Kapitel 27 - Die Spitze des Berges
"Wow", sagte ich, als wir auf dem Gipfel vom Grouse Mountain standen und Vancouver mir mit all seiner Lichterpracht zu Füßen lag. Vom Himmel fielen dicke Schneeflocken, die unten im Tal als Regen ankamen. Doch hier oben war es ein wahres Winter Wonderland. Die Bäumen waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt und unter meinen Füßen knirschten die Eiskristalle. Es war so kalt, sodass ich meinen eigenen Atem sehen konnte.
"Das war eine hervorragende Idee", sagte mein Vater. "Danke, Francis!"
"Ja, danke!", schloss ich mich an und musste mir eingestehen, dass sie gar nicht so übel war. Immerhin gab sie sich deutlich mehr Mühe als mein Vater.
"Sehr gerne. Und jetzt würde ich vorschlagen, dass wir ins Warme zurückziehen und einen warmen Kakao trinken."
Ich war Francis so dankbar dafür, dass sie dieses Weihnachten doch noch zu etwas Schönem gemacht hatte.
Am Abend lag ich im Bett und las mir die Weihnachtsgrüße meiner Familie und meiner Freunde durch. Auch Collin und Semra hatten mir geschrieben. Ich öffnete sie nicht und sah mir stattdessen die Bilder von Mona und Mama an. Sie waren am Rockefeller Center Schlittschuhlaufen gewesen und hatten dann einen Spaziergang durch den verschneiten Central Park gemacht. Sie sahen glücklich aus, doch Mama hatte darunter geschrieben "Wir vermissen dich und wünschten du wärst auch hier!"
Noch nie zuvor hatte ich mich so sehr wie ein Scheidungskind gefühlt, wie an diesem Abend
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es der amerikanische Weihnachtsmorgen, an dem Santa Geschenke unter dem Weihnachtsbaum zurückgelassen hatte. Tatsächlich hatte mein Vater mir ein Geschenk vor meine Zimmertür gelegt.
Ich hob die große Box an und öffnete sie vorsichtig. Irritiert blickte ich auf ein Stück Stoff. Es war ein Seidenschal, in einer schrecklichen Farbkombination aus Grün und Lila. Er hatte das Preisschild dran gelassen.
Ich verschluckte mich fast, als ich die Zahl sah.
180 Euro.
Was zur Hölle hatte er sich denn dabei gedacht? Ich konnte nur hoffen, dass er den Bon aufgehoben hatte und man das unnütze Ding noch zurückgeben konnte. Sollte das mein einziges Geschenk sein? Das war das Beste, das meinem Vater eingefallen war?
Plötzlich hörte ich ein leidendes Geräusch aus dem Badezimmer. Es war ein leises Stöhnen.
Zügig lief den Flur entlang. Die Badtür war nur angelehnt. Vorsichtig klopfte ich und öffnete die Tür.
Francis saß vor der Kloschüssel und sah furchtbar aus. Ihr Haare standen in alle Richtungen und die Augenringe waren tiefer als der Marianengraben und dunkler als ein schwarzes Loch.
"Tut mir leid, falls ich dich geweckt habe", entschuldigte sie sich.
"Alles okay bei dir?", erkundigte ich mich besorgt bei ihr.
Sie nickte tapfer.
"Ja, keine Sorge. Es ist alles in Ordnung."
Die Art, wie sie es sagte, ließ mich ahnen, dass sie das in letzter Zeit öfter durchmachte.
"Bist du schwanger?", kam es über meine Lippen, ehe ich darüber nachgedacht hatte.
Schuldig sah sie mich an und zögerte. Jedoch nur für einen kurzen Moment.
"Du solltest es nicht auf diese Art erfahren."
Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich würde schon sehr bald ein Geschwisterchen haben. Ein Kind, welches am anderen Ende der Welt aufwachsen würde und das ich vermutlich nur zweimal im Jahr zu sehen bekommen würde.
"Zu spät. Jetzt weiß ich es", gab ich verbittert von mir. "Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich dir einen Tee machen?"
Francis schüttelte den Kopf.
"Das ist nett, aber ich sollte die nächsten Stunden nichts zu mir nehmen. Auch kein Tee." Verunsichert sah sie mich an. "Es tut mir wirklich leid, dass du es so erfahren hast. Das ist sicher nicht leicht für dich."
Ich zuckte mit den Schultern. Sie konnte nichts dafür.
