Lady Heather

Leichte Nebelschwaden ziehen durch die Straßen Londons. Es ist kurz nach Mitternacht und die meisten Häuser hüllen sich schon in Finsternis, zeugen von einer beschützten Umgebung. Wenig Menschen durstreifen die verschiedenen Gassen, ziehen ihre Kragen hoch und verdunkeln ihre Gesichter. Irgendwo sieht man einen Mann eine Frau bezahlen, verschwinden tun sie im verdunkelten Weg. Vereinzelte Raben krähen ihre Melodie der Nimmerwiederkehr. Aus den Gassen steigt der modrige Geruch verwester Tierkadaver und Exkremente in die Nasen der Städter. Der einsame Mond bestrahlt die leeren Straßen und umgibt die erloschenen Laternen mit einer unantastbaren Kälte.


In den Kneipen, den sogenannten Pubs, herrscht um diese Zeit Hochbetrieb. Die versammelten Männer, oftmals untere soziale Schicht, versammeln sich hier um die miserablen Bedingungen der Industrialisierung in Alkohol zu ertränken. So verspielen sie ihr hart erarbeitetes Geld, fallen vor Trunkenheit vom Hocker und schlagen sich die Köpfe ein. Irgendwo zerbricht ein Bierglas.

Prost auf die guten neuen Zeiten! 

Lachende Männerstimmen mischen sich unter die aggressiven, laute Rufe nach Geld vermengen sich mit den fordernden. Die Leuchter schaukeln, der Alkohol fließt und spritzt auf die Bar, die Scheiben beschlagen. 


Aus den ausgebeuteten Arbeitern des 18. Jahrhunderts kristallisiert sich ein rothaariger Mann am Ende des Raumes, der etwas geknickt über sein Bierglas schaut. Er scheint irischer Herkunft zu sein und ist gerade im Stande eine seiner alten Kamellen zu erzählen. So fließen seine Worte wie der Alkohol aus den Fässern im Keller, die ausgeschmückten Verfeinerung seiner Geschichte ergänzen sich wie die Ratten und Mäuse, die unter den Bänken nach herabgefallenem Essen suchen.

Plötzlich schreit er lauthals auf und die Biergläser stellen sich wie von selbst auf den Tischen ab. Die Menge setzt sich, nimmt den Kopf aus dem Schwitzkasten und starrt auf den selbstbewussten Mann im mittleren Alter. 


„Der muss Mumm haben", sagt ein Mann mit Narbe im Gesicht.

„Was ist denn nu', willst was aufs Maul oder was?", ergänzt ein anderer, der gerade im Inbegriff war, seinen Kameraden eine zu scheuern.

„Was seid ihr nur für grausige Kreaturen", beginnt der Ire wieder und schlägt mit seiner Faust so hart auf den Tisch, dass die ganze Spelunke zu Beben beginnt. 


„Lasst die Fäuste nieder, setzt euch, ich geb' ein'n aus", sagt er beschwichtigend und die Menge folgt. Der Mann hinter dem Tresen beginnt die Gläser zu füllen.


„Lasst mich nu' 'ne Geschicht' erzähl'n" Die Worte des Mannes ertönen im Raum und erklingen ohne jeglichen Akzent der Trunkenheit.


„Als ich damals, vor dreißig Jahren, noch glücklich gearbeitet habe, da war ich als Diener in der englischen Grafschaft Yorkshire angestellt. Über den großen Wiesen und Bergen erhob sich eine kleine Villa mit einem blauen Dach. Die war wirklich schön, das waren schöne Zeiten. Den genauen Ort weiß ich leider nicht mehr, aber es müssten in etwa dreizig Minuten von Leeds entfernt gewesen sein.

Wisst ihr, ich kann mich noch genau an den ersten Arbeitstag erinnern. Ich stand am Bahnhof Leeds, einem kleinen mit nur zwei Bahnsteigen, heute ist das ja alles anders. Jedenfalls stand ich an diesem Bahnhof mit den anderen irischen Einwanderern und hoffte auf Arbeit. So eine begrenzte Zweigstelle musste mich ja zu diesem hässlichen, gottverlassenen Ort schicken, dachte ich. Und als ich da nun stand, als einer von vielen, wartete ich also den lieben langen Tag auf irgendeine Person, die mir eine Arbeit anbieten würde. Ich war so verarmt, dass ich wirklich alles gemacht hätte." Ich blickte kurz um mich herum.

