Kapitel 24 - Der perfekte Moment

Mich hatte tatsächlich noch ein Brief von Collin erreicht. Ich hatte ihn nicht geöffnet und ins Feuer im Kaminzimmer geworfen. Man musste an Freundschaften nicht festhalten, nur weil sie schon ewig bestanden. Wenn man schlecht behandelt wurde, war es Zeit den Schlussstrich zu ziehen. Ganz egal, wie lange man gedacht hatte, dass es die perfekte Freundschaft war.

"Gut siehst du aus", ließ ich Lou wissen, als er sich seine Fliege festzog.

Wir machten und uns für den Dezemberball schick.

"Du auch, Prinzessin", sagte er grinsend.

Ich hatte mir ein dunkelblaues Kleid mit Glitzersteinen besorgt, das aussah, als wäre es der Nachthimmel über der Arktis. Es war hochgeschlossen, doch die Schultern und Arme waren frei.

"Ich hoffe, es ist gut geheizt im Festsaal."

"Ja, keine Sorge. Dafür ist immer gesorgt."

Lou rückte seinen Anzug zurecht. Ich fragte mich, ob er noch mehr Muskeln aufgebaut hatte oder das Jackett ihn breiter wirken ließ.

"Hast du eigentlich gehört, dass Liza und Tom sich getrennt haben?"

Sein Blick schnellte zu mir. Offensichtlich hatte er davon noch nicht gehört.

"Wer von beiden hat Schluss gemacht?", fragte er sofort. Diese Information schien für ihn von oberster Priorität zu sein.

"Die Gerüchte sagen, dass es Tom war. Vielleicht hast du bei ihm ja doch noch eine Chance."

Tom und Lou waren in den letzten Wochen enge Freunde geworden. Die Tatsache, dass Tom Lou von der Trennung noch nichts erzählt hatte, könnte bedeuten, dass er sich noch nicht getraut hatte. Vielleicht hatte er ja tatsächlich für Lou Gefühle entwickelt. Es war selten leicht, offen zu geschehen, dass man auch auf das eigene Geschlecht stand.

"Meinst du?", fragte Lou verunsichert.

"Keine Ahnung. Ein Versuch ist es doch wert, oder nicht? Heute ist ein guter Tag dafür, denn du siehst echt heiß aus."

Er lachte verlegen und sah dann zu seiner Pinnwand, wo ein Bild von einem kleinen blonden Mädchen hing.

"Wer ist das eigentlich?", fragte ich.

Mir war schon öfter aufgefallen, dass er es manchmal länger nachdenklich ansah. Genau so, wie er es jetzt tat.

Lou blickte zu mir und lächelte.

"Ich", sagte er gelassen. "Das bin ich."

Ich sah wieder zu dem Bild mit dem kleinen Mädchen und konnte es kaum glauben. Das war er?

"Was?" Ich lief zu dem Bild, um es mir aus der Nähe genauer anzusehen. Das war ein kleines süßes Mädchen, mit einer Zahnlücke und zwei Zöpfen. Sie trug ein rosafarbenes Kleid. "Das bist wirklich du?"

"Ja, ich war ein richtig süßes Mädchen, oder?"

Lou lächelte mich an.

"Total! Warum hast du es hier noch zu hängen? Du kannst dich damit doch sicherlich gar nicht identifizieren."

Er zuckte mit den Schultern.

"Ich mag das Bild einfach und es zeigt mir auch, was ich alles schon durchgemacht habe, um so zu sein, wie ich heute bin. Ich meine, schau dir das Bild an. Meine Mutter hat mich gekleidet wie eine Puppe. Allein das Trauma zu überwinden, ist doch schon eine Leistung."

Lou war ein muskulöser junger Mann. Es ging nicht in meinen Kopf rein, dass er mal dieses zierliche kleine Mädchen gewesen sein sollte. Wie er wohl aussehen würde, wenn er keine Hormontherapie gemacht hätte?

Ich richtete seine Fliege, die immer noch ein bisschen schief hing.

"Du siehst heute jedenfalls großartig aus!", ließ ich ihn wissen. Wir tauschten vertraute Blicke aus. "Und ich bin echt froh dich als Mitbewohner zu haben. Stell dir mal vor, ich wäre mit einen von den Lantry Girls in ein Zimmer gekommen."

"Apropos, hast du schon gehört, dass die Polizei auch gegen sie ermitteln. Es gibt die Vermutung, dass sie die Mülltonne angezündet haben, damit sie endlich mal ernst genommen werden und nicht jeder über sie lacht."

"Was? Nicht dein Ernst!... Aber wenn ich so darüber nachdenke, traue ich denen das zu. Was sie mit mir gemacht haben, war auch schon am Rande zur Illegalität."

