Kapitel 1 - Der erste Kuss
Es war die letzte Woche der Ferien. Leider war es nicht der Sommer gewesen, den Semra, Collin und ich uns vorgestellt hatten. Das Wetter hatte weder zum Freibad eingeladen, noch hatte man bei dieser durchgehend grauen Wolkendecke und den überfallartigen Regenschauern Lust auf ein Eis gehabt. Statt über den kleinen Strand am Badesee zu laufen, hatten wir Pfützen ausweichen müssen und im Kiosk Schutz gesucht, um nicht vom Blitz getroffen zu werden.
Semra, Collin und ich waren Kindergartenfreunde. Unsere Eltern hatten sich im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt. Zwischen den Atemübungen und der Stärkung der Beckenmuskulatur war zwischen den sechs Erwachsenen eine tiefe Freundschaft entstanden. Noch heute saßen sie oft bei uns auf der Dachterrasse, stießen mit Wein an, den man nicht in einem Supermarkt kaufen konnte, ließ Jazzmusik im Hintergrund laufen und lachte über politische Witze. Und das, obwohl zwei der drei Ehen bereits gescheitert waren. Diese tiefe Freundschaft hatte sich auch auf ihre Kinder übertragen. Wir drei Kinder waren unzertrennlich. Schließlich hatten wir uns als Babys schon gegenseitig die Schnuller geklaut. Im Kindergarten hatten sie uns immer nur das Trio genannt, denn man nie nur zwei oder gar einen von uns. In der Grundschule steckte man uns daher in verschiedene Klassen, denn unseren Eltern war es wichtig gewesen, dass wir auch andere Kinder kennenlernten. Doch es half nichts. Wir waren wir siamesische Drillinge, die man nicht trennen konnte. In den Pausen trafen wir uns stets an den Tischtennisplatten und haben dort gelacht, gespielt und getuschelt. Andere Kinder hatten bei uns nie eine Chance. Aus diesem Grund schickten unsere Eltern uns schließlich nach der Grundschule auf drei verschiedene Gymnasien. Tatsächlich ging ihre Strategie auf. Wir schlossen neue Freundschaften, doch eine so tiefe Verbundenheit wie ich zu Collin und Semra verspürte, hatte ich nie wieder erfahren. Noch immer waren sie meine besten Freunde und das mit sehr großem Abstand.
Und so hatten wir diesen verregneten Sommer zusammen in Cafés, Kinos und Wohnzimmern verbracht. Leider hatte ich dadurch auch zu viel Kuchen, Popcorn und Chips gegessen. Das war auch der Grund, warum ich mich heute mit Semra und Collin zum Kanufahren getroffen hatte. Nach langer Abwesenheit hatte sich die Sonne endlich mal wieder aus ihrer Schlummerhöhle gewagt. Es war Zeit wieder aktiv zu werden, schließlich fing nächsten Monat auch wieder mein Fußballtraining und ich wollte mich nicht blamieren, indem ich langsamer als unsere E-Jugend war und die Beweglichkeit eines Faultiers hatte. Letztendlich war jedoch nur Collin aufgetaucht. Semra lag mit Bauchkrämpfen zuhause.
Wir hatten unsere Kanus an Land gezogen und machten eine kleine Pause unter Kieferbäumen, durch deren Zweige einige Sonnenstrahlen auf uns hinabfielen. Das Wasser glitzerte wie eine Swarovski-Filiale und die grüne Wiese zeigte sich besonders lebendig. Bienen flogen vielbeschäftigt über die Halme, Ameisen suchten sich ihre Wege über die feuchte Erde und ab und an schaute einen Schmetterling vorbei.
"Ich habe schon fast vergessen, wie sich die Sonne anfühlt", sagte Collin und hielt seine Hand ins Licht.
Seine blonden Haare waren wild wie immer. SIe waren dafür gemacht durchzuwuscheln, doch ich wusste zu gut, dass er es hasste.
"Ich auch. Vermutlich ist es auch schon wieder das letzte Mal für dieses Jahr. Wir haben September und für morgen gibt es eine Gewitterwarnung."
Er seufzte, zupfte sich einen Grashalm aus der Erde und drehte es verträumt zwischen seinen Fingern. Wir beiden lagen nebeneinander im Gras und starrte in den Himmel, wo ein paar Schäfchenwolken über uns hinwegzogen.
"Der Sommer war trotzdem toll", ließ er mich wissen und drehte seinen Kopf in meine Richtung und sah mich mit einem Lächeln an.
Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie der Himmel. Und die Mohnblume hinter ihm den gleichen Rotton wie seine Lippen.
"Finde ich auch."
Er wandte den Blick von mir nicht ab.
"Was ist?", fragte ich ein wenig irritiert. "Warum schaust du so?"
Seine Mundwinkel hoben sich noch ein Stückchen weiter nach oben. Dann hob er seine Hand und führte sie in Richtung meines Gesichtes. Seine Finger berührte meine Wange. Es war nur für einen Bruchteil einer Sekunde. Dann zog er sie wieder weg.
"Ein Marienchenkäfer", sagte er und er zeigte mir den kleinen Kerl.
Flink krabbelte er über Collins lange, elegante Finger, die sonst über Klaviertasten huschten und die schönsten Klänge entstehen ließen.
"Lass ihn fliegen!", forderte ich ihn auf.
Er streckte den Finger in den Himmel. Der Käfer krabbelte an die Spitze, breitete seine Flügel aus und flog ab.
"Ab in die Freiheit mit dir", rief er unseren kleinen Freund noch hinter und winkte ihm zum Abschied.
Dann sah Collin wieder zu mir.
"Schade, dass Semra nicht da ist", sagte ich und sah wieder zum Himmel. Ich spürte jedoch, dass Collin seinen Blick von mir nicht abwandte.
Die Wolken zogen in den verschiedensten Formen über uns hinweg. Ich war schon immer für meine bunte Fantasie bekannt und so waren es für mich nicht nur Schäfchen. Stattdessen sah ich auch Katzen, Dinos und Dackel mit Flügeln und einem Hasenschwänzchen.
"Eigentlich kam es mir ganz recht", ertönte die tiefe Stimme von Collin.
Er war erst vor Kurzem in den Stimmbruch gekommen und manchmal erschrak ich mich noch immer über diese brummige Männerstimme.
"Wieso das denn?"
Ich sah zu ihm und er schmunzelte.
"Vielleicht mag ich es ja auch mal Zeit nur mit dir zu verbringen."
Schlagartig hatte ich mich aufgesetzt und starrte ihn an. Seine Augen waren nun aufgeweckt.
"Was meinst du damit?"
Ich stellte die Frage nur, um es ausgesprochen zu hören, denn ich wusste ganz genau, was er mit damit sagen wollte. Es war mir erst in den letzten Wochen aufgefallen. Er hatte öfter als sonst meinen Körperkontakt gesucht. Immer wieder hatte er mich liebevoll angestupst und seine Hand beiläufig über meinen Arm fahren lassen. Doch ich hatte mir nie etwas dabei gedacht. Bis jetzt. Denn nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Collin antwortet nicht. Zumindest nicht verbal. Stattdessen setzte er sich auf, strich mir meine rote Haarsträhne aus dem Gesicht, lehnte sich nach vorne und küsste mich. Mein Herz pochte so schnell wie das einer Maus, die gejagt wurde und so kräftig wie das eines Elefanten.
All die Jahre hatte ich in Collin eine Art Bruder gesehen. Nie war es mir in den Sinn gekommen, dass jemals zwischen uns so etwas wie Romantik aufkommen könnte. Doch nun war sie da. Von einer Sekunde auf die andere.
Die Schmetterlinge waren nicht mehr nur um uns herum, sondern auch in mir drin. Und was das alles noch viel besonderer machte: Das war mein allererster Kuss.
Ich war 15 Jahre alt und hatte mich schon längst überfällig dafür gefühlt. Doch was sollte man machen, wenn man dem perfekten Jungen dafür noch nicht begegnet war? Offensichtlich war dieser jedoch die ganze Zeit da gewesen. Ich hatte ihn nur nicht gesehen. Von Collin geküsst zu werden, fühlte sich richtig an. Ihm würde ich mein Leben anvertrauen und deshalb war er auch der Richtige, um meinen Lippen diese Magie zu verleihen.
Er löste sich von mir und ich sah ihm an, dass er voller Selbstbewusstsein war. Collin wusste ganz genau, dass er mit diesem Kuss den richtigen Nerv bei mir getroffen hatte. Und zwar einen Nerv aus Zuckerwatte und Rosenduft.
"Wow", flüsterte ich.
"Ich wollte das schon den ganzen Sommer über machen, aber ich wusste nicht wie. Wir waren nie allein."
