Kapitel 14 - Der Schreck
Im Turmzimmer gab es einen Kamin, in dem auch tatsächlich Feuer brannte. Leider schenkte dem jedoch niemand der ansehnlichen und knisternden Wärmequelle seine Aufmerksamkeit. Stattdessen hatte es sich ein Großteil des Teams auf den Sofas und auf dem Boden gemütlich gemacht. Alle unterhielten sich durcheinander und pushten sich gegenseitig immer lauter zu sprechen. So laut wäre es also in einem Klassenraum, wenn der Lehrer uns nicht ständig ermahnen würde.
"Millie!", rief Harry erfreut als er mich sah. "Schön, dass du auch noch gekommen bist."
Ich lächelte und es tat mir wirklich gut, dass er sich offenbar über meine Anwesenheit freute. Da war er meiner Mutter schon mal einen Schritt voraus. John schien es tatsächlich geschafft zu haben, bei ihm einen Schalter umzulegen.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Parkettboden, der auch schon seine besten Zeiten hinter sich gebracht hatte.
Tom, unser Torwart und ähnlich groß und stark gebaut wie Harry, warf mir ein Kissen zu. Er saß in einem großen Ohrensessel, der angesichts seiner Statur jedoch winzig wirkte.
"Der Boden ist kalt", sagte er knapp. "Und meine Mutter sagt immer, dass Mädchen sich auf kalten Böden schnell eine Blasenentzündung holen."
Ich fing das Kissen auf, nickte ihm dankbar zu und setzte ich mich drauf. Wäre ein Gentleman, hätte er mir seinen Sessel angeboten, doch ich schätzte seine Geste sehr.
"Hast schon von der Rivalität zwischen Lantry VC and Lantry BS gehört?", erkundigte sich Tom und schenkte mir seine Aufmerksamkeit.
"Ein bisschen. Die Mannschaften sind nicht gut aufeinander zu sprechen."
"Wir hassen uns", sagte er mit einem breiten Grinsen. "Letztes Jahr hatten wir das erste Mal Pyro bei einem Spiel. Die Tribüne sah aus, als würde sie brennen."
Die Art wie er es sagt, ließ mich erahnen, dass das für ihn etwas Positives war.
"Stimmt es, dass es etwas mit dem Tod von einem Mädchen zu tun?", hakte ich vorsichtig nach. Sofort verdunkelte sich Toms Blick.
"Wer hat dir das erzählt?"
"Einer aus dem Dorf, den ich zufällig getroffen habe."
Tom seufzte und schüttelte abfällig den Kopf.
"Diese Dorflinge... Es gab mal einen schlimmen Unfall bei denen ein kleines Mädchen gestorben ist. Das stimmt. Aber das ist viele Jahre her. Wir waren damals selbst noch Kinder. Ich verstehe nicht, wie man deswegen immer noch einen Hass auf uns haben kann, obwohl wir offensichtlich nichts damit zu tun haben. Es ist lächerlich. Jedes Jahr beim Derby halten sie Plakate hoch, auf dem "Mörder" steht. Was soll das? Keiner der damaligen Täter ist noch hier. Und zwar schon seit Jahren nicht mehr."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nickte ich nur zustimmend. Ich konnte beide Seiten gut verstehen.
"Hat jemand Lust auf UNO?", rief Greg in die Runde und hielt einen Stapel Karten in der Hand.
Es fand sich ein kleines Grüppchen - inklusive mir, das sich um den Holztisch herumplatzierte und die bunten Karten nacheinander auf den Tisch warf. Es war schon erstaunlich mit welch simplen Methoden man plötzlich sein Lachen wiederfand und seine Sorgen vergaß.
Als es fast Mitternacht war, fielen mir jedoch fast die Augen zu. Was eventuell auch daran lag, dass wir uns endlich auf einheitliche Regeln geeinigt und sich die leidenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten gelegt hatten. Bei UNO hörte die Freundschaft auf. Insbesondere wenn man eine +2 auf eine +4 legen wollte.