"Es wäre auf jeden Fall ein krasser Wendepunkt, wenn die dahinter stecken würden. VOn wegen dummer Jungenstreich. Manchmal sind es eben auch dumme Mädchen."

"Ja, da hast du Recht. Sag mal, kannst du mir meinen Reißverschluss am Rücken zu machen?"

Ich drehte mich mit dem Rücken zu ihm. Er trat einen Schritt heran. Seine Finger berührten meine nackte Haut. Sanft zog er den Zipper nach oben.

"Gut so?"

"Ja, danke!"

Er sah mich von der Fußspitze bis zum Scheitel an.

"George wird es lieben, wie du aussiehst."

"Ich hoffe!"

Er war der einzige Grund, warum ich mich so herausgeputzt hatte. Ich wollte endlich meinen Kuss haben.

"Ganz sicher!"

Lou gab mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und hielt mir dann seinen Arm hin, damit ich mich unterhaken konnte.

"Na los, es wird eh Zeit, dass wir gehen."

Für die paar Meter, die ich an der frischen Luft zurücklegen musste, verzichtete ich auf einen Mantel.

"Nimm für die paar Meter mein Jackett", bot Lou an und legte mir das Kleidungsstück über meine Schulter.

"Du charmanter Gentleman!"

"Immer doch, Superheldin. Du bist für mich schließlich ins vermeintliche Feuer gerannt!"

Wir betraten den Festsaal und mein Herz ging auf bei so viel Schönheit. Es sah aus wie in einem Märchenschloss. Überall brannten Kerzen. In deutschen Schulen hätte schon längst der Hausmeister meckernd im Türrahmen gestanden, doch hier verlieh das Kerzenlicht allem einen romantischen Touch. Es gab dutzende runde Tische, die mit feinsten Porzellan eingedeckt waren. Hier gingen also die 50.000 Euro hin, die meine Eltern jährlich zahlten.

Ich sah mich um. Es gab keinen einzigen, der keine Abendgarderobe trug. Es war schon seltsam zu sehen, wie Teenager aussahen, als wären sie die Trauzeugen ihres besten Freundes. Alle sahen so Erwachsen aus.

Im Hintergrund spielte klassischen Musik und auch wenn ich kein Quartett von meinem Standpunkt aus sehen konnte, vermutete ich, dass es Live Musik war.
"Uh La la, ihr Hübschen!", begrüßte uns Tom. "Schick seht ihr aus!"

Ich spürte, wie Lou neben mir verkrampfte. So wie wir es alle taten, wenn unser Schwarm plötzlich neben uns auftauchte.

"Danke", sprach ich für Lou mit.

"Wir sitzen dort hinten. Deine Date ist auch schon da", informierte er mich und zeigte auf George. "Er ist eigentlich gar nicht so übel, aber er sollte wirklich die Mannschaft wechseln!"

George unterhielt sich gerade angeregt mit Harry und hatte mich noch nicht bemerkt. Ich wurde nervös. Drei Stunden hatte ich heute im Bad gestanden, nur um ihn zu beeindrucken. Es war doof. Ich sollte ihn nicht mit Makeup und einem Haarspraykunstwerk beeindrucken. Doch ich wollte ihm auch optisch gefallen.

Es freute mich zu sehen, dass er von meiner Mannschaft angenommen wurde. Es hatte mich viele Stunden Überredungskunst gekostet, um mein Team davon zu überzeugen, dass George mit dem Feuer wirklich nichts zu tun hatte.

"Hey", machte ich auf mich aufmerksam und strich mein Kleid noch einmal glatt, damit auch keine Falte meinen Auftritt vermasselte.

Er sah zu mir auf, als er meine Stimme hörte. Sein Mund stand für eine Sekunde offen und das gab mir Genugtuung. Immerhin hatte sich die Mühe bezahlt gemacht.

George stand auf und gab mir einen Kuss auf die Wange.

"Du siehst bezaubernd aus!", flüsterte er und ich hatte das Gefühl, dass ihm ein wenig der Atem weggeblieben war.
"Du auch", erwiderte ich sofort.
Tatsächlich stand ihm sein Anzug außerordentlich gut. Ich war mir sicher, dass Violet sein Hemd extra noch gebügelt hatte.

"Ich freue mich so sehr, dass du gekommen bist. Und du humpelst kaum noch!"

Er nickte freundlich und seine Augen strahlten dabei.
"Ja, es geht bergauf. Ab nächsten Jahr kann ich wohl wieder spielen."

