Der Kühlraum (26)
Emily war allein.
Irgendwann war der Pferdeanhänger angehalten und mehrere bewaffnete Lakaien des Goldenen Palasts waren hinein gestürmt.
Die Lady hatte angegriffen.
Sofort.
Sie hatte keine Sekunde gezögert, hatte nicht versucht zu reden, nein. Das allein hatte gereicht, um der Polizistin erneut zu zeigen, dass Lucy nicht einfach aufhören konnte.
Bevor Emily auch nur versuchen konnte etwas über die Pläne ihrer Entführer herauszufinden, hatte sich Laeta de Dolores mit einem Kampfschrei auf die bewaffneten Söldner geworfen.
Tatsächlich hatte sie es geschafft zwei ihrer vier Gegner zu überwältigen, als sich Lakaie Nummer 3 auf sie warf und ihr einen Taser in den Nacken rammte. Die Lady heulte auf und brach zusammen.
Die zwei übrigen Söldner drehten sich zu Emily um, die Waffen im Anschlag.
Die Hauptkommissarin hob die Hände an den Kopf, als Zeichen, dass sie sich nicht aufführen würde, wie ihre Mitgefangene.
"Keine Sorge, ich kooperiere. Ich wehre mich nicht.", erklärte sie, möglichst ruhig und ohne bedrohlich zu wirken.
"Mitkommen.", blaffte die übrige Söldnerin, während der andere die Lady über seine Schultern warf, wie einen Sack Kartoffeln.
Dann stülbte sie Emily einen Stoffbeutel über den Kopf und zog sie am Arm mit.
Emily merkte sich den Weg. Jede Kurve, jede Treppe, jede Türschwelle, über die sie stolperte, jeden kühlen Luftzug und jeden langen, geraden Gang, setzte sie in ihrem Kopf zu einer Karte zusammen. Sie würde fliehen. Sie musste sich nur den Weg merken.
Irgendwann blieben sie stehen und der Lakai, der sie nicht festhielt, öffnete stöhnend etwas, das ach einer schweren, schlecht geölten Türe klang. Dann stieß die Frau Emily hindurch.
Der Boden, auf dem die Hauptkommissarin aufkam war kalt und glatt. Saubere Fliesen erstreckten sich unter ihren Fingern. Es gab nicht einmal Staub.
Mit einem lauten Knallen fiel die Tür ins Schloss. Emily blieb liegen und lauschte. Erst, als sie sich zu hundert Prozent sie war, allein zu sein, setzt sie sich auf und befreite ihren Kopf.
Der Raum, in dem sie sich befand, war dunkel. Nicht einmal unter der Türe schien Licht hinein.
Frustriert zog Emily Luft durch die Zähne.
"Hast du Licht, Lucy? Ein Feuerzeug, vielleicht?", fragte die Polizistin vorsichtig.
Sie erhielt keine Antwort.
Noch immer war ihr Atem der einzige, den sie hörte.
"Lucy?", zischte Emily nervös, "Komm schon, Brunner, jetzt antworten Sie doch!"
Keine Antwort.
Keine Regung in der Dunkelheit, nicht einmal ein rauschender Luftzug. Die Lady war nicht hier.
Vorsichtige stand Emily auf.
Das sollte ihr nur recht sein. War die Lady nicht anwesend, hieß das nur, dass sich eine Bedrohung weniger im Raum befand.
Das war eher ein Vorteil.
Sie beschloss nun also zuerst ihr Equipment durchzugehen.
Das Ergebnis war erfreulich:
Man hatte ihr lediglich ihren Waffengürtel abgenommen, abgesehen davon, hatte man ihr ihre Habseligkeiten gelassen.
Sorgsam tastete sie die Taschen ihrer Uniform nach einer Lichtquelle ab.
Die Hauptkommissarin hoffte auf eine Taschenlampe, hätte sich aber auch mit einem Feuerzeug oder Streichhölzern zufrieden gegeben.
Emily war sich sicher, dass sie so etwas bei sich trug.
Sie hatte Recht. In ihrer linken Hosentasche fand sie eine kleine Taschenlampe, die sie, wenn sie sich recht erinnerte von der Sparkasse geschenkt bekommen hatte.
"Ha.", freute sich Emily und knipste das Lämpchen an. Es war qualitativ eher minderwertig und der kleine Lichtkreis, der sich davor auftat, schaffte es kaum die glatte, weiße Wand vor der Beamten Kreuz zu beleuchten. Trotzdem war die Taschenlampe eine eindeutige Verbesserung der Situation.
Emily begann langsam die Wand entlang zu gehen. Stück für Stück enthüllte das flackernde Licht der Taschenlampe ihre Umgebung.
Der Raum war fast vollkommen leer.
Einzig ein schäbiges Stockbett, nicht unähnlich dem Modell, das man aus amerikanischen Gefängnisfilmen kennt, stand in einer Ecke. Mottenzerfressene Decken waren lieblos darauf geworfen worden.