„Und eines Tages dann, da fuhr eine geöffnete, prachtvolle Equipage vor. Sie war jetzt nicht mit Gold geschmückt oder so, aber eben auch nicht hässlich oder wie von einem simplen Städter. Demzufolge -, ja, demzufolge hatte also nun jeder kleine Penner neben mir das innige Bedürfnis seine Hände soweit hochzureißen, dass er mit Nichtigkeit alle anderen übertrumpfen würde. Ich hatte mich aber schon mit meinem Schicksal abgefunden und fand kein Interesse daran, mich durch eine jubelnde Menge von den besten irischen Männern zu drängen. Ich hoffe, mein Sarkasmus versteht hier jeder." Der Mann guckt kurz durch die Menge, zieht seine Augenbrauen hoch, verdreht die Augen und beginnt wieder mit einem großen Luftzug, von seinen Gedanken zu erzählen.

„Und jetzt dürft ihr natürlich raten, vor wem die weißte Kutsche mit der Frau mit dem Sonnenschirm gehalten hat? Genau -, vor mir. Irgendwie verstand ich es selbst nicht. Ich stand an diesem Bahnhof dann schon eine Woche, bekam jeden Tag ein Brotlaib und Wasser, hatte nur ein zerfleddertes Sakko an und hatte eigentlich jede Hoffnung aufgegeben und dann kommt halt diese prachtvolle Kutsche und hält vor meiner Wenigkeit.


‚Du da!', sagt die Frau dann plötzlich und zeigt mit dem Finger genau auf mich. Ich trete dann hervor, sehe sie etwas verwirrt an und frage sie, was sie denn von mir möchte.


‚Na ich möchte, dass du für mich arbeitest', erwidert sie und schenkt mir ein Lächeln. Freudig will ich also auf das Fuhrwerk steigen, ehe sie mich mit einem Stupser ihres Schirms davon abhält.


‚Nicht so eilig junges Fohlen. Beantworte mir erst eine Frage', sie kräuselt ihre Lippen. ‚Warum trägst du keinen Hut, so wie die anderen?' Die Frau in der Kutsche zieht ihre Augenbrauen hoch.

Ich sehe mich um und erkenne, dass die wirklich alle einen Hut aufhatten. Ich meine, die alle hatten einen Hut bis auf mir! Ich musste mir also was gescheites einfallen lassen und sprach; dass Hüte eben nur für Leute mit begrenztem Verstand seien. Im selben Moment erblicke ich die Kopfbedeckung der Dame und erwarte eine entsprechende Reaktion.



‚Sehr gut, steig ein', sie winkte mich in den Wagen und ich platzierte mich gegenüber von ihr. Für mich war es eine angespannte Situation, eben hatte ich sie noch -, naja -, beleidigt und kaum hatte ich mich versehen, saß ich genau gegenüber von ihr und wir fuhren davon.


Die Pferde beginnen zu laufen und ich sehe, wie meine Mitreisenden mir einen letzten bösen Blick zuwerfen, ehe wir um die Kurve biegen und den Bahnhof auf dem Aquädukt verlassen.


Während der halbstündigen Fahrt zur Villa wechseln wir kaum ein Wort. Manchmal sieht sie mich an und dann fragt sie, von wo ich denn käme und was ich alles gemacht habe. Ausführlich sage ich ihr dann alles und plötzlich lächelt sie. Manchmal wirkt es etwas überlegen. Ihr wisst schon, etwas herabwürdigend. Ich war nun wirklich kein Mensch erster Klasse oder sowas.

Nach einer Weile kommen wir an dem Gut an. Es war ein großes Haus mit einer Treppe davor, genau genommen waren es eigentlich zwei. Die linke ging erst nach links und dann nach rechts zum Altan, die rechte ging erst nach rechts und dann nach links zum Söller. Kennt einer von euch Schönbrunn? Also das Schloss? So war das da auch. Abschließend waren dann Säulen aufgebaut, ein mächtiges Haus also.


Ich glaube, im Nachhinein war das Anwesen wirklich ein wenig wie Schönbrunn, zumindest war es das für mich. In meinen Gedanken war ich ein kleiner Mann im Hause Schönbrunn.



Ich betrat, zusammen mit der Dame und dem Kutscher das Entree und schritt über die geputzten Marmorfliesen. Er zeigten sich große Bilder von längst verstorbenen Personen, welche die Lady Heather immer erläutern musste. Ich habe mir nicht wirklich etwas gemerkt oder etwas so wichtig empfunden, mir eine dieser Informationen aufzuschreiben. 


