17. Wie Vergil und Dante

Yongnam hatte mich nach seiner Offenbarung bloß amüsiert am Arm gegriffen und etwas unsanft in meinen Mantel und Stiefel gestopft, bevor er mich mit sich aus dem Haus genommen hatte, mich mühelos in die morgendlichen Lüfte hob.

Ich brauchte länger als erwartet, um seine in Bruchteilen harmlosen aber in Kombination so schrecklichen Worte zu verarbeiten, schaffte es beim besten Willen nicht meine Gedanken in Richtung von Yongguk als Mörder zu steuern.

Schon wieder nicht. Warum verlor ich jedes Mal meinen gesamten Überblick über seine Rolle und Vergangenheit, wenn ich bei ihm war?  Ich hoffte, dass mir dieses grässliche Wissen und Yongnams Gesicht so nahe bei meinem endlich als endgültige Erinnerung daran dienen würden.

Welches Motiv hätte er dazu seinen eigenen Zwilling zu erschlagen? Ein Mann wie Dante, wo war der Sinn darin?

Hatte Yongnam etwas getan, das so abscheulich war, dass selbst der regelrechte Buddha nicht darüber hinweg sehen konnte? Wie hing es mit seinem Suizid zusammen? 

Es war zu abwegig für mich.

Die Migräne, dich sich nun mit dem nagenden Zweifel und dem Fieber in meinem Kopf einrichtete, ließ mir keine andere Wahl als das Thema vorerst gänzlich aus meinen Gedanken zu verbannen und bloß auf der Hut zu sein. Die Zwillinge waren nicht so nett, wie sie wirken mochten und die mir zugewiesene Hälfte von beiden noch um einiges unberechenbarer.

Yongnam schwieg dankbarerweise, doch das kleine Lächeln auf seinen Lippen wich den gesamten Flug nicht, ließ ihn noch etwas beunruhigender wirken, als er es ohnehin schon war.

Ich fokussierte den Stoff seines weichen Mantels - Yongguks Mantels - an meiner Wange und die Art, mit der seine kraftvollen Flügelschläge uns geschmeidig durch die kalte, aber klare Luft schneiden ließen. Der Winter umhüllte uns mit seiner eisigen Schönheit, glitzerte kristallen in der Sonne wie als lockte er uns für immer in seinem tödlichen Bett zu schlafen.

Kain und Abel?

Zwei Brüder von größter Unterschiedlichkeit. Kain erschlug Abel aus Neid und wurde dafür von Gott unsterblich gemacht, auf dass er auf ewig mit seiner Schuld leben musste.

Nein, das war es nicht.

Prinzen, die ihre Brüder für den Thron meuchelten...

Brüder, die einander im Gefecht auf gegenseitigen Fronten entgegen sahen.

Das konnte es sein. Vielleicht hatte Yongguk den Anderen fälschlicherweise getötet und dann aus Schuldgefühlen sein eigenes Leben genommen. Unser System wäre lückenhaft genug ihn als doppelten Sündiger statt als trauernden Bruder anzusehen.

Diese Gedanken von kämpfenden Brüdern und unfertigen Systemen, die weit über dem Horizont eines Menschen waren, wären mir im Leben nicht gekommen, wenn nicht eben jene Zwillinge mein Leben betreten hätten. Der Wandel verwirrte mich.

Ich sollte mir eigentlich Sorgen um Jongup machen, um Daehyun und seinen Boss, nicht um Dinge, die mich rein gar nichts angingen und die seit Jahrhunderten, Jahrtausenden oder gar länger schon ungestört ihren Lauf nahmen.

Irgendwie hatte ich mich erneut so sehr in meinen eigenen Gedanken verloren, dass ich es verpeilt hatte, wohin Yongnam mich brachte. Aber als harter Asphalt unter meinen Füßen auftraf, schreckte ich doch noch aus meiner Trance auf, suchte konfus seinen Blick.

Yongnam lächelte mitfühlend, sah wieder Yongguk so ähnlich aber nein, er war das Opfer in dieser Beziehung. Derjenige, der von seinem leiblichen Bruder getötet worden war.

"Mach dir keine Gedanken, Baby. Ich werde euch nicht in die Quere kommen. Setzt euch hin, redet und lass du nicht locker. Gukkie meidet dieses Thema ganz gerne.", gab er mir leise einen Ratschlag und klopfte sogar noch brüderlich meine Schulter, bevor er mir deutete ihm voraus in ein dunkles Gebäude zu treten, das zwischen den verschlafenen und dunklen Reihenhäusern kaum noch auffiel.

Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, aber es war wohl noch Hokkaido.

Er folgte mir durch einen dunklen Gang hinab, der aus nichts außer weißen Fließen bestand, kein Licht, kein Mobiliar. Nur wir, mein unregelmäßiger Atem und unsere leisen Schritte auf dem Boden.

Alle Versuche zu erkennen, wohin ich ging, erwiesen sich als vergebens aber ich ertastete zumindest irgendwann eine Tür zu meiner linken, hinter der ich auch glaubte Bewegungen zu hören. Bevor ich sie öffnen konnte, fasste mich allerdings Yongnam warnend an der Schulter und wandte mich weiter den Gang hinab.

"Nicht diese. Dort.", war seine angespannte Anweisung und skeptisch ging ich weiter, drückte behutsam die nächste Tür auf, die mir unter kam.

Ich hätte Yongguk nicht übersehen können, selbst wenn ich es versucht hätte.

