Kapitel 15 - Das erste Date

Die Herbstferien hatten begonnen. Auch die letzten Laubblätter hat sich nun von den Ästen verabschiedet und verrotteten auf dem Boden. Aus der bunten Farbenpracht wurde ein matschiges Braun.

Alle aus der Mannschaft waren nach Hause zu ihren Familien gefahren. Nur ich blieb zurück. Doch ganz allein war ich nicht. George war noch da.
Wir hatten uns seit jener Nacht viel geschrieben, doch für Treffen hatte die Zeit kaum gereicht. Wir hatten uns bisher nur ein paar Mal kurz auf einen Tee im Café getroffen.

Heute sollte es aber endlich etwas Abenteuerlustiges werden. Wir hatten uns für eine kleine Wanderung durch die englische Landschaft getroffen. Klassiker wie Kino, Jahrmarkt oder Museeum fielen auf dem Land leider flach.

Ich hatte mir schon meine Schuhe angezogen, als mein Handy klingelte. Es war Mona, meinte Schwester.

"Hey, schön dich zu hören! Wie geht es dir? Ich muss leider gleich los", sagte ich hastig, da ich nicht zu spät kommen wollte.

"Hey Millie, schade. Ich dachte, wir könnten ein bisschen quatschen. Wir haben schon lange nichts mehr voneinander gehört. Wann hättest du denn Zeit, um in Ruhe zu telefonieren?"
Sie hatte recht. Seitdem sie nach Südamerika gegangen war, schrieben wir nur noch sehr sporadisch. Als Kinder waren wir unzertrennlich gewesen und hatten uns jedes Geheimnis erzählt. Na ja, fast jedes. Sie wusste nicht, dass ich ihr oft Süßigkeiten geklaut und es auf den Hund geschoben hatte.

"Wie wäre es mit heute Abend?", schlug ich vor.

"Dann ist es bei mir mitten in der Nacht. Ich rufe morgen Mal um die gleiche Zeit an. Ist das okay?"

"Gut, dann machen wir es so."
"Perfekt, und tut mir leid mit Collin!"

Ich hielt inne. Mein Blick ging ins Leere.

"Was tut dir leid?", tappte ich vollkommen im Dunkeln.
Kurz herrschte Stille.
"Hattest du mir nicht vor einigen Wochen geschrieben, dass ihr euch geküsst habt und du dir mehr erhoffst."

"Ja, richtig. Und?"
"Oh, du weißt es noch nicht. Das tut mir leid, Millie. Ich dachte, es wäre schon zu dir durchgedrungen. Er hat eine Freundin."

Ich verschluckte mich vor Schreck an meiner eigenen Spucke und hustet laut, um meine Atemwege wieder freizubekommen. Er hatte eine neue Freundin? Während ich noch dachte, dass wir so etwas wie eine Fernbeziehung führten!
Auf einmal machte alles Sinn. Mit jeder Woche mehr, die ich hier verbracht hatte, hatte er sich seltener gemeldet. Warum hatte er es mir nicht einfach gesagt? Selbst Semra hatte geschwiegen.

"Woher weiß du das?"

"Alles wissen es. Es tut mir so leid, Millie. Aber Semra und er sind zusammen. Semra ist seine Freundin."

Meine Kinnlade klappte nach unten. Dafür, dass er mir erst vor ein paar Wochen gestanden hatte, wie viel ich ihm doch bedeutete, hatte er ja sehr schnell seine Meinung geändert.

Tränen der Wut liefen über meine Wangen. Die Zwei waren meine besten Freunde.

"Willst du doch jetzt reden?", fragte Mona einfühlsam nach.

"Nein, ich bin verabredet", antwortete ich ohne zu zögern.

"Okay, dann bis morgen. Schreib mir gern, wenn du deine große Schwester schon vorher brauchst."

"Mach ich!"
"Tschau! Und lass dir nicht das Herz von dem brechen! Er ist es nicht wert! Hab dich lieb!"

Ich stürmte förmlich aus dem Zimmer und ging schnellen Schrittes zum Buchladen, vor dem wir verabredet waren. In mir brodelte ein gefährlicher Trank aus Wut, Enttäuschung, Neid, Hass und und Frust. Wie konnten sie mir das antun? Warum musste ich es von meiner Schwester erfahren? Sie hatten sich beide kaum noch in den letzten Wochen gemeldet! Hatten sie mich vergessen? Wollten sie mit mir nichts mehr zu tun haben? Ich wusste gar nicht, welche Emotion ich zuerst empfinden sollte. In mir herrschte ein absolutes Chaos.

