Lärchenwinter

Wenn man in einem Bahnhof sitzt, und dieses Schicksal würde gewiss jedem von uns einmal ereilen, dann ist das Erste was man erblickt, dass auf seinen Gleisen Züge halten. Und insofern jener Bahnhof kein kleiner ist, das ist nun die Voraussetzung, so kommt doch jeder einzelne Zug an diesem Bahnhof zum Stehen. Die Räder würden halten, sie gar quietschen und manch einem in den Ohren weh tun, die ersten begännen zu schimpfen und der Rest würde schweigen. Das Erscheinen so manch eines Schicksals in diesem Bahnhof führte zu Komplikationen, worauf die meisten nicht vorbereitet waren — wie auch, man bereitete sich nicht auf Schlachten vor, wir machen das heutzutage nicht. Zumindest nicht so, dass wir unser Vorgehen als »Schlacht« verunglimpfen würden.

Das Zweite, was man bemerkt, ist, dass in diesen Zügen Menschen sind. Sie fahren weg, steigen in den Zug ein oder aus. Sie alle tragen Geschichten und Gedanken inne, die ich nur erraten kann. Die Menschen sind sehr unterschiedlich. Einige sind groß, andere wiederum sehr klein, sie haben braune Haare — oder gar keine, haben einen Koffer oder nur eine Tasche. Manchmal lässt sich das auch mit dem Grund vereinbaren, weshalb sie gehen — oder eben, wie lange sie fahren.

Aufgrund meines Lebens hatte ich schon immer einen großartigen Bezug zu den hiesigen Bahnhöfen meiner Lebenswelt. Ich stand oft auf ihren marmorierten Bahnhöfen und beobachtete die Passagiere, die durch den schwarzen Rauch in die große Bahnhofshalle kamen. Anderen sah ich zu, wie sie in den Waggons ihren Sitzplatz suchten, den Koffer verstauten und mit einem ohrenbetäubenden Zischen den Bahnhof gen Osten oder Westen, gen Süden oder Norden entschwanden. Sie verteilten sie sich in alle Richtungen, doch ich blieb im Bahnhof und las mein Buch, bevor auch ich eines Tages in einen der schwarzen Dampfkessel einsteigen würde, stolz auf mein Ticket wäre und den Ort verlassen würde.

Bahnhöfe stehen für zweierlei Lebensereignisse: Auf der einen Seite kommt man zu dem zurück, was man liebt, wird von demselben erwartet — auf der anderen Seite kann man an Bahnhöfen jenen Dingen entfliehen, die man am liebsten aus seinem Leben wegzudenken versucht. Den Zug führt immer jemand anderes, eine Gestalt, die die Zugführer alle eint: man kennt sie nicht, und doch bestimmen sie darüber, ob der Zug den gewünschten Halt erreicht — oder nicht. Man hat keine Möglichkeit, auf den Zug einzuwirken, ihn zu lenken oder anders in diesen Zuge einzugreifen. Man ist dem Fahrer unterstellt, ja, dient ihm, ist sein Knechte und sein gleiches Opfer. Und doch bezahlen wir ihn, dass er zumindest uns den Anschein gibt, uns dahin zu fahren, wohin wir möchten.

Jeder würde einmal in diesem Bahnhof kommen, das war mir gewiss und ich wusste, dass jeder diesen Bahnhof auch einmal verlassen würde. Die einen wären länger hier, die anderen kürzer — die einen rühmten sich, die anderen verdeckten ihr Gesicht und wollten gar nicht so recht gesehen werden. Oh weh, wie erbärmlich es aussah! Denn — so schien es — dachten die Leute gar nicht daran, dass man sie ja dennoch erkennen konnte, egal wie sehr sie sich zierten und ziemten, alle Passagiere starrten dann auf die Gekrümmten, die sich ein Tuch über den Kopfe hielten, um nicht erkannt zu werden.

