Der Dieb und der Schatten (20)
David Peterson kratzte sich am Kopf. Die Akte, die nun vor ihm lag, war beunruhigend dünn. Dieser Langfinger war gut, das musste man ihm lassen. Kaum etwas hatte er über den Jungen herausfinden können. Überall wo es dann doch Informationen gab, fand Peterson mindestens genauso viele Fragen.
David hatte begonnen sich durch sämtliche Akten über gigantische, ungelöste Diebstähle zu arbeiten. Und tatsächlich hatten die Opfer oft einen kleinen, gut gekleideten Jugendlichen mit einem charmantem Grinsen und schwarzen Haaren gesehen, der großes Interesse an besonders wertvollen Waren gezeigt hatte, allerdings hatten die Verkäufer auch nie daran gezweifelt, dass er zahlen konnte. Sie alle schrieben, der Junge habe sehr wohlhabend gewirkt. Verärgert starrte David die Unterlagen an. Natürlich hatte der Langfinger wohlhabend gewirkt, er hatte sich reich-geklaut!
Was besonders interessant war, war die Tatsache, dass der Langfinger tatsächlich des öfteren Mafiafilme und Romane über große Gangster geklaut hatte. Die Information der Straßenkinder, dass er einmal für eine solche Organisation arbeiten wollte schienen also nicht komplett aus der Luft gegriffen zu sein. Außerdem glaubte Peterson nun endlich einen Namen für den Jungen gefunden zu haben: Ahmed Gül.
Der Junge hatte wohl in einem Waisenhaus gelebt und war mit elf Jahren dort ausgebrochen, nachdem er bestraft worden war, da er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte die anderen Kinder zu bestehlen. Dies sei ihm in einem so großen Maße gelungen, dass es sogar die Betreuer, die bereits eine Menge gewohnt waren, fasziniert hatte.
In Ahmeds Bericht fand sich so unter anderem ein Artikel einer Frau Schäfer die über ihn schrieb: "Ahmed Gül ließ sich die Diebstähle nicht anmerken. Wir haben ihn nur ertappt, weil sich viele Kinder über das Verschwinden ihrer Sachen beschwerten und wir beschlossen hatten alle Zimmer zu durchsuchen. Es stellte sich heraus, dass sich alle verschwundenen Gegenstände, darunter auch der Flatscreen-TV aus dem Gemeinschaftsraum, die teure Rubinkette, die Michaela Reiter von ihrer Mutter geerbt hat, die Matratze gegen Louis Scheuers Rückenschmerzen und Mikeyla Biancos Deckenleuchte, in Ahmeds Zimmer befanden. Wir haben ihm für einen Monat verboten Fern zu sehen, doch schon am nächsten Tag verschwand die Fernbedienung. Wir verdächtigen Ahmed, doch er schwört sie nicht zu haben."
David Peterson war gegen seinen Willen beeindruckt. Der kleine musste einer der besten Diebe sein mit denen er über die Jahre zu tun gehabt hatte. Kein Wunder, dass Lady Laeta de Dolores ihn für ihr Team rekrutieren hatte. Den Akten nach war der Langfinger, wenn es sich bei ihm wirklich um Ahmed Gül handelte, jetzt siebzehn Jahre alt. Er war nie gewalttätig gewesen, und der CIA-Agent hoffte sehr, dass die Lady das nicht hatte ändern können. Vermutlich, dachte Peterson, hasste Fifemiles den Langfinger eben weil er sich von Gewalt fern hielt. Etwas, dass die Serienmörderin sicher nicht verstehen konnte.
Sonst war fast nichts über den Jungen zu finden und Peterson bezweifle ernsthaft, dass die Informationen Kreuz, deren Akte über die Lady um einiges dicker war, zufrieden stellen würden. Mit einem Seufzen setzte sich David Peterson wieder hinter den Computer. Dieses Mal loggte er sich in das Netzwerk der CIA ein. Mal sehen, ob der Junge internationale Bekanntheit erlangt hatte, oder sogar begonnen hatte seine Mafiaträume zu verwirklichen. Vielleicht war die Lady ja nicht der erste große Fisch mit dem er zusammengearbeitet hatte. Peterson grinste. Vielleicht unterschätzte Fifemiles den Jungen auch einfach.
Mit einem kaum hörbaren Rascheln geriet die Akte langsam ins Rutschten. Immer weiter glitt die beige Mappe von dem Stapel fast identisch aussehender Akten, der auf dem großen Eichenholz-Schreibtisch emporragte. Dann fiel die Akte. Kurz bevor sie auf dem Boden aufschlage konnte schloss sich eine kräftige Hand um das Papier und legte sie fein säuberlich zurück auf den Stapel.
Äußerlich mochte Günter Tischer, hochrangiger Beamter des GSG-9 und der Mann, der hinter dem Aktenstapel saß, ruhig wirken,doch innerlich kochte er.
Seit Tagen suchte er nun schon, widerrechtlich wohlgemerkt, nach irgendwelchen Informationen über diese Spes, die Brant erwähnt hatte. Es war, als würden die Akten ihn verspotten. Immer wieder tauchten kleine Hinweise auf die Existenz der Frau auf, aber mehr als eine Erwähnung ihres Namens oder ihrer 'Armee der Hoffnung' fand er nicht. Weder ein richtiger Name, noch ein Ort, an dem sie des öfteren auftauchte, noch irgendwelche Namen der Mitglieder ihrer seltsamen Armee schienen der Polizei bekannt zu sein.