Es folgte der Rundgang durch das Haus, es hatte zwei Etagen. Im unteren Bereich befanden sich zwei Salons, die Veranda, zwei Küchen, etliche Arbeitszimmer, eine Große und eine kleine Galerie, sowie eine Kapelle. Jeden Sonntag kam übrigens auch ein Pfarrer extra zum Gut und hielt eine seiner Reden ab. Ich weiß nicht wirklich, ob Lady Heather diese Dienste brauchte, oder nur nahm, um nicht aufzufallen.


Im zweiten Stock, in welchen man nur über die blaue Stiege kommen konnte, befanden sich dann die Badestuben, das Schlafzimmer von Lady Heather, das des Kutschers, der Magd und das meine. Ich muss sagen, die Lady hat immer gut für uns gesorgt und wir vier wuchsen richtig gut zusammen. Wir waren schon fast wie eine Familie.



Sie zeigte mir noch einige Deckenfresken, ehe sie mit mir mein künftiges Gemach beäugte. 

‚Ihr Name war nochmal?', fragte sie dann.

‚Jack O'Kelly', antwortete ich und betrachtete währenddessen den Raum, in welchem wir standen und bewunderte das ausgesuchte Mobiliar. 


‚Genau, genau. - Jack, ich möchte dir dann noch den Garten zeigen. Neben deinen Aufgaben als Page, wirst du dich auch um unseren Park kümmern. Im Gegenzug versichere ich dir natürlich Mahlzeiten, diese Unterkunft und einige Spielereien -, aber dazu kommen wir später.'


Ich nickte und wir verließen das schöne Zimmer mit den großen Fenstern, den dunkelbraunen Möbeln mit den goldenen Griffen und dem weißen Lüster. 



Wir schritten die Stiege hinab und durchliefen die Galerie mit Veranda, als wir uns plötzlich vor einer unendlichen Landschaft befanden. Ich erspähte Berge, Täler. Flüsse und Bäche bahnten sich ihren Weg durch das gezeichnete Terrain. Unzählige Blumen und Bäume zierten das Bild, welches ich wohl nie wieder vergessen würde. 


Doch ungeachtet der schönen Szenerie baute sich ein weiteres Gebäude, ein winziges im Vergleich, vor meinen Augen auf. 


Es war eine Voliere, ein Taubenhaus, für die vielen Zuchtvögel der Lady Heather. Sie erzählte mir, sie liebte ihre Vögel über alles. Sie hatte sich etliche aus Amerika und auch aus Afrika einführen lassen.


Die Voliere war folgendermaßen aufgebaut: Die Seiten waren mit Sandstein bebaut, daraus ergab sich dann ein metallenes Gitter mit Kuppel. Durch einen Schalter an der Seite der Sandsteinwände konnte man die Kuppel öffnen, wenn man dann wollte. Lady Heather tat das übrigens nie. 



Dass die Lady die Vögel liebte, hatte ich ja bereits erwähnt, richtig? Kaum begann der Tag, da schnürte die Magd, sie hieß übrigens Hazel, schon ihr Korsett, legte ihr das Collier an und steckte ihre Frisur. Lady Heather ging dann immer hinunter, aß mein Frühstück, und setzte sich für den Rest des Tages zu ihren Tieren. Ich glaube, die Lady war etwas verrückt. Ich meine, sie hat mit den Tieren gesprochen. Andererseits dachte ich auch, dass die Tiere wohl die einzigen wären, die der Lady vielleicht widersprechen konnten, wenn ihr wisst was ich meine. Die Tiere waren, glaube ich, die einzigen, die Lady Heather vollkommen respektierte. Starb nach Jahren dann einer ihrer Vögel, ganz besonders schlimm war es bei ihrem Pfau Emmett, da gab es dann fast ein Staatsbegräbnis, so folgte eine Trauerwoche und jeder durfte nur im vollkommenem schwarz erscheinen. Die Kadaver durfte ich dann entsorgen.

Es war der erste Tag vom Monat Oktober des Jahres 1793, als Lady Heather, wie immer die Haare gemacht bekam, sich das Korsett anzog, das Collier um ihren Hals legte, und die Stiege hinablief. Es waren keine zwei Minuten vergangen, da schrak ich in der Küche auf, als ein Gepolter ertönte. Sicherlich eilte ich sofort hin und hoffte darauf, dass es natürlich nicht die Lady war.