"Ich geh Schlafen, Jungs", sagte ich müde.
Lou und ich waren die einzigen, die im Mädchenflügel wohnten. Alle anderen mussten auf die andere Seite des Campus. Also sah ich Lou fragend an. Dieser hatten sich vom Kartenspiel ferngehalten und unterhielt sich gerade angeregt mit Tom über die europäischen Fußballligen.
"Ich komm in einer halben Stunde nach", rief er mir zu.
Der Weg war nicht weit, doch etwa 50 Meter durch die dunkle, kalte Nacht blieben mir trotzdem nicht erspart. Immerhin war der Himmel wolkenfrei und der Mond, der heute riesig erschien, spendete mir Licht. Er tauchte die Atmosphäre aber auch in die eines Psychothrillers. Insbesondere, als ich eine Gestalt wahrnahm, die in meine Richtung kam, erhöhte ich die Frequenz meiner Schritte.
Ich bekam ein ungutes Gefühl im Bauch, denn die Person schien in meine Richtung zu gehen. Ich lief noch zügiger, wollte aber auch nicht rennen. Wahrscheinlich war es nur irgendein Mädchen, das wie ich den Abend irgendwo verbracht hatte und nun zurückkam.
Doch die Statur war nicht die eines Mädchens. Die Schultern waren zu breit und die Beine zu sehr wie ein O geformt.
Und abgesehen vom Turmzimmer gab es keine Gesellschaftsräume, an denen ich eben nicht vorbeigekommen war. Und alle anderen waren leer gewesen.
Ich griff nach dem Schlüssel in meiner Jackentasche, um die Tür zu unserem Haus aufzuschließen, als mich plötzlich eine Hand auf der Schulter berührte.
Ich schrie laut auf und wirbelte kampfbereit herum.
"Hey, ich bin es!", hörte ich eine bekannte Stimme.
Vor Schreck schrie ich noch immer. Doch ich hatte gar keinen Grund, denn ich erkannte jetzt, wer vor mir stand.
"Ich bin es. George."
Ich verstummte. Jedoch nur kurz. Kaum hatte ich wieder Luft, stellt sich mir nur eine Frage.
"Was machst du denn immer um Mitternacht im Internat?", fuhr ich ihn unsanft an.
Er hatte mich zu Tode erschreckt
"Mein Vater ist Bademeister in der Schwimmhalle. Ich war neulich nachts da, weil er etwas vergessen hatte. An diesem Abend waren zufälligerweise auch Schüler eingebrochen und jetzt komme ich manchmal hierher und schau nach dem Rechten. Falls noch einmal jemand auf die Idee kommt einzubrechen." Plötzlich sah er mich kritisch an. "Moment mal. Was meinst du mit "immer"? Hast du mich etwa schon mal hier gesehen?"
Ertappt.
Ich sagte nichts, doch seine Erinnerung schien ihm auf die Sprünge zu helfen.
"Oh mein Gott! Du warst das Mädchen auf dem 10-Meter-Turm!", sprudelte es aus ihm heraus. "Du warst eine der Einbrecherinnen!"
Zum Glück war es dunkel genug, sodass er meine gerötete Wangen hoffentlich nicht sehen konnte.
"Nein! Ich bin nicht eingebrochen! Es war eine Mutprobe und ich wurde dazu gezwungen", verteidigte ich mich sofort.
Ich befürchtete, dass er sauer sein könnte, doch stattdessen musste er lachen.
"Das warst wirklich du? Das hast du mit dir machen lassen?"
Beschämt sah ich zu Boden. Ich wusste selbst nicht, was damals in mich gefahren war. Ich war damals vollkommen überrumpelt gewesen. Schließlich hatte man mich mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen.
Plötzlich hörte ich Geräusche vom anderen Ende des Weges kommen. Jemand hatte die Tür vom Hauptgebäude geöffnet und eine Gruppe Menschen kam herausgerannt.
