Kapitel 28 - Die Angst

George holte mich vom Bahnhof ab.

Wir fielen es uns in die Arme, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Bei ihm fühlte ich mich deutlich heimischer, als bei meinem eigenen Vater.

Zwar hatte Papa sich wirklich noch Mühe gegeben mit mir die Zeit in Kanada so intensiv wie möglich zu verbringen, doch allein die Tatsache, dass seine schwangere Freundin die ganze Zeit dabei gewesen war, hatte dem Ganzen einen Dämpfer gegeben. Ich mochte Francis, doch ich hätte mich auch über ein paar Stunden nur mit meinem Vater gefreut. Mit einem neuen Geschwisterchen würde ich schließlich noch weniger Aufmerksamkeit bekommen.

Nach meiner Ankunft hatte ich den Tag mit George und seiner Familie wieder am Strand verbracht. Das waren für mich im Moment die schönsten Augenblicke. Dort konnte ich unbeschwert lachen und meine Probleme vergessen.

Die Begrüßung von Lou fiel weniger euphorisch aus. Ich hatte ihn genau so sehr vermisst, wie George, doch als ich voller Vorfreude unser Zimmer betrat, saß auf seinem Bett und sah furchtbar elend aus.

"Was ist mit dir passiert?", fragte ich etwas besorgt, als ich Lous blasses Gesicht sah. "War ein Dementor zu Besuch?"

"Hey!", begrüßte er mich und ignorierte meine Harry-Potter-Anspielung. "Wie geht's?" fragte er kraftlos. "Wie war dein Rückflug?"

"Ganz gut, aber was ist mit dir? Du siehst nämlich echt nicht so gut aus."

Zusammengekauert umschlang er sein Kissen, auf dem er sein Kinn abgelegt hatte. Ich fragte mich, wie lang er hier schon so saß. Ich nahm neben ihm auf dem Bett Platz.

"Na los! Sprich", forderte ich ihn sanft auf.

Er seufzte voller Kummer, als würde er alles Leid dieser Welt auf den Schultern tragen.

"Es geht mir auch beschissen", murmelte er.

"Ich dachte, dass du ein schönes Weihnachtsfest hattest! Auf den Fotos sah alles so harmonisch aus."

"Das war es auch. Meine Eltern haben sogar endlich einer geschlechtsangleichenden OP zugestimmt. Ich habe zu Weihnachten einen Penisaufbau geschenkt bekommen. Im Sommer kann theoretisch losgehen."

Es war im Vergleich zum Puppenhaus und Eisenbahn vielleicht nicht das traditionellste Weihnachtsgeschenk, aber für Lou konnte es nicht Besseres geben.

"Aber das ist doch großartig!" Ich verstand nicht, warum er bei diesen Nachrichten mit so traurigen Gesicht hier saß. Es war immer sein großer Wunsch gewesen. "Oder nicht?", fragte ich vorsichtig.

"Doch, doch. Aber vielleicht ist es dafür einfach zu spät."

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. Was sollte das bedeuten?

"Du hast dich aber nicht umentschieden und willst jetzt als Mädchen leben?"

Böse schielte er über sein Kissen zu mir.

"Um Gottes Willen, nein! Ich bin ein Junge und ich dachte, dass zumindest wir beide das nicht mehr diskutieren müssen!"

Sein verletzter Stolz blitzte in seinen Augen auf.

"'Tschuldige", ruderte ich sofort zurück. "Ich werde nur nicht ganz schlau aus deinen Worten."

Er vergrub nun sein Gesicht im Kissen. Ich setzte mich neben ihn und streichelte ihm über den Rücken.

"Du kannst doch mit mir über alles reden!"

Er sah zu mir auf und ich fragte mich, was so furchtbar sein konnte, dass er nicht mit mir darüber reden konnte. Wir hatten die Phase bereits hinter uns gelassen, in der uns noch irgendwelche Sachen peinlich waren. Dazu verbrachten wir einfach viel zu viel Zeit miteinander.
"Es ist mir peinlich und es ist so schlimm, sodass ich es nicht einmal aussprechen kann."

Ich schluckte schwer und begann nervös zu werden.

"Hast du jemanden umgebracht?"

Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich das im Scherz gesagt hatte oder es doch eine ernst gemeinte Frage war.

Er schüttelte den Kopf.

"Noch nicht."

Seine Antwort war erschreckend ironiefrei.

"Jetzt erzähl schon!"
Er seufzte und klammerte sich fester an seinem Kissen fest.

"Du erinnerst dich an den Dezemberball und dass ich mit Tom rumgemacht habe, oder?"

"Ja."

Noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer.

"Wir haben mehr als nur ein bisschen rumgemacht, wenn du verstehst, was ich meine."
Ich nickte wissend, denn ich hatte es geahnt.

"Ihr hattet Sex?"

"Ja."
"Okay. Und was ist das Problem?"

Da waren die beiden George und mir schon mal einen Schritt voraus.

"Daraus ergeben sich sogar zwei Probleme: Erstens, Tom bereut es. Er ignoriert mich seitdem und kann mir nicht einmal in die Augen sehen. Ich glaube, er schämt sich, dass er mit jemanden wie mir etwas hatte."

Lou senkte seinen Kopf. Es brach ihm wirklich das Herz.

"Hey", sprach ich sanft und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. "Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Zeit."

Lou nickte.
"Vielleicht", sagte er nachdenklich. "aber das ist nicht mal mein Hauptproblem."

"Okay. Was ist noch?"