Der Boden, die Wände, die Decke, der ganze Raum war mit glatten weißen Fliesen ausgelegt. Im Zentrum des Bodens, der sanft zur Mitte hin abfiel, war ein Abfluss eingelassen. An der Decke waren lange Metallstreben festgeschraubt, von denen stählerne Fleischhaaken hingen.
Das war ein Kühlraum, erkannte Emily, und das hieß, dass man ihn nicht von Innen öffnen konnte.
Trotz dieses Wissens gab die Hauptkommissarin noch nicht auf. Emily überquerte die glatten Fliesen rasch und inspizierte die Türe. Es gab keinen Griff, nicht einmal eine Lücke zwischen dem Rahmen und der großen, stählernen Luke.
In einer ihrer Taschen fand Emily ein Paar Bobypins, die sie gerade so unter die Tür zu schieben vermochte, doch das würde ihr nicht wirklich weiter helfen. Mit einem resignierten säufzen packte sie die Haarnadeln zurück in ihre Jacke und begab sich wieder zu den Betten.
Da sie nicht wusste, ob das obere Stockbett ihr Gewicht aushalten würde, entschied sie sich für das untere. Sie knipste die Taschenlampe aus und verbarg sie in ihrem BH. Dort würde man sicher nicht suchen.
Die Polizistin drehte sich in Richtung der Tür, sodass sie sofort bemerken würde, falls sich ihre Situation änderte. Es war kalt. Emily wickelte erst ihre Jacke und dann in eine der Decken. Nach kurzer Überlegung riss sie sich auch noch die, auf dem oberen Bett unter den Nagel.
Dann schlief sie ein.
Es war ein harter Tag gewesen.
Emily erwachte durch ein schmerzerfülltes Stöhnen und Licht, das auf ihr Gesicht fiel. Blinzelnd öffnete sie die Augen und versuchte zu erkennen, was in dem Kühlraum vorging, bevor die Tür wieder geschlossen wurde.
Ihre Augen schmerzten, nachdem sie so lange in der Dunkelheit verbracht hatte.
Gerade noch entdeckte sie einen großen, breitschultrigen Mann mit einem kurzen Bart und einem Pferdeschwanz, der, blutbefleckt im Licht stand. Dann wurde es wieder dunkel.
"Scheiße.", murmelte Emily und ließ sich resigniert zurück in die Matratze sinken. Sie hatte fast nichts nützliches entdeckt. Das könnte ein fataler Fehler gewesen sein.
Wie hatte sie nur so versagt?
Dann hörte sie es wieder: ein gequältes Keuchen.
Ruckartig setzte sich die Polizistin auf und stieß sich prompt den Kopf an dem Lattenrost des oberen Bettes an.
Sie fluchte.
Dann zog sie ihre Lampe wieder hervor und knipste sie an.
Der kleine, flackernde Lichtkreis fiel auf den Boden.
"Hallo?", rief sie vorsichtig.
Erneut erklang ein Ächzen.
Emily schwenkte die Taschenlampe herum. Glänzend rauschten die Fliesen unter dem Lichtkegel vorbei, dann fiel das Licht auf eine Gestalt.
Die kleine Frau lag auf dem Bauch. Sie trug lediglich ein dünnes Krankenhaushemd, ihr Gesicht war übel zugerichtet, angeschwollen und blutete, um ihre Handgelenke zogen sich blutige Blessuren und ihr Kopf war kahl geschoren.
Blut färbte das Nachthemd rot und ließ es eng an dem trainierten Körper der Frau kleben.
"Mein Gott.", stieß Emily schokiert aus.
Eilig stolperte Emily aus dem Bett und eilte auf die kleine Frau zu. Langsam breitete sich eine Blutlache unter deren geschlagenem Körper aus. "Verdammt.", murmelte Emily und ging neben der anderen in die Knie. Sie ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Verletzungen wandern, dann blieb das Licht auf dem geschwollen Gesicht hängen.
"Hallo? Können Sie mich hören? Verstehen Sie mich?", flüsterte Emily.
Die Frau öffnete den Mund. Mehrere Zähne fehlten. "Ich dachte... ich dachte wir... wären... langsam bei... du... Emily.", stöhnte die Frau schwach.
"Was?", gab die Polizistin bestürzt zurück.
Kannte sie diese Frau?
War sie hier abgeladen worden, um Emily mental nieder zu machen? War es vielleicht die freundliche Beamte Karim? Ihre gute Freundin Jessica aus den USA? Eine ihrer neuen Kolleginnen aus dem internationalen Ermittlungsteam?
Flatternd öffnete die Frau ihre stechenden, blauen Augen.
"Erkenntst... du mich nicht... Emily?", fragte Lady Laeta de Dolores und versuchte sich an einem blutigen Lächeln.
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