"Es ist besser, wenn ich jetzt gehe", sagte George hastigt. Dann nahm er plötzlich meinen Arm, zog den Ärmel meines Sweatshirts nach oben und kritzelte eine Nummer auf meinen Unterarm. "Schreib mir!", sagte er noch, ehe er losrannte.
Und das aus gutem Grund. Denn ich erkannt meine Fußballmannschaft, die ebenfalls auf mich zugerannt kam. Zwei nahmen die Verfolgung von George auf, doch es war offensichtlich, dass dieser schneller war und einen guten Vorsprung hatte.
"Millie", hörte ich Lou besorgt rufen. "Was ist passiert? Wir haben Schreie gehört! Bist du okay?"
"Ja, keine Sorge! Ich habe mich nur erschrocken."
"Wer war das?", hakte Harry nach, der dicht hinter Lou stand. Seine Körperhaltung strahlte pure Kampfbereitschaft aus.
"Niemand."
"Niemand?", hakte Lou sofort nach. "Er hat dich angefasst."
Lou zeigte auf meinen Arm, der jedoch wieder verdeckt war. Ich fragte mich, warum wir nicht schon im Café Nummern ausgetauscht hatten.
"Es war wirklich nichts. Tut mir leid, dass ihr aufgeschreckt wurdet."
"Hat denn keiner von den Mädchen mal nach dir geschaut?", hakte Harry nach. Schließlich stand ich genau vor unseren Schlafsälen.
"Sieht nicht so aus. Vielleicht sind sie wieder unterwegs, um irgendein Mädchen mit einer Mutprobe zu quälen."
Harry wurde hellhörig.
"Was für eine Mutprobe?"
"Ach vergiss es", tat ich es schnell ab, doch er ließ nicht locker.
"Was musstest du machen?"
Eigentlich konnte ich es ihm auch erzählen. Warum sollte ich ein Geheimnis daraus machen. Genau das wollten die Lantry Girls schließlich. Zumindest diesen Zahn konnte ich ihnen ziehen.
"Zuerst musste ich durch diesen Tunnel ins Lehrerzimmer einbrechen und dann-."
"Moment, was?", unterbrach er mich. "Welcher Tunnel?"
Verwundert sah ich ihn an. Erst jetzt kam mir der Gedanken, dass eventuell nicht nur die Lehrer diesen Tunnel nicht kannten, sondern auch viele Schüler unwissend waren.
"Ähm, du kennst den Tunnel nicht?"
Ungläubig schüttelte er den Kopf.
"Nein, noch nie gehört, aber erzähl mir alles!"
Mittlerweile hatte sich ein kleines Grüppchen, um mich gebildet und alle lauschten gebannt.
"Es gibt einen geheimen Tunnel vom großen Festsaal in das Lehrerzimmer. Der Einstieg ist direkt unter dem Kronleuchter. Eine Diele kann man abnehmen und darunter ist ein Griff."
"Unmöglich!", mischte sich Greg ein. "Wieso wissen wir davon nichts?"
Ich fragte mich gerade, ob ich ein gute behütetes Geheimnis einfach so herausposaunt hatte. Doch auf der anderen Seite war es mir ganz recht, wenn die Lantry Girls es nicht mehr nur für sich beanspruchen konnten.
"Behaltet es bitte für euch, okay?"
"Wir müssen das sofort ausprobieren!", sagte Tom.
Ich schüttelte den Kopf.
"Nicht mehr heute. Es ist schon spät. Lasst es uns morgen Abend versuchen, okay?"
"Sie hat Recht", sprach Harry ein Machtwort. Schließlich war er der Kapitän. Auch abseits des Feldes. "Tiffany hat heute Nachtaufsicht. Mit ihr will ich es mir nicht verscherzen. Für morgen steht Ralph für die Nachtschicht drin. Der pennt eh durch. Und selbst wenn er uns erwischt, ist es ihm vermutlich auch egal. Lasst uns morgen Abend um 8 Uhr im Kaminzimmer treffen."