"Wie du weißt, spritze ich mir Hormone. Dadurch bekomme ich auch meine Tage nicht mehr. Ich dachte, dass ich damit auf der sicheren Seite bin, aber ich bin nun nicht mehr ganz so sicher. Ich habe in den Ferien einen Beitrag über einen Transmann gesehen, der auch Hormone genommen hat und dachte, dass er nicht schwanger werden könnte...Ist er aber doch."

Entsetzt starrte ich ihn an. Das dürfte doch nicht wahr sein!

"Und ihr habt nicht verhütet?", hakte ich nervös nach.

Mein Bein begann unruhig zu wippen.

Lou schüttelte den Kopf.

"Warum?", fragte ich verständnislos. "Dir ist schon bewusst, dass es noch andere Gründe als eine Schwangerschaft gibt, um zu verhüten: Zum Beispiel Geschlechtskrankheiten!"

"Ich weiß!", lenkte er sofort ein. "Aber ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass so etwas an diesem Abend passieren könnte und deshalb war ich einfach nicht vorbereitet. Und dann ist es plötzlich passiert und es war so schön." Er stockte kurz. "Ich weiß, dass es dumm war, aber ich kann es jetzt auch nicht mehr ändern."

Für einen Moment schwiegen wir. Tausend fragen schwirrten durch meinen Kopf und ich versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte.

"Hast du denn schon einen Test gemacht?", fragte ich schließlich.

Er schüttelte den Kopf.

"Ich habe Angst davor."

Er war mittlerweile vollkommen in sich zusammengesunken und umklammerte haltsuchend sein Kissen.

"Hast du denn irgendwelche Symptome?"

"Ich weiß es nicht. Es kann sein, dass ich sie mir einbilde, denn erst seitdem ich weiß, dass es theoretisch möglich ist, fühle ich mich morgens schwach."

"Das ist alles? Du fühlst dich nur schwach? Keine Übelkeit oder so?"

"Nein, einfach nur schwach."

Tatsächlich verschaffte mir diese Aussage einen kurzen Augenblick der Erleichterung. Ich hatte befürchtet, dass Lou aufgrund von konkreteren Anzeichen so aufgewühlt war.

"Versuch es mal realistisch zu betrachten: Die Chancen, dass du wirklich schwanger bist, sind so gering. Es war einmal und du hast nicht einmal deine Tage."

Er nickte tapfer, doch seine Augen füllten sich mit Tränen.

"Ich weiß nicht, was ich machen würde, falls es wirklich so sein sollte. Mein erster Gedanke war sofort Abtreibung. Ich bin doch der Oberfreak, wenn ich als schwangerer Junge durch die Gegend laufe. Ich will mir gar nicht vorstellen, was Tom davon halten würde. Und was soll ich überhaupt jetzt mit einem Kind?" Er machte eine kurze Pause und sah mich dann gequält an. Innerlich musste ich ihm zustimmen. Ich konnte ihn mir auch nicht mit einem Babybauch vorstellen, aber das galt vermutlich für jeden Mann auf dieser Welt. "Auf der anderen Seite wäre es meine einzige Möglichkeit jemals ein eigenes Kind zu haben. Sobald ich den Penisaufbau gemacht habe, geht das nicht mehr."

Nur langsam begriff ich die Komplexität dieser Situation.

"Lou", sagte ich sanft. "Du bist doch wahrscheinlich gar nicht schwanger. Lass dich jetzt nicht von einem Fernsehbeitrag so fertig machen. Ich hole dir morgen einen Test und dann hast du Gewissheit, okay?"

"Will ich denn Gewissheit?", kam es sofort zurück und er sah mich verzweifelt an.
"Ja! Wie lange willst du dich denn sonst noch quälen?"

"Ich habe einfach Angst."

Ich nahm Lou in meine Arme und drückte ihn fest an mich. Zitterte er?

"Es wird schon alles gut werden. Die Wahrscheinlichkeit ist so gering. Du machst dich ganz umsonst so fertig. Du schiebst Panik und das verstehe ich ja auch, aber es ist wirklich sehr sehr unwahrscheinlich."

"Ich weiß, aber allein dieser Gedanke, wie Tom reagieren würde."
"Nein, Lou!", sprach ich nun streng. "Diesen Schuh musst du dir wirklich nicht anziehen. Tom ist Teil dieser Sache. Er hätte genauso auf Verhütung achten müssen. Da wäre er wirklich selber dran Schuld."

"Aber er sieht mich nicht als Mädchen, Millie. Ich glaube nicht, dass es Tom überhaupt in den Sinn gekommen ist, dass so etwas passieren könnte. Selbst ich dachte, dass ich auf der sicheren Seite wäre."
"Man verhütet trotzdem!"

"Ja, aber es ist ein Unterschied, ob er sich dafür entscheidet das Risiko einzugehen, eine Krankheit zu bekommen oder ein Kind."

"Habt ihr denn darüber gesprochen?"

Lou verdrehte die Augen.

"Nein. Als ob ich ihm ein Aufklärungsgespräch gebe, bevor wir es miteinander tun."

"Sorry, aber dann muss er damit rechnen. Wenn du ihm nicht ausdrücklich gesagt hast, dass du als Transmann keine Kinder bekommen kannst, dann muss er damit rechnen. Nichts für ungut, aber er hat sein bestes Stück in eine Vagina gesteckt. Und das führt nun mal zu einer Schwangerschaft. Punkt." Lou Gesicht war mittlerweile rot angelaufen. "Ich hole morgen den Test. Dann wissen wir mehr."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top