Warum auch immer hatte Yongnam beschlossen, dass es eine gute Idee wäre seinen Bruder anzuketten, wie als habe er Angst noch einmal von ihm angegriffen zu werden. Der Gedanke jagte mir eisige Schauer über die ohnehin kühle Haut und hilfesuchend sah ich zu Yongnam auf, der sorgsam die Tür hinter uns schloss, bevor er an meine Seite trat.

"Habt ihr euch nicht vertragen? Ich dachte... du passt immer auf Tigger auf und alles." Meine Stimme war leise in dem abgesehen von Yongguk und den Ketten an der Decke leerem Raum, hallte unangenehm und unter meinen Schuhen knirschte es, als ich unwohl mein Gewicht verlagerte.

Ich fühlte mich nicht ganz sicher mit der Situation, mit dem kaum vorhandenen Licht, das durch die schmalen Fenster strömte und wie Yongguk zwar beinahe gänzlich unverletzt, aber eindeutig frierend in diesem Raum gehalten wurde. Sein Kinn war im Schlaf auf seine Brust gesunken und ich sah wütende, blutige Wunden um seine Handgelenke, wo sein Körpergewicht sich gegen seine Fesseln gewehrt hatte.

Es musste unglaublich weh tun.

Ich war kein besonders großer Fan von Schmerz.

"Das tue ich, ja. Aber er ist momentan instabil. Eine Gefahr für andere. Damals, als wir unsere Ferien hier bei unserem Großvater und Natasha verbrachten... Es ging nicht schön aus. Nicht nur für uns zwei."

Es erinnerte mich an das, was Himchan gesagt hatte. An die Dunkelheit, die in Japan lauerte. Vielleicht war es ein Dämon, der ihn damals in die Falle gelockt hatte und ihn dazu brachte seinen Bruder zu töten. Vielleicht war es eben jene Gefahr, die auch nun wieder von ihm Besitz ergreifen konnte.

Yongnam verließ meine Seite, um mit festen Schritten zu seinem Bruder hinüber zu gehen, die Ketten um dessen Arme zu prüfen.

Ich zuckte zusammen, als ein lautes Klirren durch den Raum hallte, hatte nicht an Yongnam vorbei spähen können, aber er hatte die Ketten fester gezurrt, streckte Yongguks Schultern sichtbar ungut, als sie versuchten seinen gestreckten Armen zu folgen.

Ich begriff endlich, warum er überhaupt zu stehen schien, während er doch offensichtlich schlief. Das breite V, in das seine Arme gezwungen waren, unterstützte seinen gesamten Körper, alles Gewicht lag in seinen Schultern und in meinen Augen war es nur eine Frage der Zeit, bis eine oder beide unter dem Druck nachgaben.

Besorgt trat ich vorwärts.

"Hey, Yongnam... Uhm... Ich glaube, das ist keine gute Idee. Seine Schultern-" Ich wurde unterbrochen von einem schmerzerfüllten Laut, der unkontrolliert durch den Raum hallte, die Stimme tiefer als die, die ich zuvor noch die ganze Zeit gehört hatte.

Konfus sah ich zwischen den Zwillingen hin und her, während Yongguk nun langsam den Kopf hob und den anderen mit unlesbaren Augen musterte, versuchte eine Emotion in dem glatten Gesicht seines Bruders zu finden.

"Mach dir keine Sorgen, Kleiner. Wir bringen dich sicher wieder nach Hause zurück. Dein Engel ist hier.", murmelte Yongnam ihm souverän zu und Yongguks Augen wanderten langsam zu mir, sein sonst so fluffiges Haar leblos und verschwitzt in seinen Augen.

Ich entdeckte Schmerz dort. Schmerz, der ganz eindeutig von seiner unangenehmen Position herrühren musste. Alles in mir schrie danach vorwärts zu stürzen und ihm aus der Situation zu helfen, aber ich konnte keinem von beiden trauen. Ich musste abwarten, was sie tun würden.

"Lass es sein, Nam. Das hier ist nicht dein Problem.", wandte sich Yongguk in einer rauen Grabesstimme wieder an seinen Bruder, die Augenbrauen zusammengezogen und ich zuckte ein weiteres Mal zusammen, als etwas dunkles über Yongguks Arme zu gleiten begann.

Ich dachte erst es wären Schatten, von ihm oder einem unbekannten Übel, wer wusste es schon, aber es war Blut. Blut, das sich seinen Weg von gespannten Ketten an seinen Armen hinab bahnte.

Entgegen meiner Vorsätze trat ich einen weiteren Schritt vor, traf erneut nervös Yongguks Blick, als er die Bewegung erhaschte.

Was sollte ich sagen? Wer von beiden war hier im Recht? So gesehen sollte Yongnam mir seinen Bruder überlassen, aber ich konnte jede Hilfe gebrauchen, wenn es darum ging ihn nach Hause zurück zu bekommen. Und die Sache mit dem Bösen in Japan war immerhin von Himchan zuvor schon bestätigt worden.

Aber etwas war eigenartig.

Wenn Yongnam doch auch ein Dämon war... wo war dann sein Engel die ganze Zeit? Er sollte normalerweise stets in seiner unmittelbaren Nähe sein.

Stirnrunzelnd sah ich zu den beiden Brüdern in ihrer eigenartigen Position, beobachtete, wie schwarzes Blut in das weiße Shirt sickerte, das Yongguk trug. Wie es dunkle Linien über seine Tattoos zeichnete.

Mit einem letzten resoluten Schlag meines rasenden Herzens, traf ich meine Entscheidung.

Ich warf mich herum und auf die geschlossene Tür zu, nutzte ihre Ablenkung.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top