Im Raum dieser Erzählung steht nun der Gedanke, dass ich — und so wurde es mir freilich erzogen — immer alles erhielt, selbstverständlich mit dem entsprechenden Aufwand, wenn ich mich nur dafür anstrengte. Die Chancen und Türen waren mir in den meisten Fällen aller Dinge, vor allem in jenen, die einen so unscheinbar wichtigen Wert hatten, niemals verschlossen, nein, gerade durch jene Anstrengung öffneten sich wesentlich mehr Türen und Fenster.

Gehen wir nun von diesem Ursprungsgedanken aus, so war es für mich das Schlimmste von allem, etwas nicht zu erhalten — egal wie sehr ich mich doch bemühte und wie sehr ich mich veränderte, ja, wie sehr ich doch den Vorgaben der Leute entsprechen wollte —, wonach ich mich so sehr sehnte. Es war schlicht und ergreifend die Zuneigung besagter Personen, die mir vorenthalten wurde. Nicht der Gedanke daran, sie nicht zu erhalten zerfraß mich, sondern der unumstößliche Fakt, dass all meine Mühen vergebens waren.

Neben mir saß ein älter Mann, er trug einen Panamahut — ich fragte mich immer, warum er dies selbst im Winter tat — mit Anzug und einem weißen Bart, der jede meiner Bewegungen hier in diesem Bahnhof immer verfolgte. Dann sah er mich immer ganz traurig an und seufzte, so fragte ich ich: »Was sehen Sie?«, doch er seufzte nur wieder und gab mir keine Antwort. Ich war darin gewöhnt, dass man nicht immer eine Antwort auf meine Fragen hatte — so beließ ich also die Situation und ein Tag ähnelte dem anderen in dieser Bahnhofshalle.

Oftmals verfolgte mein Blick dann viele junge Pärchen, die am gegenüberliegendem Gleise ankamen. Es waren immer sehr viele, gerade zu den freien Zeiten häuften sich dann Gatte und Gattin, die wiedervereint sich am Bahnhof küssten. Der Mann erwartete seine Frau mit einem Blumenstrauß, eng umschlungen tauschten sie dann Zärtlichkeiten aus und verschwanden aus dem Bahnhof, in dem sie einfach durch die Unterführung auf die Straße gingen — gerade dort, wo ich immer hineintrat, wo ich einen Schritt vor den anderen setzte, um überhaupt in das Gebäude zu gelangen.

Ach je, wie gerne wäre ich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig gewesen, hätte auf jemanden gewartet — oder viel mehr noch: wäre erwartet worden! Wie schön wäre es, wenn man mir diese Blumen geben würde als Zeichen, dass man vor der Abholung doch an mich gedacht hätte! Da fuhr ich also im letzten Sommer, während die Temperaturen ja so fürchterlich heiß und unerträglich waren, durch die ganzen Bahnhöfe, kam zum stehen und nun das: ich kam zum stehen, aber keine stand, um meinen Halt zu begrüßen. Viel eher waren es die Wegweiser, die mich ins abgeschlossene Bahnhofsgebäude führten, die auf mich warteten. Sicherlich war es in ihrer Dienstausbildung so einstudiert worden, denjenigen ebenfalls respektvoll den Hut zu heben, bevor sie sie in das gemauerte Gebäude brachten.

Ich kam zu dieser Erkenntnis, als die Lärchen rund um das Bahnhofsgebäude vollkommen in weiß gekleidet waren, als sich der Winter auf die Erde nieder und alles etwas kälter werden lies. Dann hatte eben der Winter seine Pracht entfaltet, ich bekam die Krankheit, die für diese Zeit so typisch war und ließ mich nieder — eine andere Möglichkeit hatte ich selbstverständlich nicht!

Doch was war die größere Schmach? Zu warten auf jemanden, der nie kommt — oder aus dem Zug zu steigen und niemanden zu sehen, der auf einen gewartet hatte? Eine schier unlösbare Aufgabe, der man sich vielleicht nicht zu stellen vermag und dennoch sehr einfach zu lösen ist: der, der sich vorbereitet und wartet, am Bahnhof und nicht das Gesicht erblickt, was er jahrelang suchte, der nimmt sich den nächstmöglichen, der aus dem Zuge steigt und überrascht ihn dann — ja, so hat man im besten Fall zwei glückliche Herzen, im schlechtesten Falle einen nächsten Versuch — aber niemand wäre gebrochen! Und ja, niemand würde auch wissen, dass man vielleicht auf wen anders gewartet hatte, die Auswahl erübrigte sich jeder Erklärung. Ganz anders steht es dann um denjenigen, der aus dem Zuge kommt, voller Hoffnung die Klinke nach unten drückt und bemerkt, wie dann doch die Versprechungen sich auflösten und man alleine zwischen vielen ist.