Keiner wagte es zu widersprechen. Harry war unangefochten der Anführer dieser Truppe.
"Gut, dann wünsche ich euch eine gute Nacht. Ich brauche wirklich meinen Schlaf."
Jeder murmelte ein "Nacht" vor sich hin, während Lou und ich im Gebäude mit den Zimmern der Mädchen verschwanden.
Wir liefen den langen Gang entlangen, während man nur das Hallen unserer Schritte hörte. Aus den anderen Zimmer hörte man nicht einen Mucks.
Ich dachte an George und daran, dass ich ihn unbedingt wiedersehen wollte. Doch gleichzeitig fühlte ich mich schuldig. Schließlich hatte ich mein Herz schon an Collin vergeben. Ich zog meinen Ärmel hoch und sah mir die gekritzelte Nummer an.
So viel stand jedoch fest: Ich würde ihm schreiben.
"Millie?", fragte Lou, als wir beim Zimmer angekommen waren.
"Ja?"
"Soll ich dir mal was sagen?"
Ich spürte, dass ihm das, was immer auch gleich sagen würde, sehr wichtig war. Also schenkte ich ihm meine gesamte Aufmerksamkeit und sah ihn gebannt an.
"Klar."
Er machte eine kurze Pause und sah dabei etwas gequält aus.
"Ich glaube, ich bin verliebt."
Dieser Satz kam für mich so unerwartet, sodass ich ihn reglos anstarrte. Ich konnte ihm ansehen, dass es viel Überwindung gebraucht hatte, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich sah aber auch eine gewisse Form von Erleichterung.
"In mich?", brachte ich schließlich über meine Lippen.
Er lachte sofort.
"Nein, nicht du." Er fuhr sich nervös durch die Haare. "Sorry", schob er noch nach.
"Es ist..." Er machte einen kurze Pause. "Tom."
"Tom? Unser Torwart?", hakte ich sofort überrascht nach.
Verlegen nickte er.
"Ich weiß, dass es sinnlos ist. Er ist mit Liza zusammen und vermutlich nicht einmal an Jungs interessiert. Aber was soll ich machen? Man kann seine Gefühle nicht kontrollieren. Ich sehe ihn und mein Herz klopft plötzlich schneller. Dieser Abend war ...perfekt. Wir haben uns so nett unterhalten und er war so witzig." Er seufzte. "Ich würde am liebsten jeden Tag mit ihm zusammen verbringen."
Ich hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass Liza und Tom ein Paar waren.
"Hmm, wirst du es ihm sagen?"
"Um Gottes Willen, nein! Ich bin so froh, dass sie mich endlich akzeptieren und ich mit in die Umkleide darf. Wenn ich ihm gestehe, dass ich ihn echt heiß finde, kann ich mir das sicher wieder abschminken."
"Verstehe." Ich fragte mich, ob Lou sich nicht nur mit ihnen umgezogen oder auch wie alle anderen geduscht hatte. Er war zwar frisch geduscht hier angekommen, doch ich vermutete, dass er wie auch bei den Mädchenwaschräumen in unserem Haus, gewartet hatte, bis alle anderen fertig waren. "Dann sollen sie also auch nicht wissen, dass du schwul bist?"
Er schüttelte sofort den Kopf.
"Ich bin nicht schwul und ich hasse diese Labels: trans, schwul, bi, lesbisch, pan, inter, a... Was auch immer... Ich will mich nicht zuordnen müssen. Warum muss man Liebe in Kategorien pressen? Ich liebe einen Menschen. Heute ist es ein Junge, morgen vielleicht ein Mädchen. Ist doch völlig egal. Weißt du, was ich meine?"
Ich nickte und beneidete ihn, wie locker er damit umging. .
"Ja, hört sich nach einer guten Einstellung an."
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