"Alles okay?", begrüßte mich George, dem mein Gefühlschaos offensichtlich nicht entgangen war, als er am Buchladen ankam.

Ich atmete einmal tief durch. Ich durfte auf keinen Fall meine innere Wut an ihm auslassen.

"Nein", antwortete ich ehrlich und begann ihm die gesamte Geschichte zu erzählen. Ich ließ kein Detail aus. Ich musste all das endlich loswerden. Eine Stunde liefen wir über die grünen Hügel Englands, während George mir aufmerksam und geduldig zuhörte. Es tat mir leid, dass er alles abbekam. Sicherlich hatte er sich dieses Treffen auch anders vorgestellt. Doch ich konnte nicht anders. Ich brauchte jemand, der mir zuhörte und dem ich mein Leid klagen konnte.

Dann blieb ich stehen und sah ihn entschuldigend an. Der Wind hatte seine schwarzen Haare vollkommen zerzaust und seine Wange waren von der frischen Landluft leicht gerötet.

"Jetzt habe ich die ganze Zeit von mir gesprochen. Tut mir leid. Ich bin einfach so überfordert und enttäuscht."

Auch er war stehengeblieben.

"Entschuldige dich nicht dafür. Ich bin ein guter Zuhörer."

Das war er tatsächlich. Nicht ein einziges Mal hatte er mich unterbrochen. Ich wünschte, ich hätte diese Geduld.
Direkt neben unserem Weg floss ein kleiner Bach.

"Aber wir wollten uns doch nicht nur treffen, damit ich dir mein ganzes Leid klagen kann."

Er zuckte mit den Achseln.
"Manchmal ist es eben so. Es ist okay. Du musst gerade echt viel durchmachen und bist hier allein."

Ich wusste es sehr zu schätzen, dass er so verständnisvoll war.

"Weißt du was?", sagte ich und griff nach dem Medaillon, das noch um meinen Hals hing. Mit einem kräftigen Ruck riss ich es mir vom Hals. Der Verschluss sprang auf. "Ich brauche das blöde Ding nicht mehr."

Ich sah es ein letztes Mal an. es war reine Heuchelei gewesen es mir zu schenken. Ich holte mit meinem Arm aus und schmiss es dann kraftvoll in den Bach.

"Einen leichten Hang zur Dramatik hast du ja schon", sagte George erstaunt locker. "Meinst du nicht, dass das ein wenig überreagiert ist. Schließlich sind sie deine besten Freunde. Ihr seid zusammen aufgewachsen. Ist das gar nichts mehr wert?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Waren", korrigierte ich ihn. "Sie waren meine besten Freunde."

Die Vorstellung, dass Collin und Semra sich küssten, fühlte sich an als hätte man einen Böller in mein Herz geworfen. Er hatte mir auf so süße Art und Weise seine Liebe gestanden. Wie konnte er sich so schnell umentscheiden? War sein Liebesgeständnis überhaupt echt gewesen? Ich dachte, dass ich Collin wirklich gut kannte, doch auf einmal war ich mir nicht mehr sicher.

Mal wieder nahm meine Tränendrüse ihre Arbeit auf.
"Weinst du?", erkundigte sich George.

Ich versuchte tapfer auszusehen und wischte mir die Tränen mit meinem Ärmel weg.

"Schon okay", tat ich es ab.

Nichts war okay. Ich war überfordert mit meinem Leben.

Plötzlich fand ich mich in einer Umarmung wieder. George hatte seine Arme um mich legt. Eine Hand lag auf meinem Rücken, seine andere fuhr mir über meinen Hinterkopf. Unsere dicken Anoraks knisterten bei diesem Körperkontakt. Es war eine sehr innige Umarmung, die mich komplett unerwartet erwischt hatte. Doch es kam so unerwartet, wie ein Lottogewinn: Herzklopfen, Glückshormone und Gänsehaut.

Schließlich nahm er mein Gesicht in seine Hände. Wir waren uns erstaunlich nah. Er strich eine weitere Träne von meiner Wange.

"Es kommen wieder bessere Zeiten", sprach er zuversichtlich.

Ihm so nah zu sein, ließ mein Herz schneller klopfen.

