3.2
Das Abendessen mit Caya hatte er ganz vergessen, bis diese in einem atemberaubenden türkisfarbenen Kleid das Schlafzimmer betrat und Rean skeptisch ansah. »Was liest du da, das wichtiger ist als unsere Verabredung?«
»Ach, nichts.« Hastig legte er die Papiere beiseite und stand von seinem Schreibtischstuhl auf. »Ich bin ohnehin gleich fertig. Gib mir ein paar Minuten zum Umziehen, dann können wir gehen.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ich habe von dem Abkommen mit Helvetien gehört. Glückwunsch.«
»Nebensache«, murmelte Rean. Sein Blick hing noch immer an den Dokumenten, vor allem an dem, das er unterzeichnen musste. Es lag ganz oben auf dem Stapel. Sollte er jetzt gleich unterschreiben? Er suchte nach dem Fehler in dieser ganzen Sache, nach der Intrige, aber bis jetzt schien das Gesetz einwandfrei zu sein, von Vorteil für alle. Abgesehen von den Leuten vielleicht, deren DNA als potenziell gefährlich eingestuft wurde, aber diese waren irrelevant.
Aber es war beinahe zu einfach. Ein Gesetzesentwurf, der nur Vorteile hatte und seine persönlichen Probleme ganz nebenbei auch löste. Gleich an seinem ersten Tag als König.
»Caya, ich brauche deinen Rat«, sagte er zu seiner Verlobten.
»Wobei?«
»Ein neues Gesetz. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat eine Möglichkeit gefunden, mithilfe der DNA Menschen aufzudecken, die kriminell werden könnten.«
»Das sieht man an der DNA?«, hakte sie überrascht nach. »Dass jemand zum Verbrecher wird?«
»Nicht ganz. Es gibt gewisse Tendenzen zu Charakterzügen, die man in der DNA sieht. Daraus lässt sich die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass jemand eine kriminelle Tat begeht. Das Gesetz sieht vor, dass man diese Leute unter erhöhte Überwachung stellt und ihnen verbietet, Kinder zu bekommen.«
»Also eine genetische Optimierung der Gesellschaft?« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Kann so etwas gutgehen?«
»Wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich wird es zu Aufständen kommen, aber die Mehrheit der Bevölkerung wird auf unserer Seite sein. Schließlich werden sie damit auch geschützt«, argumentierte Rean.
»Sie werden ihrer Privatsphäre beraubt. Glaubst du wirklich, dass du damit einfach so durchkommst?«
Rean zögerte. »Eigentlich schon«, sagte er dann. »Man muss den Leuten einfach erklären, dass es das Beste für die ganze Gesellschaft ist.«
»Das Beste für die ganze Gesellschaft.« Die Emotionen in Cayas Stimme überraschten Rean.
»Ja«, sagte er vorsichtig. »Wenn die Kriminalitätsrate sinkt ...«
»Nicht wegen der Kriminalitätsrate«, unterbrach sie ihn. »Hast du auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was das für die Leute bedeutet, die schlechte Werte beim Test haben?«
»Natürlich. Aber diese Leute sind nicht wichtig. Sie sind nur eine Gefährdung für den Rest der Bevölkerung«, versuchte Rean, sie zu beschwichtigen.
Caya wandte sich von ihm ab, ging ein paar Schritte von ihm weg. Fuhr sich mit den Händen durch die Haare, sodass sich einige dunkle Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur lösten. »Es ist klar, dass du das sagst«, sagte sie. »Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, als minderwertiger Mensch betitelt zu werden, Rean Alves. Wie solltest du auch? Du bist in einem Palast aufgewachsen.«
Rean wollte kontern, aber er konnte nicht. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken, während sein Blick von seiner Verlobten zu den Papieren auf seinem Schreibtisch und wieder zurück wanderte. Er hatte sich nie wirklich als privilegiert gesehen, vielleicht weil er die Position als König nie gewollt hatte, aber Caya hatte recht. Er wusste wirklich nicht, wie es sich anfühlte, am Rand der Gesellschaft zu stehen. Sein ganzes Leben lang waren Bedienstete um ihn herumgekreist wie Planeten um eine Sonne. Man hatte ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Nach dem Tod seiner Eltern war er die wichtigste Person in Lacraine gewesen.
»Rean, bitte.« Seine Verlobte drehte sich zu ihm um. Durchquerte die Distanz zwischen ihnen und griff nach seinen Händen. Rean konnte den Schmerz in ihren Augen sehen – und wie ernst es ihr war.
»Ich muss das tun«, sagte er mit gepresster Stimme. Er musste diese Entscheidung als König treffen, nicht als Cayas Verlobter. Nicht als Mensch, der diese Frau so sehr liebte, dass er ohne nachzudenken für sie gestorben wäre.
»Nein, musst du nicht. Du bist paranoid.« Ihre Stimme bebte, der Griff ihrer schmalen Hände war fest. »Klar hast du als König eine gefährliche Position, aber es gibt viele Regenten vor dir, die weit über achtzig geworden sind. Die ihren Posten irgendwann friedlich abgegeben haben, ohne dass ein Anschlag auf ihr Leben erfolgreich war. Tu mir das nicht an. Tu das den Menschen nicht an, denen es danach so gehen wird, wie es mir jahrelang gegangen ist.«
»Niemand von ihnen wird auf der Straße landen«, widersprach Rean, aber seine Sturheit bröckelte.
»Doch. Doch, das werden sie. Weil niemand einen Kriminellen einstellen will. Sobald ein Arbeitgeber erfährt, dass einer seiner Angestellten eine kriminelle DNA hat, wird er ihn entlassen. Dieses Gesetz wird hunderte, wenn nicht tausende Existenzen zerstören. Und egal, was du sagst, einige von ihnen werden danach obdachlos sein«, argumentierte sie. In ihren großen braunen Augen sammelten sich Tränen und für einen Moment fühlte Rean sich ihr fremd. Als wäre er schuld daran, dass sie auf der Straße gelebt hatte.
Er konnte ihr das nicht antun. Er wusste genau, wie sehr er ihr wehtun würde, wenn er das Dokument unterzeichnete.
Einige Atemzüge lang sah er sie an, dann seufzte er tief. »Du hast recht«, sagte er. »Ich habe mir das nicht überlegt. Ich werde mich nach anderen Sicherheitsmaßnahmen umsehen, die nicht diese Konsequenzen haben.«
Caya küsste ihn so stürmisch, dass er nach hinten aufs Bett fiel – und sie auf ihn. Trotz seiner Angst musste Rean lachen.
»Danke«, murmelte sie an seinen Lippen.
»Ist doch klar«, erwiderte er, während es ihm eigentlich gar nicht klar war. Was, wenn es ihn das Leben kosten würde, das Gesetz nicht einzuführen?
Oder, noch schlimmer, was, wenn es Caya das Leben kosten würde?
Aber er durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Er hatte es ihr versprochen und dieses Versprechen würde er halten, auch wenn es bedeutete, dass er nachts weiterhin nicht würde schlafen können.
»Also, gehen wir essen«, sagte er schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte. »Ich habe die Köchin gebeten, dein Lieblingsessen zu kochen.«
Caya grinste ihn an. »Burger?«
»Burger.«
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