Kapitel 12 - Das erste Treffen

Es war kein Tee geworden, sondern eine heiße Schokolade.

Ich hatte mir mittlerweile den Dreck aus meiner Wunde gespült und dank der äußerst netten Besitzerin dieses Cafés einen frischen Verband bekommen. Zugegebenermaßen diente der Verband eher der Dramatisierung der Wunde, denn tief war sienicht und meine Mama hatte schon als Kind immer zu mir gesagt: "Das Beste, was du tun kannst, ist Luft an die Wunde zu lassen."

Doch für den Moment fühlte es sich gut an so umsorgt zu werden. Denn genau das brauchte ich im Augenblick. Zuwendung.

George - so hieß mein Seelentröster - hatte mir nicht nur eine heiße Schokolade spendiert, sondern auch noch eine Zimtschnecke, als er gehört hatte, dass ich noch nicht einmal gefrühstückt hatte.

"Geht es dir besser?", erkundigte er sich, als er an seinem Tee nippte.

"Ja, ihr habt die Hand ja sehr verpackt", antwortete ich und hob die bandagierte Hand kurz hoch.

"Das meine ich nicht. Du wirkest vorhin sehr durch den Wind und du sahst so todtraurig aus. Deshalb auch die Frage, ob es dir besser geht und nicht deiner Hand."

Überrascht sah ich ihn an. Er meinte es wirklich ernst. Die Junge wollte wirklich wissen, wie es mir ging und von dieser Empathie war ich nahezu überwältigt.

"Ich meine, ich sitze in einem Café, in dem es nach frischem Apfelkuchen duftet, habe eine heiße Schokolade vor und eine sehr nette Gesellschaft. Natürlich geht es mir gut."

Ich lächelte ihn tapfer an. Manche hätten das fast schon als Flirten interpretiert.

"Du weichst meiner Frage aber schon ein wenig aus. Aber ist ja auch verständlich. Ich bin schließlich ein Wildfremder."

Er grinste und nahm einen Schluck Tee. Wenn ich ihn mir so ansah, wirkte er irgendwie frech. Vielleicht waren Es die Sommersprossen, die Grübchen oder aber diese wilden Locken.

"Kommst du hier aus dem Dorf?", wechselte ich das Thema, denn tatsächlich wollte ich nicht über meine Familien oder mein Herzschmerz reden.

"Ja, ich bin hier aufgewachsen."

"Magst du es?"

Er sah kurz nachdenklich aus dem Fenster.

"Ich denke schon. Natürlich ist es keine Großstadt, wo man jede Woche in ein Museum und auf ein Konzert gehen kann, aber ich mag unsere Dorfgemeinschaft. Wir feiern viele Feste und irgendetwas ist immer los."
"Und das Internat? Das ist nicht so beliebt, oder?"
Ich konnte es mir nur ausmalen, wie verhasst es sein musste, wenn hunderte verwöhnte Kinder aus reichen Elternhäusern in einem Schloss direkt vor den Stadttoren wohnten. Mal ganz davon abgesehen, dass im Internat sogar mehr Menschen lebten als im Dorf.

George wich etwas beschämt meinen Blick aus.
"Sonderlich beliebt sind sie nicht, aber keine Sorge, ich bin kein Mensch, der sich von Vorurteilen leiten lässt. Es ist nur so, dass in der Vergangenheit schon der ein oder andere Schüler im Suff echt Mist gebaut hat. Das hat nicht gerade zu einem guten Verhältnis zwischen den Dorfbewohnern und den Internatsschülern geführt."
Ich beobachtete, wie sein Blick ernster wurde. Er schien an einen ganz bestimmten Vorfall zu denken.

"Was ist passiert?", fragte ich nun auch deutlich ernster.

"Es ist schon zehn Jahre her. Ich war selbst noch klein. Sechs Internatsschüler waren vollkommen betrunken und sind irgendwie in den Besitz von dem Transporter gelangt, der dem Internat gehört. Einer von denen hat sich ans Steuer gesetzt und ist durchs Dorf gefahren. Viel zu schnell, wie du dir vorstellen kannst."

"Und viel zu betrunken", ergänzte ich.
"Genau und das zur Mittagszeit! Es war der letzte Schultag und sie wollten es wohl richtig krachen lassen... Gekracht hat es auch. Denn sie haben ein kleines Mädchen erwischt, das gerade auf dem Weg von der Schule war. Sie ging in die zweite Klasse."

Ich hielt mir meine Hände vor meinen Mund, damit er mein pures Entsetzen nur in abgeschwächter Form sehen konnte.

"Hat sie überlebt?"

Er schüttelte den Kopf.

"Nein. Sie war sofort tot, was vermutlich noch das beste an diesem Vorfall ist. Sie musste nicht leiden. Die sechs Insassen haben alle überlebt. Sie waren nicht einmal schwer verletzt. Und weißt du, was das Schlimmste war?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Was?"

"Das waren alles Kinder von reichen Eltern, die sich sehr gute Anwälte leisten konnten. Keiner von denen musste eine echte Strafe abbüßen. Sie konnten ihr Leben einfach so weiterleben."