Zwar redeten wir schon wieder über Fußball, doch ich war mir sicher, dass wir beide mit unseren Gedanken gerade ganz woanders waren. Ich konnte es kaum erwarten, bis die Tanzfläche eröffnet wurde oder wir uns vielleicht draußen ein paar Minuten zurückziehen konnten.

"Milena", ertönte plötzlich die Stimme von Mrs Richmond. Sie war die letzte, die ich an diesem Abend sehen wollte. "Wir sind hier nicht am Strand. Wieso sind deine Schultern frei? Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, wie man sich bei einem Ball anzuziehen hat."

Ich blickte auf die kleine Frau hinab. Verglichen mit ihrem goldenen Ganzkörperkondom war mein Outfit sicherlich deutlich angemessener.

"Und Louisa", fuhr sie fort, ohne dass ich antworten kann. "Seit wann tragen Mädchen Anzüge?"

Ich starrte sie entsetzt an. Ihn ein Mädchen zu nennen, war allein deshalb schon absurd, weil er nichts Weibliches an sich hatte. Er trug einen gestutzten Bart, hatte harte Gesichtszüge und ein breites Kreuz. Wollte sie ihn wirklich in einem Kleid sehen?
"Mrs. Richmond, was freuen wir uns alle, dass sie uns heute hier mit Ihrer Anwesenheit beehren", gab Lou schnippisch von sich. "Sie sehen auch wundervoll aus!"

Sie verdrehte die Augen.

"Ihr seid wirklich unbelehrbar."

Dann drehte sie sich schwungvoll auf den Absatz ihrer Stöckelschuh und entfernte sich von uns.

"Diese Frau ist echt unglaublich."

George und ich saßen während des Abendmahls nebeneinander. Es freut mich, dass meine Mannschaft ihm eine Chance gab und er nutzte sie. Er konnte die anderen zum Lachen bringen und ich hatte das Gefühl, dass schnell klar war, dass er wirklich nichts mit dem Feuer zu tun hatte. Der ein oder andere hatte vermutlich immer noch Restzweifel gehabt. Doch spätestens, seitdem man den Verdacht hatte, dass es die Lantry Girls waren, war George aus dem Schneider.

Es wurden schließlich ein paar Reden gehalten und als es um 22 Uhr war, begann endlich der DJ aufzulegen.

George hielt aufgrund seiner Verletzung jedoch nicht lange durch, sodass wir beschlossen nach draußen zu gehen.

"Es schneit", rief ich erfreut, als ich sah, wie dicke Flocken vom schwarzen Himmel fielen. Wir traten an die frische Luft und ich legte meinen Kopf in den Nacken, um die Flocken aufzufangen. Gleichzeitig wurde ich mit einer Gänsehaut überzogen.

Obwohl von drinnen die Bässe bis nach draußen dröhnten, lag eine gewisse Stille in der Luft.

George kam zu mir und legte wie selbstverständlich sein Jackett um mich herum. Wenn das nicht der perfekte Moment war, wusste ich auch nicht mehr weiter. Um uns herum tanzten die Schneeflocken, während wir vor einem Schloss standen, durch dessen Fenster man in einen Ballsaal sehen konnte. Besser hatte es Cinderella auch nicht.

George hatte beide Hände an meinen Oberarmen. Ich sah zu ihm und forderte ihn mit meinem Blick auf mich zu küssen.

Doch wieder zögerte er. Wie viele Zeichen sollte ich ihm denn noch geben? Wir waren schon längst überfällig. Also stellte ich mich leicht auf meine Zehenspitzen und übernahm selbst die Initiative. Ich legte meine Lippen auf seine. An seiner Reaktion spürte ich, dass er genau darauf gewartet hatte. Er hatte sich nur nicht getraut den ersten Schritt zu machen.

Er zog mich näher an sich heran und küsste mich leidenschaftlich. Seine Lippen waren warm und weich. Man konnte unseren Atem sehen.

Es war so wunderschön. Ich wollte nicht, dass Moment je endete. Auch wenn es eiskalt war, war in mir drin so viel Wärme.

Schließlich lösten wir uns voneinander, um uns dann jedoch wieder innig zu umarmen. Der Augenblick war perfekt. Ich konnte gar nicht aufhören zu grinsen.

"Endlich", hauchte ich ihm zu.

Er lächelte mich an, während eine Schneeflocke an seinen Wimpern hängen blieb.

"Wir waren schon längst überfällig, aber ich habe mich einfach nicht getraut den ersten Schritt zu machen", gestand er.

Ich strich ihm liebevoll über die Wange.

"Kein Problem. Das habe ich sehr gern übernommen."
Es folgte ein zweiter Kuss. Dieses Mal hatte er die Initiative übernommen.

Lass mich bitte nie mehr los, dachte ich und schlang meine Arme um seinen Hals. 

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