig besorgt.
"Mach dir nicht allzu große Sorgen. Ich halte davon ehrlich gesagt nicht viel."

Ich wünschte, ich hätte seine Gelassenheit, doch das flaue Gefühl in meinem Magen wollte einfach nicht verschwinden. 

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