Ich sah die Verbitterung in seinem Blick und war mir sicher, dass er das Mädchen gekannt haben musste. Zwar war er damals auch noch ein Kind gewesen, vermutlich sogar jünger als sie, doch das hier war ein kleines Dorf, in dem jeder jeden kannte.

"Das tut mir leid."

Ein schwaches Lächeln huschte überraschenderweise wieder über sein Gesicht.
"Ist ja nicht deine Schuld." Er nahm einen weiteren Schluck von seinem schwarzen Tee, den er ohne Zucker und Milch trank. "Dieser Tag war in so vielen Facetten tragisch. Nicht nur für das Mädchen und deren Familien. Sondern auch für die Beziehung zwischen den Dorfbewohnern und den Internatsschülern. Viele Bewohner hassen die Internatsschüler abgrundtief seit diesem Tag. Und nicht nur die Bewohner von Lantry. Alle umliegenden Dörfer haben das mitbekommen. Es war damals ein riesiger Skandal. Sogar die "Sun" hat damals auf dem Titelblatt davon berichtet. Seitdem hat sie Situation nie wieder richtig beruhigt."

"Aber du bist doch nett zu mir", merkte ich an. "Du hasst mich nicht."
"Das denkst du vielleicht nur. Was meinst du warum ich dich umgerannt habe?", scherzte er. "Aber im Ernst: So wurde ich nicht erzogen. Meine Eltern haben mir immer beigebracht, Menschen nicht mit Vorurteilen zu begegnen und das habe ich versucht."

Ich nippte an meiner heißen Schokolade, die endlich eine trinkbare Temperatur angenommen hatte. Ich konnte den Karamellsirup deutlich herausschmecken und es war großartig.

"Das ehrt dich sehr."
Ich riss mir einen Stück von meiner Zimtschecke ab und hielt ihm den Teller hin, mit der Aufforderung das gleiche zu tun.

"Das ist doch deine", protestierte er halbherzig, denn ich konnte sehen, dass er durchaus bereit war, auch ein Stück anzunehmen.

"Na los, keine falsche Bescheidenheit! Du hast sie doch sogar bezahlt!"

Nach kurzem Zögern nahm er sich tatsächlich auch ein Stück. Die Zimtschnecke war weich und sogar noch warm.

"Sag mal, was hast du eigentlich schon so früh hier gemacht?", fragte er und riss sich noch ein zweites Stück von der Zimtschnecke ab. Man konnte es ihm nicht verübeln, denn dieses Gebäck hatte definitiv Suchtgefahr.

"Ich konnte nicht schlafen und habe mir ein wenig das Dorf angesehen. Und eigentlich wollte ich diesen Brief bei der Post abgeben." Griff in meine Hosentaschen, holte den dreckigen Umschlag heraus und zeigte ihn.

"Du schreibst noch Briefe?", fragte er amüsiert nach. "Ziemlich old fashioned. Dann kannst du alternativ sicherlich auch die Brieftaube nehmen", zog mich scherzhaft auf.
"Was?", gab ich mich entrüstet. "Tauben? Ich dachte, ihr setzt dafür Eulen ein. Hast du etwa keine Zuhause?"

Er lachte und es war ein wirklich schönes Lachen. Seine Zähne waren so auffällig gerade, sodass ich mir sicher war, dass er mal eine Zahnspange getragen hatte. Wenn er lachte, war es nicht nur der Mund, sondern das gesamte Gesicht, das mitlachte.

Plötzlich klirrte es laut hinter mir und Georges Lachen verschwand. Er erschrak und zuckte kurz zusammen.

Und in diesem Moment fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Es war der erschrockene Gesichtsausdruck, der mein Gedächtnis aktivierte.

George war der Junge, der mich nackt auf dem Zehnmeterturm gesehen hatte. Kein Zweifel.

Ob er auch wusste, wer ich war?

"Warte ich helfe Ihnen!", hörte ich ihn sagen.

Er sprang auf und half Scherben vom Boden aufzusammeln. Erst jetzt blickte ich mich um und sah, dass offenbar ein Kind ein Glas mit Kirschsaft vom Tisch geworfen hatte. Wie selbstverständlich las George Scherbe für Scherbe auf, während mir die Schamesröte ins Gesicht stieg.

Er hatte mich nackt gesehen.

Was hatte er überhaupt um diese Uhrzeit dort gemacht? In dieser Nacht war so viel passiert, sodass ich ihn fast vergessen hatte.

Die Kellnerin kam dazu und übernahm die weitere Säuberungsaktion. George griff nach einer Serviette, um sich den Kirschsaft von den Fingern zu wischen. Dann lächelte er mich wieder an.

Ich bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf: Er hatte mich nackt gesehen. Auf einem Zehn-Meter-Brett. Mit blutigen Knien.

Tat er nur aus Höflichkeit so, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen oder erinnerte er sich wirklich nicht mehr daran? Oder hatte er vielleicht sogar selbst etwas zu verheimlichen? Was hatte er in dieser Nacht dort gemacht?  

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