"Hey Schatz, ich habe gesehen, dass du mir auf die Mailbox gesprochen hast. Jetzt kann ich dich leider nicht erreichen. Ich hoffe, es geht dir gut. Tut mir wirklich leid, aber ich habe im Moment sehr viel zu tun. Wie wäre es, wenn wir am Wochenende telefonieren? Dann können wir auch die Herbstferien besprechen. Ich weiß, dass es geplant war, dass du in den Herbstferien zu mir nach New York kommst, doch ich bin auf Dienstreise und gar nicht da. Und Papa weiß es auch nicht. Eventuell müsstest du in England bleiben. Ich hätte am Sonntag gegen 12 Uhr 20 Minuten Zeit. Ruf einfach an! Hab dich lieb. Mama."
Wow, ganze 20 Minuten ihrer kostbaren Zeit gönnte sie mir. Und dafür musste ich auch noch einen Termin mit ihr ausmachen. Mal ganz davon abgesehen, dass es 3 Tage gebraucht hatte, bis sie überhaupt zurückgerufen hatte. Und was noch viel schlimmer war: Während alle Schüler in den Ferien zurück zu ihren Eltern fahren würden, musste ich allein zurückbleiben.
Ich könnte jetzt wieder anfangen zu weinen. Doch ich hatte in den letzten Tagen schon viel zu viel geweint. Meine Ressourcen waren erschöpft und meine Tränenproduktion vorübergehend eingestellt. Außerdem hatte ich jetzt Fußballtraining und das Schlimmste, was ich machen konnte, war verheult dort aufzutauchen. Es würde ihnen noch mehr Angriffsfläche geben.
"Millie, schon dich wieder zu sehen!", begrüßte mich John mit einem offenen Lächeln. "Wie geht's?"
"Hey John, ganz gut. Mal schauen, wie viel Sexismus ich heute ertragen muss", brummte ich.
Sein freundlicher Gesichtsausdruck wurde ernster.
"Mir ist es nicht entgangen, dass dein Start wirklich kein guter. Ich habe mich gestern mit der Mannschaft getroffen und das thematisiert."
Überrascht hob ich meine Augenbrauen.
"Ihr habt euch alle getroffen? Ohne mich?"
"Ja. Ich hielt es für besser, wenn du in dem Fall nicht dabei bist."
Ich erinnerte mich daran, dass Lou gestern Abend für zwei Stunden weg war. War er etwa auch dabei gewesen? Gehörte er schon dazu und ich nicht?
"Lou auch?"
"Ja, auch Lou." Nun fühlte ich mich ausgeschlossen. Ich wurde nicht einmal zur Mannschaftssitzung eingeladen. "Millie, bitte sieh mich nicht so vorwurfsvoll an", erkannte John meine Gedanken. "Ich denke, dass es besser war, dass du nicht dabei warst. Das hat nichts mit dir zu tun, sondern mit der Tatsache, dass ich wollte, dass die Jungs offen sprechen. Wenn du mich fragst, mögen sie dich eigentlich. Aber du kennst doch Jungs in dem Alter. Die wollen cool sein - insbesondere wenn Mädchen anwesend sind. Wärst du gestern dabei gewesen, hätten sie nur Sprüche geklopft, ohne dass wir ein ernstes Gespräch hätten führen können. Wir haben wirklich lange gesprochen. Es wird sicherlich trotzdem noch ein wenig dauern, bis ihr miteinander warm werdet, aber so ein Disaster wie beim letzten Mal wird es nicht noch einmal geben. Das habe ich allen klargemacht. Ich dulde weder Fouls gegen eigene Mitspieler - also offiziell dulde ich natürlich gar keine Fouls, noch Sexismus. Wenn das noch einmal in irgendeiner Form passiert, fliegt der Spieler raus. Also sollte es irgendeinen Vorfall geben, von dem ich nichts mitbekomme, gib mir bitte Bescheid. Es wird definitiv Konsequenzen haben. Ich will, dass du dich hier wohlfühlst, denn das ist auch deine Mannschaft." Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. "Du bist ein Teammitglied wie jeder andere."
Dankend lächelte ich ihm zu.