"Für dich sicherlich auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das geplant war."
Wenn sie mir gestern die Wahrheit gesagt hatten, kannten sie sich erst seit ein paar Monaten.
"Ja, es war eine ganz schöne Überraschung", gab sie zu.
Ich versuchte mir derweil vorzustellen, wie mein 50-jähriger Vater sich plötzlich noch einmal um ein Neugeborenes kümmern musste. Er schaffte es ja nicht mal mit seinen ausgewachsenen Töchtern Kontakt zu halten.
"Glückwunsch", sprach meine gute Erziehung aus mir.
"Ich kann mir vorstellen, was das für ein Schock für dich sein muss. Aber ich verspreche dir, dass das nichts an der Beziehung zu deinem Vater ändern wird. Er wird dich genauso wie vorher lieben. Du bist Teil unserer neuen Familie."
Ich lachte bitter.
"Das ist nicht unbedingt etwas Gutes. Vergiss nicht, dass er mich gerade erst ins Internat abgeschoben hat. Schlimmer kann es eh nicht mehr werden."
Mitleidig sah mich Francis an. Sie wusste ganz genau, dass ich recht hatte. Und vermutlich hatte sie sogar Angst, dass ihr eigenes Kind irgendwann in der gleichen Bedeutungslosigkeit enden könnte.
"Guten Morgen", ertönten plötzlich die tiefe Stimme meines Vaters.
Ich drehte mich um und sah ihn genervt hat. Ich wünschte mir so sehr meinen Papa von früher wieder. Der Papa, der immer für mich da war und stets ein offenes Ohr hatte.
"Glückwunsch, Daddy", sagte ich sarkastisch.
Ertappt sah er mich an.
"Du weißt es?"
Ich zeigte auf seine Freundin, die immer noch neben der Kloschüssel auf dem Boden kauerte.
"Ganz offensichtlich."
"Oh, na ja, jetzt ist es raus. Es ist doch etwas Schönes noch mal ein kleines Geschwisterchen zu haben, oder nicht?", fragte er mit gespielter Euphorie.
"Wird es denn auch ins Internat abgeschoben, wenn es aus der Welpenphase raus ist?", fragte ich provokant.
"Ach Millie, hör damit! Du weißt, dass wir dich nicht abgeschoben haben!"
"Ich wollte nicht ins Internat. Ich wollte nicht meine Freunde zurücklassen. Ich wollte nicht ohne meine Familie leben. Hat das irgendjemanden interessiert? Nein!"
"Es ging nicht anders."
"Aber auf einmal geht es ja doch mit einem Kind. Und ich würde mal behaupten, dass ich deutlich pflegeleichter bin als ein Säugling. Mir wurde gesagt, dass ich nicht bei dir leben kann, weil du keine Zeit hast. Aber schau an: Für ein neues Kind hast du auf einmal Zeit!"
Mein Vater sah nun geknickt aus und machte einen Schritt auf mich zu.
"Es war auch nicht geplant, okay? Diese Schwangerschaft ist einfach passiert und jetzt machen wir das Beste daraus."
"Weißt du was? Es ist mir egal! Mach doch, was du willst, aber lass mich daraus! Ich weiß gar nicht, warum du mich überhaupt hier in Vancouver haben wolltest, wenn du eh keine Lust auf mich hast."
"Das stimmt doch gar nicht!", protestierte er sofort.
"Oh doch! Ich kam hier an und wurde nicht einmal abgeholt. Und dann kam ich in dieses verlassene Haus und es war nicht einmal etwas Essbares da. Von weihnachtlicher Stimmung will ich gar nicht erst sprechen. Und dann kamst du endlich nach Hause und hörst mir nicht einmal zu!"
Mein Vater seufzte und legte seine Hand auf meine Schulter.
"Es tut mir leid, Schatz. Ich bin momentan wirklich gestresst. Auf der Arbeit ist viel los und dann die Schwangerschaft. Ich wollte nicht, dass du dich so unwillkommen fühlst. Es tut mir leid, dass du so sehr darunter leidest."
Er zog mich in eine Umarmung und ich ließ es über mich ergehen. Früher war ich immer ein Papakind gewesen, doch in den letzten Jahren hatten wir uns immer mehr entfernt.
"Ich mache es wieder gut", flüsterte er in mein Ohr. "Versprochen."
Wer es glaubt.
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