Es fiel mir schwer seinen Worten zu folgen, denn mit den Gedanken war ich plötzlich ganz woanders. Es war, als hätte die körperliche Nähe einen Schalter umgelegt. Ich wollte noch einmal seine Nähe spüren und von ihm umarmt werden. Bisher hatte ich in ihm einfach nur einen netten Kerl gesehen, doch plötzlich erschien er mir, wie etwas sehr Liebenswertes. Ich war mir jedoch nicht sicher ober er auch für mich so empfand.

Ich räusperte mich, um die Situation aufzulösen. Ich hatte Angst einen weiteren Schritt zu gehen.

"Genug von mir", sagte ich schließlich mit etwas klareren Kopf. "Erzähl mir etwas von dir."

"Es gibt über mich nicht viel zu erzählen", sprach er ruhig und wir begannen unseren Spaziergang fortzusetzen.

"Irgendetwas gibt es bestimmt."

"Meine Mannschaft und ich bereiten uns gerade auf das Fußballspiel gegen Lantry BS vor."

Mein Blick schnellte zu ihm hoch.

"Spielst du beim Lantry VC?"

"Ja, da unser eigentlicher Trainer krankheitsbedingt ausgefallen ist, bin ich momentan sogar der Trainer."
Ich konnte mein Entsetzen nicht verstecken.
"Du bist der Trainer?"

Ich musste es noch einmal bestätigt haben.
"Ja, ist das so schlimm?"

"Ich spiele beim Lantry BS!"

Er legte seine Stirn in Falten und es war offensichtlich, dass er an meiner Aussage zweifelte.

"Das kann nicht sein. Das ist eine Jungenmannschaft."

"Nicht mehr seit diesem Jahr" informierte ich ihn. "Ich wurde in die Mannschaft aufgenommen."

Er wurde blass, wenn das angesichts seiner Grundblässe überhaupt möglich war.

"Das ist nicht gut."
Ich stemmte meine Fäuste in meine Taille.

"Was soll das heißen? Auch Mädchen können Fußball spielen."

Er verdrehte die Augen.

"Das meine ich doch auch gar nicht. Sondern die Tatsache, dass wir in den beiden Mannschaften sind. Du kannst dir nicht vorstellen, wie tief verwurzelt die Rivalität dieser beiden Clubs ist."

"Das ist mir nicht entgangen."

Er wirkte nun unruhig und begann nervös mit dem Reißverschluss seiner Jacke zu spielen.

"Es darf niemand erfahren, dass wir uns treffen. Glaube mir, dass würde noch mehr Drama bringen und das brauchen wir nicht."

"Aber wir machen doch gar nichts, außer quatschen."

Ich wusste nicht, wie ich anders formulieren sollte, dass zwischen uns rein gar nichts lief, auch wenn ich mir plötzlich sehr stark wünschte, dass wir auch andere Dinge tun würden, außer quatschen.

"Es gab mal zwei Schwestern im Internat Eine hatten einen Spieler vom VC gedatet und die andere von BS. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für Ausmaße angenommen hat. Letztendlich mussten die beiden die Schule verlassen."

"Wie bitte?"

"Ja, man hat Eier an ihr Fenster geworfen, ein totes Kaninchen vor ihre Tür gehangen und die Kleidung zerstochen, die draußen zum Trocknen."

Ich schluckte schwer.

"Hat man denjenigen gefasst, der das war?"

"Nein, keiner wagt es etwas zu sagen. Die Leute sind verrückt, wenn es um diese Rivalität geht. Allein die Vorstellung, dass zwei der Spieler befreundet sind, ist undenkbar."

"Aber man hat uns doch eh schon im Café gesehen."

Er nickte nachdenklich.
"Da war aber sicherlich niemanden bewusst, dass du in der Fußballmannschaft spielst. Das mit den Mädchen ist nämlich neu. Wir sollten hoffen, dass das niemanden aufgefallen ist."

"Also sollten wir uns nicht mehr treffen?", fragte ich traurig und hatte gleichzeitig innere Panik, dass mein Leben nur noch aus Verlust bestand. Alle schienen sich momentan von mir abzuwenden und ich war mir nicht sicher, wie lange ich das noch ohne dauerhaftes Trauma mitmachen konnte.

"Nein, unsere Treffen lassen wir uns nicht nehmen. Aber vielleicht nicht unbedingt im Dorf, wo wirklich jeder uns sehen kann."

Die Art wie er sprach, wirkte so, als wären wir mehr als nur Freunde. Als wäre das hier ein Date. Ich hatte unsere Treffen nie als solche gesehen, denn ich hatte mich immer noch Collin versprochen gefühlt. Doch das hatte ich sich nun wohl erledigt. 

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