Aber mein Erwarten bestätigte sich. Die Lady lag auf dem Boden, nicht ansprechbar. Zuerst nahm ich das Riechsalz und wedelte etwas vor ihr her, doch sie rührte sich immer noch nicht. Sofort kam dann auch natürlich der Kutscher und die Magd angelaufen. Ich solle doch den Arzt rufen, schrie Hazel dann beinahe.

Es vergingen einige Tage, bis Lady Heather wieder zu uns zurückkam. Sie überlebte den Vorfall, doch befand sich nun im Rollstuhl und musste nun mehr betreut werden als sonst. Sie hatte sich nicht wirklich verändert. Es schien, als lebte sie schon immer im Rollstuhl. Ihr Lachen und ihre Angewohnheiten, ihr Verhalten und ihre Stärke waren gleich geblieben. Sie verteidigte ihr Leben und ihre Herkunft, so, wie sie es immer tat. Es war wirklich erstaunlich, dass sich ihr Ruf durch den Rollstuhl nicht verschlimmerte, sondern nur verbesserte. Ich glaubte sogar, dass sie jetzt sogar mehr Besuch kam als sonst. Die Menschen brachten mehr Freude und zeigten Ehrfurcht. Das lag vielleicht daran, weil die anderen jetzt mehr auf ihren Charakter sahen, als auf die Person an sich. 


Lady Heather war ein wunderbarer Mensch, nicht nur seit dem Stuhl, sie nannte ihn Fred, sondern auch schon davor. Sie erkannte und würdigte das Ehrliche, zeigte ihre Abneigungen, ihre Freuden und versuchte immer, aus allem das Beste zu machen. So war sie -, so war meine Lady Heather.



An einem meiner letzten Arbeitstage setzte ich mich zu ihr. Wir kamen aus irgendeinem Grund auf das Thema Zeit. Vielleicht war es, weil sie schon bald sterben würde oder sich die Welt so rasant veränderte.


‚Weißt du Jack, was ist schon Zeit? Ich lebe jetzt schon so viele Jahre, so viele Tage. Ich habe vielleicht einiges erreicht, einiges habe ich sicher auch verspielt. Aber im Endeffekt ist meine, und auch deine Zeit nur eine kleine Sekunde in Betrachtung des Großen und Ganzen. Verstehe mich bitte nicht falsch', sagte sie, als würde sie mich beleidigen.


‚Die Zeit die mich Fred jetzt schon begleitet, ist für mich dieselbe. Für dich vielleicht nicht, ich weiß ja nicht wie du mich erlebst. Die Gegenwart hier würde vielleicht anders aussehen, wenn ich nicht an den Stuhl gefesselt wäre. Aber ist dir nicht auch aufgefallen, was mir alles ermöglicht wurde durch Fred? Ich meine, so viele Menschen kommen mich besuchen, zeigen mir ihre Zuversicht. Das macht mich alles glücklich Jack. Du brauchst mit mir kein Mitleid haben', zum ersten Mal streichelte sie mir über meine Wange. Es schien, als sei sie meine Mutter.


‚Ich glaube Jack, du siehst vor lauter schlechten Dingen nicht die Guten. Natürlich bin ich eingeschränkt, natürlich werden mir Tätigkeiten und eventuell auch Respekt verwehrt, weil ich eben Fred habe, aber du darfst nicht vergessen, was ich dafür alles bekomme. Ich bekomme eure Liebe, ich habe meine Vögel und ich habe jeden Tag das Gefühl, dass es der schönste meines Lebens war. Veränderungen sind nicht immer schlecht Jack, nur weil es im ersten Moment so scheint.


Ich bin nicht anders, nur weil ich hier im Rollstuhl sitze. Andere können ihre Einschränkung vielleicht nicht offen zeigen, weil sie sich dafür schämen. Aber das tue ich nicht Jack. Ich bin so glücklich, dass ich so verschieden bin und mich präsentieren kann. Wer hat schon einen Rollstuhl mit dem Namen Fred? Niemand. Ich kann in eine Oper gehen, ohne dass ich einen Sitzplatz brauche. 



Ich wünschte, du würdest die Welt aus meinem Auge sehen Jack.' Ich blickte nach unten und spielte ungeniert mit meinen Fingern.


‚Aber komm -, nimm dir noch einen Tee und betrachte mit mir den Untergang der Sonne.' Sie fasste auf meinen Oberschenkel, nahm dann meine Hand und sah mich lächelnd an.  

-

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