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»Ich kann das nicht, Caya. Ich kann nicht König sein.«
Rean Alves sah seine Verlobte verzweifelt an.
»Natürlich kannst du König sein«, widersprach diese. »Du wurdest dein ganzes Leben lang darauf vorbereitet.«
Es war die Wahrheit; seit er fünf Minuten vor seiner Zwillingsschwester Bleu geboren worden war, war klar gewesen, dass Rean eines Tages den Thron von Lacraine übernehmen würde.
Nur hatte damals niemand gedacht, dass das so früh der Fall sein würde.
Caya strich den Umhang glatt, der mit einer goldenen Klemme auf Reans Schulter befestigt war. Sie hatte seinen Gesichtsausdruck sofort durchschaut, wusste wahrscheinlich genau, worüber er nachdachte. »Deine Eltern wären stolz auf dich.«
»Ich bezweifle es. Ich glaube eher, sie hätten Angst um mich.« Rean schaute Caya nicht an, starrte nur zur Tür, durch die er gleich würde treten müssen. »Diese Position ist lebensgefährlich. Ich verstehe immer noch nicht, warum du dir das antun willst.«
Caya drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Deinetwegen, du Dummkopf.«
»Es ist es nicht wert. Ich warte noch auf den Tag, an dem du das einsiehst.«
Bevor Caya etwas erwidern konnte, begann die Musik im Saal zu spielen. Es war ein feierlicher Marsch, eine simple elektronische Melodie. So traditionell für die Krönung in Lacraine wie der durscheinende, mit winzigen Diamanten besetzte Umhang, der an einen Nachthimmel erinnerte. Eine ferne Galaxie, in der Rean sich jetzt gerne befunden hätte. Lieber als hier.
Caya verschränkte ihre Finger mit seinen. »Du wirst Geschichte schreiben, Rean. Und ich werde an deiner Seite sein.«
»Ich frage mich nur, wie ich Geschichte schreiben werde.«
Kurzerhand machte Reans Verlobte einige Schritte auf die schweren Flügeltüren zu, die zum Krönungssaal führten. Einen Moment lang zögerte sie, dann wischte sie mit den Händen zur Seite, um die Türen zu öffnen. Automatisch schwangen sie auf.
»Das ist deine Entscheidung«, sagte sie mit einem Blick zurück zu Rean.
Er atmete tief durch, bevor er nach draußen trat. Die wenigen Zuschauer, die zur Krönung zugelassen waren, die meisten davon Fernsehteams, applaudierten höflich, als er den Gang entlangschritt. Er bemühte sich um die Körperhaltung, die man ihm beigebracht hatte: das Kinn nach oben, die Brust raus, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Dabei hoffte er, dass die Kameras den Angstschweiß nicht einfingen, der sich auf seiner Stirn bildete. Die etwas zu fest zusammengepressten Lippen, die Schritte, die etwas zu lange dauerten. Rean war so langsam, dass die Musik verstummt war und von neuem eingesetzt hatte, bis er vorne ankam.
»Rean Alves.« Die tiefe Stimme von Vasco de Lima jagte Rean einen Schauer über den Rücken. Er mochte den Sprecher des Parlaments nicht. Und jetzt gerade erinnerte ihn dieser zusätzlich noch an das Amt, für das sich Rean nicht bereit fühlte, denn Vasco war beauftragt worden ihn zu krönen.
Seit dem Anschlag vor fünf Jahren, bei dem Reans Eltern ums Leben gekommen waren, hatte das Parlament regiert. In der Neuen Konstitutionellen Monarchie von Lacraine waren sie zuvor lediglich die Legislative gewesen – die Gruppe, die die Gesetze machte, während der König sie bestätigte und ausführte. Aber es war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Verantwortung über die Krone einem König erst mit dem Eintritt in die Volljährigkeit mit zwanzig Jahren übertragen werden durfte. Und wenn der Nachfolger noch nicht alt genug war, übernahm das Parlament die Regierung.
Heute war Reans zwanzigster Geburtstag.
Und der Tag seiner Krönung.
»Wir sind heute hier versammelt, um die Macht über das Land Lacraine an die Person zu geben, für die sie bestimmt ist. Rean Alves, Prinz von Lacraine, ist heute volljährig geworden und übernimmt deswegen, wie gesetzlich vorgeschrieben, die Krone«, wandte sich Vasco de Lima an das Publikum. Seine Stimme verriet genauso wenige Emotionen wie sein Gesichtsausdruck, die Worte klangen eingeübt. Rean wusste genau, dass er ihn eigentlich nicht krönen wollte. Dass er die Macht eigentlich nicht mit ihm teilen wollte.
»Rean Alves, bitte sprecht nun den Schwur.«
Aber was Vasco – oder Rean – wollte, machte keinen Unterschied.
Reans Stimme zitterte leicht. »Ich, Rean Alves, erkläre mich bereit, die Krone des Landes Lacraine zu übernehmen. Ich erkläre mich bereit, immer für das Wohl meines Volkes zu stehen, und rationale Entscheidungen zu treffen. Beim Annehmen und Ausführen von Gesetzen verpflichte ich mich, mich an die Menschenrechte zu halten und für Gerechtigkeit zu sorgen. Falls ich gegen meine Verpflichtungen als König verstoßen sollte, akzeptiere ich meine Absetzung und, je nach Grad meines Verstoßes, meine Exekution.«
Vasco nahm die filigrane Krone von dem schwebenden Hoverkissen neben ihm. Er sah Rean in die Augen, während er sie ihm auf den Kopf setzte. »Ich kröne Euch hiermit zum neuen König von Lacraine.«
Das Publikum applaudierte erneut, das Geräusch hörte sich an, als würde es von weit weg kommen. Nur ein Rauschen als Hintergrundmusik, während Rean in die Kameras schaute, die auf ihn gerichtet waren, und ein falsches Lächeln aufsetzte. Lächeln, immer lächeln. Das hatte man ihm beigebracht. Lächeln, dann fanden die Leute einen sympathisch.