Es kommt nun eben so, wie es kommen soll. Dem bin ich überzeugt und demnach friste ich meine Zeit in diesem Bahnhof. Ich bin noch ein sehr junges Mädchen, doch mein Alter gleiche ich mit Erfahrung und Stolz aus. Ich habe mich entschieden und ich bin glücklich darüber zu sagen, dass ich mir meiner wichtiger bin als das Urteil der anderen, ja, aber darüber sollte man nicht zu laut reden. Sind es nicht viele, die diese Gedanken nicht verstehen? Die sich dann doch ihren anderen hingeben — freilich ist es ihnen selbst überlassen und ich vermag gar nicht zu urteilen! — doch urteilen sie dann über mich?

Es schneite diesen Winter sehr sehr oft und die Flocken tanzten hinunter, sie wurden von den Scheinwerfern der glühenden Eisenbahnen geblendet, gar zerschmolzen, und so kamen sie in dicken Wassertropfen nach unten. Egal wie schön sie waren, wie schön sie doch tanzten, sie waren alle nur Wasser — schlimmer noch, gefrorenes Wasser. Man sah ihnen ihre so schnelle Verflüchtigung niemals an, ja, sie spielten uns doch alle gemeinsam etwas vor. In ihren schönen Formen wäre man drauf und dran gewesen nach draußen zu gehen, sie zu vereinnahmen und anzusehen, sich mit ihnen zu identifizieren doch dann? Dann hätte man ja eh nur die wässrigen Tropfen auf den Händen gesehen, die versiegt wären, weil man ihnen zu nahe kam und die Wärme, die man so gerne teilte, genau das falsche Mittel war, um ihnen zu begegnen. Sie wählen sich ihr Schicksal und ich bin immer noch so böse auf die alle, die dann vom Himmel kommen, weil ich mich ihnen nicht nähern kann ohne sie zu zerstören. Sie hatten sicherlich auch mal an etwas anderes gedacht, als sie kreiert wurden, vielleicht hatten sie noch Träume — aber eigentlich war ihr Schicksal doch besiegelt! Sie waren wässrig und dazu verdammt zu fallen, von oben herab, auf uns andere, die so standhaft waren und anderen trotzen konnten. Sie fielen auf den harten Boden, der kein entrinnen verdeutlichte, der noch viel härter als der Aufprall war, dann trockneten sie und sanken unter die Platten aus Beton. Kleine Wassertropfen, aber eigentlich zu schön, jede einzelne, um so zu sterben. Welch Tragik! Doch sie können sich glücklich schätzen: sie haben nicht einmal die Möglichkeit, ihrem Schicksal zu entgehen, sie müssen nicht darüber nachdenken, was richtig oder falsch ist! Sie wissen was passiert und sie können nichts ändern!

Im Bahnhof wartet man oft eine ganze Zeit lang. Manche Züge haben Verspätung und andere kommen sehr pünktlich. Manchmal sehe ich welche, die aus diesen Zügen steigen und von so vielen Leuten umgeben sind. Das macht die ganze Vorstellung und die ganze Gespannt sehr zu nichte, gar abstrus wirkt es dann, weil ihre Koffer gehalten werden, selbst der Schal, der den feinen Hals umgibt, der wird ihnen getragen, damit nichts auf ihren Schultern liegt! Im nächsten Moment sind sie dann aber auch wieder entschwunden, weil ihr Zug, auf den sie dann die wenigen Minuten gewartet hatten, selbstverständlich sehr pünktlich ist. Manchmal kommen die Gestalten dann wieder, ohne Begleitung, manchmal werden sie aber auch nie wieder gesehen. Besonders merkwürdig ist es, wenn dann auch noch geklatscht wird, wenn jene Personen den Zug besteigen. Dann klatschen sie, weil die Person fünf Minuten auf dem Bahnhof war und mit allen Mitteln, mit ihren Geschenken und den Dingen, die sie in der Zeit erhalten hatten oder worauf sie sich unmittelbar freuen konnten, die Zeit überstanden hatte. Ich rümpfte dann meine Nase, setzte meinen Hut zurecht und richtete meine weiße Bluse.