Dann kamen auch schon die Jungs aus der Kabine. Es wurden befremdliche - jedoch keine feindseligen Blick ausgetauscht.
"Einrennen, Jungs!" John blickte zu mir. "Und Mädchen", korrigierte er sich und musste schmunzeln. Offenbar musste er sich selbst noch daran gewöhnen, dass er jetzt Trainer von einem gemischten Team war.
Ich fragte mich wie alt er war. Auf den ersten Blick hätte ich ihn auf Mitte 30 geschätzt. Doch wenn man ihn genauer ansah, war er vermutlich jünger. Er hatte Aknenarben auf seinen Wangen und am Kinn, die seine Haut gröber wirken ließ und somit auch älter. Doch der Blick in seine Augen verriet, dass er vermutlich gerade erst als Lehrer angefangen hatte zu arbeiten.
Ich lief meine Runden in meinem eigenen Tempo. Alle anderen hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammen geschlossen und quatschten nebenbei. Selbst Lou. Nur ich lief allein.
Als wir das Einlaufen beendet hatten, wurde wir in Zweier-Teams aufgeteilt. Lou und ich sahen uns sofort an, doch John kam uns zuvor: "Millie und Harry, Lou und Greg."
Ich sah zu Harry, der einen ganzen Kopf größer war als ich und beim letzten Training noch der Meinung war, dass Mädchen nicht in die Mannschaft gehörten.
Wir stellten uns in Pärchen in eine Reihe.
"Ihr wisst, dass nach den Herbstferien das Spiel gegen Lantry VC stattfindet", begann John seine Ansprache.
"VC?", murmelte ich fragend vor mich hin.
"Village Club", flüsterte Harry mir erstaunlich nett zu. Ich sah ihn fast schon erschrocken an. "Die aus dem Dorf sind Lantry VC und wir sind Lantry BS - für Boarding School", erklärte er mir geduldig im flüsternden Ton. Dann hörten wir wieder John zu.
"Wir alle kennen die Rivalität und wir alle wollen gewinnen. Deshalb müssen wir hart trainieren. Insbesondere die Pässe müssen sitzen und genau da setzen wir an. Genauigkeit ist A und O."
Dann erklärte er uns unsere Übung. Dabei sah ich ihn das erste Mal selbst am Ball und war beeindruckt. Er war nicht nur ein einfacher Laienspieler, der Sonntags seinen Bierbauch über das Feld schob. So, wie er den Ball beherrschte, musste er mal professionell gespielt haben.
"Er war in der Jugendmannschaft von Chelsea", hauchte mir Harry in mein Ohr, sodass ich zusammenzuckte. Ich hatte nicht erwartet, seinen Atem in meinem Gehörgang zu spüren. "Er musste wegen eine Knieverletzung aufgeben."
Ich drehte mich nun zu Harry und schenkte ihm meine Aufmerksamkeit. Unschuldig, wie Bambi, sah er mich an.
"Warum bist du auf einmal so nett zu mir?", hakte ich nach.
War das Schamesröte auf seinen Wangen?
"Es tut mir leid, dass ich neulich etwas unfreundlich war", sprach er mit gesenktem Blick. Überrascht zog ich meinen Augenbrauen hoch. Ich hätte ihn nicht als eine Person eingeschätzt, die in der Lage war eine Entschuldigung über die Lippen zu bringen. "John hat mir klar gemacht, dass ich gerade als Kapitän Verantwortung trage und ein Vorbild sein muss. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Hiermit entschuldige ich mich bei dir."
Er reichte mir seine riesige Hand, die eher der Pranke eines Tigers glich. Jedoch mit abgeknabberten Nägeln. Ich ergriff seine Hand, die warm und rau war.
"Angenommen."
"Hey, eure Friedenspfeife könnt ihr später rauchen! Jetzt wird trainiert!", rief John uns zu und wir gehorchten sofort.
Es lief erstaunlich gut und nachdem das Training beendet war, wurde ich sogar noch vom Kapitän gelobt.
"Du spielst wirklich nicht schlecht. Wenn die Leistung bleibt, bist du vielleicht unser neuer Stammspieler. Gegen Lantry VC brauchen wir unsere Besten."