Bei seinen Eltern hatte das scheinbar weniger gut funktioniert.
Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein Lächeln und auf seine bevorstehende Rede. Und auf Caya, die nun auch aus dem Hinterzimmer kam und den Flur entlangschritt. Ihr langes schwarzes Kleid umspielte die weichen Kurven ihres Körpers, während sie in den hohen Schuhen lief, als wäre sie damit geboren worden. Professionell lächelnd stellte sie sich neben Rean, wobei ihm der kurze Seitenblick nicht entging, den sie ihm zuwarf.
Vielleicht hätte die Geste beruhigend wirken sollen, doch bei ihm bewirkte sie das Gegenteil. Was, wenn Caya etwas zustieß? Könnte er noch weiterleben im Wissen, für den Tod der Liebe seines Lebens verantwortlich zu sein?
Aber er hatte sie gewarnt. Er hatte sie immer und immer wieder gewarnt und sie hatte ihm immer und immer wieder versichert, dass ihr die Risiken nichts ausmachten, die die Position als Königin mit sich brachte.
Trotzdem. Er würde sich trotzdem für den Rest seines Lebens die Schuld daran geben, wenn sie starb oder verletzt wurde.
Caya stieß ihn kaum merklich in die Seite und erst da merkte Rean, dass er schon viel zu lange nichts mehr gesagt hatte. Schnell lehnte er sich zum Mikrofon seines Rednerpultes vor und räusperte sich. »Volk von Lacraine«, sagte er ins Mikrofon. Seine Stimme schallte aus den Lautsprechern neben ihm. Es war seltsam, sich selbst zu hören; er klang sicherer, als er erwartet hätte. »Während der letzten fünf Jahre lagen sämtliche Augen der Öffentlichkeit auf mir, und seit einiger Zeit auch an der wunderschönen Frau an meiner Seite – meiner Verlobten Caya Lynx.«
Es war eine Liebesgeschichte, die die Medien geliebt hatten: der Prinz, der sich in ein armes Mädchen verliebte. Das war aber nicht der Grund, warum sie sich vor einem Jahr verlobt hatten. Nein, wann immer Rean Caya ansah, war er sich sicher, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte.
»Ich möchte nach dem Schwur leben«, fuhr Rean fort. »Immer das zu tun, was das Beste für das Land und seine Bevölkerung ist, ist eine Herausforderung – wahrscheinlich eine, der niemand zu hundert Prozent gerecht werden kann. Aber ich hoffe, dass Lacraine unter meiner Regierung zu einem noch besseren Ort wird, als es bereits ist. Einem Ort, an dem Armut und Arbeitslosigkeit immer weniger werden und in dem Wirtschaft und Innovation vorangetrieben werden. Lacraine ist ein besonderes Land: eine Nation, die aus Kriegen entstand und trotzdem selbst immer den Frieden wahrte. Eine Nation voller Wachstum, Diversität und Sicherheit.« Er machte eine Pause. »Danke, dass Sie mir ihr Vertrauen schenken. Gerade als junger König bedeutet mir das viel. Doch ich kann Ihnen versichern, dass ich mehr als fähig bin, die mir zugewiesene Verantwortung zu übernehmen.«
Lügen. Er war sich alles andere als sicher, ob er dazu fähig war, das Beste für dieses Land zu tun, dazu, auch nur eine einzige gute Entscheidung zu treffen. Aber das war es, was die Leute hören wollten; von seiner Angst, dieses Amt zu übernehmen, konnte er ihnen nicht erzählen. Die einzige Person, die davon wusste, war Caya. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er vor ihr nichts geheim halten können.
Caya beugte sich zum Rednerpult vor, wollte ebenfalls etwas sagen, doch in diesem Moment kamen zwei Bedienstete und trugen es weg.
Rean sah die Frustration unter dem aufgesetzten Lächeln seiner Verlobten, Frustration darüber, dass man sie noch immer nicht für gut genug hielt, obwohl sie bald Königin sein würde. Schnell nahm er ihre Hand und zog sie den Flur entlang, zurück zu den Türen. Eine Handbewegung später waren sie vor den neugierigen Augen der Kameras verborgen.
Rean wusste, dass dieser hastige Abgang später in allen eTabloids stehen würde, doch in diesem Augenblick war ihm das egal.
»Du musst mich nicht beschützen!«, fuhr Caya ihn an, kaum waren die Türen hinter ihnen zugefallen.
»Wer sagt, dass ich dich beschützen wollte? Vielleicht wollte ich nur selbst von ihnen weg«, gab Rean zurück.
»Ich habe deinen Blick gesehen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich hatte nicht vor, dort vorne einen Wutanfall zu bekommen.«
»Ich weiß. Ich wollte nur nicht, dass du öffentlich gedemütigt wirst.«
»Du wirst mich nicht ewig beschützen können.« Ihre Stimme klang nicht einmal wütend, nur als würde sie Fakten darlegen, und genau das war es, was dafür sorgte, dass Reans Magen sich zusammenzog.
Er nahm die Krone ab und drehte sie in seinen Händen. »Das fürchte ich auch.«
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