Plötzlich sah ich ihn mit anderen Augen. In seinen vollen Lippen sah ich plötzlich weitere Küsse, die ich bekommen könnte. Seine muskulösen Arme waren perfekt, um mich in eine innige Umarmung zu schließen.
"Ich hatte keine Ahnung", gestand und schüttelte ungläubig den Kopf. WIe lange fühlte er schon so?
"Tut mir leid, falls ich dich überrumpelt habe."
"Nein", widersprach ich ihm sofort. "Also doch. Ja, überrumpelt bin ich schon... Aber... aber positiv. So als hätte ich im Lotto gewonnen."
Ich sah, wie er ausatmete und es wirkte so, als wäre es ein Zeichen der Erleichterung. Vielleicht war doch ein bisschen angespannt gewesen.
Er nahm meine Hand und streichelte mit seinen weichen Finger über meinen Handrücken. Sofort begann mein Körper zu kribbeln, als wäre ich ein Ameisenhaufen. Noch nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Fühlte es sich etwa so an, wenn man verliebt war? War das dieses Gefühl, von dem alle immer redeten?
Es war so allumfassend, dass ich kaum klar denken konnte. Ich wusste nur eins: Ich wollte mehr. Also ergriff ich nun die Initiative und küsste ihn. Dieses Mal war es keiner dieser Grundschulküsse, bei dem man nur die Lippen auflegte. Dieser Kuss war ein Teeniekuss, in dem auch die Zunge zum Einsatz kam. Ich wusste nicht, was ich tat, doch Collin hatte mehr Erfahrung und führte mich. Er legte seine Hände auf meine Hüfte und auf einmal ahnte ich, was sexuelle Anziehung war. Auch das war neu für mich.
Ich schob ihn leicht von mir weg. Eine Wespe surrte um mein Ohr und ich versuchte sie mit einer flinken Handbewegung von mir zu verscheuchen.
Plötzlich fragte ich mich, was Semra dazu sagen würde. Ob sie ein Problem damit hatte? Konnte das unsere Dreierfreundschaft aufs Spiel setzen? Wie hätte ich mich gefühlt, wenn Semra und Collin plötzlich knutschen würden? Hätte ich mich ausgeschlossen gefühlt?
"Semra", kam es über meine Lippen.
Collin schenkt mir sein schönstes Lächeln. Er gehörte zu den gesegneten Personen, die ganz ohne Drahtgestell gerade Zähne vorweisen konnten.
"Keine Sorge. Sie weiß es."
"Sie weiß es?", sprudelte es aus mir heraus.
"Ja, und sie hat auch keine Bauchkrämpfe. Sie wollte mir die Chance geben mal mit dir allein zu sein."
"Ihr habt das geplant?"
Er nickte stolz. Wow. Ihm schien wirklich etwas an mir zu liegen.
"Seit wann fühlst du so für mich?"
Er zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht genau. Irgendwann habe ich einfach gemerkt, dass ich dich mit anderen Augen sehe, als Semra. Es war nicht von einem auf den anderen Tag. Das kam schleichend." Er streichelte mir über die Wange. Es war ungewohnt, dass er so vertraut und selbstverständlich mit meinem Körper umging, doch es gefiel mir. "Du bist einfach anders."
Seine Worte lösten eine angenehme Wärme in mir aus.
Ich rückte näher an ihn heran und er legte seinen Arm um mich herum.
"Heißt das, dass du mein Freund sein willst?", fragte ich, als wäre ich ein Kindergartenkind. Doch wie machte man das sonst? Ich hatte keinerlei Erfahrung damit, doch in Collins Anwesenheit störte mich nichts. Vor ihm war mir nichts peinlich oder unangenehm, denn er kannte mich vermutlich besser als mich selbst.
"Wenn du das denn auch willst?"
Es war seltsam, denn noch vor ein paar Minuten hatte ich über dieses Szenario nie nachgedacht, doch auf einmal schien es für mich gar keine andere Option mehr zu geben.
"Damit bist du jetzt offiziell mein erster Freund", sagte ich schmunzelnd.
Mir war bewusst, dass das vielleicht ein bisschen überhastet war. Schließlich hatten wir uns gerade das erste Mal geküsst. Auf der anderen Seite, kannten wir uns vermutlich besser als ein altes Ehepaar. Wir hatten schon im gleichen Bett geschlafen, waren als Kinder zusammen in der Badewanne gewesen und hatten uns in langen Nächten unsere dunkelsten Gedanken erzählt. Wir brauchten keine Kennenlernphase.
"Es ist mir eine Ehre."
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