So sehr mich die Aussage auch freute, umso mehr spürte ich den tötenden Blick des derzeitigen Stürmers Greg auf mir.
Dann wandte sich Harry an Lou.
"Lou, du kannst gern wie jeder andere mit in der Jungenumkleide duschen. Wie du magst."
Lous Blick in diesem Moment war unbezahlbar und ich wünschte, ich hätte mein Handy dabei gehabt, um diesen Moment auf Kamera festzuhalten. Da war so viel Freude darüber, endlich dazuzugehören.
"Ähm, gern", stotterte er etwas verunsichert.
Lou sah mich entschuldigend an.
"Kein Problem. Geh ruhig", sagte ich sofort. "Ich geh schon mal vor und wir sehen uns im Zimmer."
Harry sah zu mir hinab.
"Sorry, aber ich denke, du würdest dich selbst nicht wohlfühlen in einer Umkleide voller Testosteron. Ich will dich nicht ausschließen, aber ich denke, dass du daran eh kein Interesse hast."
Verunsichert kratzte er sich am Hinterkopf.
"Ganz richtig", stimmte ich ihm zu.
Er klopfte mir auf die Schulter. Vielleicht war er doch nicht so arrogant, wie ich ihn zunächst eingeschätzt hatte.
Als ich im Zimmer ankam, checkte ich zunächst mein Handy. Ich erwartete eine Antwort von Collin, doch da war keine. Er hatte meine Nachricht zwar gelesen - und zwar schon vor Stunden - doch nicht zurückgeschrieben. Gestern hatte er sich auch schon Stunden Zeit gelassen, nachdem er es gelesen hatte. Das war ungewöhnlich für ihn. Eigentlich hätte auch schon mein Brief angekommen sein müssen, doch auch darauf hatte ich noch keine Reaktion erhalten und das, obwohl ich dort all meinen Kummer geklagt hatte. Und einmal mehr hatte ich das Gefühl, dass man mich schneller vergaß als ich verkraften konnte.
Immerhin mein Vater hatte mir eine kurze Nachricht hinterlassen:
Hey Schatz, ich weiß, dass Weihnachten noch nicht vor der Tür steht, aber Mama und ich haben uns schon mal Gedanken macht. Ich kann leider nicht weg aus Vancouver und Mama nicht aus New York. Wir müssen daher leider getrennt feiern. Wir haben uns entschieden, dass Mona zu Mama nach New York geht und du zu mir nach Vancouver kommst.
Entsetzt starrte ich auf den Display. Die Vorstellung Weihnachten nicht gemeinsam als Familie zu verbringen, zerbrach mir das das Herz. Meine Eltern waren schon lange getrennt, doch Weihnachten hatten wir immer gemeinsam gefeiert. Ich würde nicht einmal meine Schwester sehen.
Tränen flossen über meine Wange, als die Zimmertür aufging. Lou sah mich geschockt an. Das machte es nur noch schlimmer.
"Was ist passiert? Ist jemand gestorben?", erkundigte er sich sofort besorgt.
Tapfer biss ich mir auf die Lippe. Werde hier nicht zur Heulsuse!
"Nein, nur die ganz normalen Familiendramen. Ich bin zur Zeit einfach nur ein bisschen emotional."
Mitleidig lag sein Blick auf mir.
"Weißt du was: Dann habe ich die perfekte Ablenkung für dich. Ich bin nämlich hergekommen, um dich mit ins Turmzimmer zu nehmen. Die Mannschaft trifft sich dort noch und du siehst aus, als könntest du ein bisschen Abwechslung gebrauchen. Also spring schnell unter die Dusche und komm mit!"
"Ich weiß nicht."
"Aber ich! Es ist Freitagabend und da solltest du nicht in unserem Zimmer hocken und weinen! Los, mach dich fertig. Ich dulde keine Widerrede!"
Lustlos sah ich Lou an. Ich musste aber auch feststellen, wie gut ihm die Akzeptanz der Mannschaft tat. Er wirkte aufgeweckter und irgendwie erleichtert. Als wäre eine riesige Last von ihm abgefallen.
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