Warten kann sehr anstrengend sein und man übt sich dadurch sicherlich in sehr viel Geduld. Aber in dieser Zeit hat man auch sehr viele Möglichkeiten, sie eröffnen sich einem meistens sehr spät — man erkennt sie eine ganze Zeit lang nicht. Oftmals ist es lediglich die Frage des »Wiesos« und »Warums«. Und dann rätselt man und man denkt, ja, man meint zu wissen — oh je, man hält sich sogar für einen, der in die Zukunft sehen könnte. Jeglicher Mann und jeglicher Frau auf diesem Bahnhof würde meinen können, Houdini Konkurrenz zu machen. Wir alle wären die bestmögliche Wahl für einen Zirkus, eine Attraktion, weil wir so viel über die Zukunft denken würden und absolute Feststellungen trafen. Aber in Wahrheit war es ja ganz anders, das zu erfahren war aber Aufgabe der Passagiere, die in den Zug stiegen. Wir, die auf dem Bahnhof verharrten, wir übersahen, dass wir ja schier Unrecht hatten — vor allem stets! — wann der Zug käme, zu früh oder zu spät, darin hatten wir nie Glück und es bedarf keiner weiteren Erklärung, weshalb unsere Prognosen für das eine und das andere — wenn sie dann doch mal richtig waren — dann doch nur Zufälle waren, oder eben falsch. Aber so vieles übersieht man ja, wenn man viel liest, viel denkt, oder einfach atmet und sitzt.

Ich wurde aufgehalten, das ärgerte mich, denn das wollte ich ja eigentlich nicht. Ich wollte mit meinem Zug durch die Lande reisen, durch Bahnhöfe ziehen und all jenes erreichen, wovon ich träumte. Doch nun war ich hier gestrandet, wartete auf den nächsten Zug, der mich mitnahm und hoffte auf spannende Gespräche, eine Königin, die am Horizont erschien und mir den rechten Weg wies.

Abschließend muss man also sagen, dass man auf Wunder wartet. Der eine mehr, der andere weniger. Ist es nicht die Kunst darin, zu erkennen, dass es überhaupt Wunder gibt — auch wenn man selbst nur in einem schnöden Bahnhofsgebäude sitzt und auf seinen nächsten Zug wartet? Ein Wunder ist doch mehr als das Licht im Lärchenwinter, oder gerade jenes, ein Wunder ist doch sicherlich viel mehr wert, als man es sich vorstellen mag. Wir leben und lieben in entzauberten Zeiten und so sollten wir uns doch alle anstrengen diesen Prozess zu umgehen, entzaubern wir, so entlieben wir und wir verstehen gar nicht, wir verstünden erst viel zu spät, was wir dann nur angerichtet haben. Eigentlich sollte man nur erkennen glücklich zu sein und ja, vielleicht war es genau das, worauf die meisten hier in diesem Bahnhof warteten. Der Zug, der sie nach Hause brachte, oder dahin, wo sie hin wollten, aber wer weiß das schon. Ich sitze nur und lese in einem kleinen Buch, das mir die Zeit geschenkt hat. Ich sitze, warte und neben mir ist ein älterer Mann, der seufzt. Einige Leute steigen aus dem Zug aus, richten den Hut tief ins Gesicht, auf der anderen Seite küssen sie sich und alles ist so, wie es eigentlich schon immer war. Ein ganz normaler Alltag in einem Bahnhof mit Menschen, ein Lärchenwinter, der auf den Pappelsommer folgte.

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