Und dabei hatte Tischer sogar die Spes-Akte die in Kreuzes Klo gelandet war mitgehen lassen! Das war eklig und Zeitverschwendung! In der Akte stand lediglich, was er schon wusste: Spes war vermutlich weiblich, sie hielt sich für eine Halbdämonin, sie ließ seltsame Leute mit seltsamen Codenamen Kinder für ihre 'Armee der Hoffnung' stehlen angesichts der Codenamen hatte sie wohl einen Fetisch für Latein, sie war in mehrere Verbrechen verwickelt und der Innenminister persönlich hatte verboten über sie zu recherchieren.
Das war doch zum Mäuse melken! Frustriert starrte Günter auf dem immer kleiner werdenden Stapel der Akten, den er noch nicht durchsucht hatte und den immer größer werdenden, den er bereits als nutzlos abgetan hatte. Auf dem noch unangetastet und Stapel, Tischers letzte Hoffnung diese Spes zu finden, lagen nur noch zwei Akten. Sie waren, ihrer bereits ausgeblichen Färbung und den vielen Knicken nach zu urteilen, steinalt. Außerdem waren sie mit etlichen roten Stempeln versehen, die darauf hingewiesen dass es sich dabei um Akten der höchsten Geheimhaltungsstufe handelte und man sie nicht aufschlagen solle. Das ärgerte Günter. Hätte ein Stempel nicht gereicht?
Mit einem wütenden Schnauben schlug er die vorletzte Akte auf.
Am liebsten hätte er einen Freudensprung vollführt. Auf der ersten Seite der Akte war ein, wenn auch sehr verschwommenes, Bild. Die Fotografie zeigte eine kleine Frau und einen großen, dürren Mann, die beide in lange, schwarze Kapuzenmäntel gehüllt waren. Sie lehnten an einer Hauswand und schienen in ein intensives Gespräch verwickelt zu sein. In den Fenstern das Hauses glaubte Günter weitere vermummte Gestalten erkennen zu können. Es kommt allerdings auch an der grauenhaften Qualität der Kamera liegen, vermutlich einer Überwachungskamera. Trotzdem. Er hatte etwas gefunden, endlich!
Voller Hoffnung speiste der Beamte Tischer das Foto in die Datenbank des GSG-9 ein. Zunächst lief der Suchprozess normal ab. Der Computer glich das Bild mit ähnlichen aus den Archiven ab, um herauszufinden wo Spes wohl gewesen sein konnte.
Dann stockte das Programm plötzlich. Die Worte "Hoffnung durch Macht" flackerten kurz über den Bildschirm.
Der Computer wurde immer lauter. Aus dem wohligen Schnurren der Prozessorlüfter wurde ein wütendes Röhren.
Das Gerät war nun so heiß, dass Tischer es von seinem Stuhl aus spüren konnte.
Mit vor Entsetzen weit auf gerissenen Augen starrte er auf den PC.
War das Tech? Wurde er Opfer eines Hackerangriffs?
Bilder flackerten über den Monitor.
Die Lichter des Rechners blickten, wie eine Jahrmarktatraktion.
Die Lüfter brüllten.
Dann wurde der Bildschirm schwarz.
Die Lichter des Rechners erloschen und die Prozessorlüfter verstummten.
"Verdammt! Was war das denn für ne' Scheiße!", fluchte Günter Tischer. Langsam löste er die schweißnassen Hände von den Armlenen des Bürostuhles, an die er sich geklammert hatte.
Mit zitternden Fingern drückte Tischer auf den Power-Button des Rechners. Das sanfte Schnurren der Lüfter setzte wieder ein, als das Gerät hochfuhr. Günter atmete erleichtert auf. Es roch nach warmem Plastik. Wenigstens war der Computer nicht kaputt. "Drücken Sie Strg+Alt+Entf, um sich anzumelden", forderte der Bildschirm. Der Polizist drückte vorsichtig auf die Tasten, als könne die Tastatur unter seinen Fingern explodieren.
Nun verlangte das Gerät Passwort und Benutzername. Günters Finger flogen über die Tastatur.
Eine Warteschleife tauchte auf dem Bildschirm auf.
Nervös zählte Tischer die Umdrehungen.
Einmal rum, zweimal.
Was würde er auf dem PC finden?
Dreimal rum.
"Hoffnung durch Macht", murmelte er. Was hatte das zu bedeuten?
Viermal rum, fünfmal, sechsmal.
Vielleicht sollte er den IT-Support rufen.
Siebenmal, achtmal.
Langsam stand Tischer auf. Fatima und Henry aus der Technischen würden ihn bestimmt nicht verpetzen.
Der Bildschirm leuchtet auf.
Sofort ließ sich Günter wieder auf den Stuhl fallen. Nur zwei Worte stand auf dem Bildschirm: Alsbach (Hessen).
Tischers Augen weiteten sich. Das war das Kaff aus dem, laut Kreuz, Lady Laeta de Dolores kam.
Der Polizist sprang aus seinem Bürostuhl. Also würde er sich das alte Haus der Lady als erstes ansehen.
Er rannte aus dem Büro ohne den Computer auszuschalten, zu den Wagen des GSG-9. Er durfte keine Zeit verlieren, wenn diese Spes der Lady wirklich helfen wollte.
"Spes ab Opibus" flackerte über den Bildschirm, "Hoffnung durch Macht".
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