🌸Vingt🌸
●Bengü - Ağla Kalbim●
Als die Tränen, der Sahara gleichend, getrocknet, die Gedanken sich stumm geschaltet und der Körper einem Eisklotz ähnelnd, erstarrt war, wollte Amira nur eins. Weg. Weg von diesen Kinderschuhen, die regungslos immer noch zwischen ihr und ihrem Ehemann auf dem Fußboden lagen. Sie weinte nicht mehr, winselte nicht mehr, schrie nicht mehr, obwohl ihr Herz noch so viel zu sagen, noch so viele Tränen zu vergießen hatte. Doch die Präsenz dieser Schuhe, welche sie zuvor fest in ihren Händen umschlungen hatte, um sich vor ihrem eigenen Untergang zu schützen, zogen sie nun beim Loslassen regelrecht in die Tiefen des finsteren Abgrunds. Einer Qual, einer Folter glich dieser Anblick ihr, weshalb sie einfach nur aus diesem Zimmer rausgehen und das Gefühl loswerden wollte mit diesem Inferno in ihr zugrunde zu gehen.
Langsam drehte sie sich mit dem Oberkörper seitlich zum Bett um, griff mit ihren zittrigen fast schon abgemagerten Händen an die Bettkante und versuchte mit dem leichten Druck, den sie auf ihren Armen erzeugte, sich zu erheben. Als dann sie sich von den Knien abstützend auf ihre Beine stellte, stand sie dennoch in einer gebückten Haltung und hielt sich an der Bettkante fest, weil sie Angst hatte, dass ihre Beine zusammenklappen würden, sobald sie ihren Griff lockerte, sie freigab und eine gerade Position einnahm.
Einen kurzen Augenblick lang schloss Amira, die vom Weinen schwer wiegenden Augen zu und atmete tief aus, ehe sie ihre Finger dabei langsam um das Gerüst lockerte, ihre erste Hand und anschließend die andere entzog. Als sie auf beiden Beinen stand, spürte sie, dass ihr Stand immer noch nicht ganz fest war, aber immerhin konnte sie sich aufrecht halten. Ohne Kian eines Blickes zu würdigen, der weiterhin auf dem Boden saß, die Knie an seinen Körper gezogen hatte und auf die türkisen Schuhe nieder blickte, hallten Amiras ersten Schritte durch den Raum Richtung Badezimmer nebenan. Die schweren Schritte und der leichte Schwindel, der sie dabei packte und ihr Gleichgewicht mit sich riss, sorgten dafür, dass sie am Badezimmer angekommen, sich mit der Hand für einen kurzen Moment am Türrahmen abstützte und gleichmäßig nach Luft rang. Als dann sie der Ansicht war sich wieder unter Kontrolle zu haben, setzte sie weitere langsame Schritte bis zur Badewanne hin, anschließend sie die kalte Seite des Wasserhahns öffnete und beobachtete, wie der Fall des Wassers einen kleinen See vor ihr bildete. Die Augen stets auf einen Punkt in der Wanne gerichtet, stand Amira einige Sekunden lang völlig hypnotisiert da und lauschte dem Geräusch des Wasserfalls. Als sie dabei die Lider schloss und sich weiterhin diesem Geräusch hingab, hoben sich kurzzeitig minimal ihre Mundwinkel. Denn ihren Vorstellungen erlegen, stellte sie sich vor, sie befände sich irgendwo an den Niagarafällen und war vogelfrei, friedlich und unbekümmert. Doch mit dem Aufschlagen ihrer Augen verschwand dieses Bild und mit ihr, das Gefühl der Wärme und der Freiheit, sodass sie erneut die Gittern vor Augen sah, hinter denen sie gefangen war. Anschließend umwarb sie die Kälte erneut, wie ein Windstoß von allen Seiten, weshalb ihr Lächeln von der Wucht dieser mit gefegt wurde. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wieder monoton, leblos. Amira spürte, wie sehr ihr die Wahrheit vor Augen weh tat, wie sehr sie darunter litt und auseinander fiel. Langsam streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen, ehe sie mit den Händen, den Rand ihres Oberteils fest hielt und sich diese überstreifte, sodass sie nur noch in ihrem schwarzen BH und in ihrer Jeans vor der großen Badewanne stand. Das Oberteil in ihrer Hand daraufhin fallen lassend, huschte ihr Blick zur Tür und da bemerkte sie die Statur ihres Mannes, der sich am Türrahmen angelehnt hatte und sie mit verschränkten Armen beobachtete. Bei dessen Anblick verfluchte sich Amira selbst ein weiteres Mal. Sie verabscheute sich noch mehr, denn sie fühlte mit jeder Faser ihres Körpers mit jedem weiteren Blick, jeden verstrichenen Atemzug und jedem einzelnen weiteren schmerzerfüllten Herzschlag, dass es Kian miserabel ging.
Kians Hemd, welcher an den Seiten zerknittert vorlag, waren unordentlich einige Knöpfe geöffnet und die Ärmel waren leicht hochgekrempelt, sodass sie sich um seine breiten muskulösen Arme spannten. Weiter hinauf sah Amira die durchwühlten Haare ihres Ehemannes, die den Eindruck erweckten, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Doch was Amira am meisten mitnahm, war sein Gesichtsausdruck. Die geröteten angeschwollenen Augen stachen, wie messerscharfe Blitze hervor und durch die Müdigkeit, die Kian regelrecht ins Gesicht geschrieben stand, wirkte er automatisch um einige Jahre gealtert. Sein Körper sprach Bände. Er kapitulierte, denn er war fertig mit allem. Mit einem tiefen Seufzer, ohne den Blick von Amiras Augen abzuwenden, fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht.
Für einen Augenblick blinzelte der Ring an seinem Finger auf, als er dies tat und Amira schnappte angeregt nach Luft. Der Anblick seines Eherings versetzte ihr einen weiteren heftigen quälerischen Stoß, woraufhin eine erneute Welle des Schmerzes über sie herbrach, als sie kontinuierlich darauf starrte.
Kian erwiderte ihren Blick, ließ seine Hände anschließend an seinen Seiten herunterbaumeln und wartete gezügelt auf eine Reaktion von seiner Ehefrau, die die ganze Zeit über erstaunlich still gewesen war.
»Ich wollte ein Bad nehmen«, durchbrach sie plötzlich das Stillschweigen und blickte runter auf ihre nackten Füße, wie als würde sie jeden Moment erwarten, dass Kian sie tadeln würde. Erstaunt hob Kian die Augenbrauen in die Höhe, zumal er nicht davon ausgegangen war, dass Amira nach dem heftigen Heulkrampf, den sie vorgelegt hatte, als Erstes an ein Bad denken würde, aber er gab nichts weiter als ein »Ok« von sich.
Amira warf ihm einen letzten Blick zu, wie als wollte sie aus seinem Blick herauslesen, ob er noch was hinzuzufügen hätte, da er sich nicht von der Stelle rührte. Doch als keine weiteren Worte über seine Lippen herfielen, atmete sie erleichtert aus und begann den ersten Knopf ihrer Jeans zu öffnen.
»Darf ich mich zu dir setzen ?«, fragte Kian mit einer heiseren Stimme. Als er jedoch bemerkte, wie Amira sich versteifte, fügte er hastig hinzu:
»Ich meine... Ich werde auf den Boden sitzen... ich... ich möchte nur bei dir sein. Erlaubst du mir das ?«
Amiras Anspannung nahm dezent ab und mit einem merklichen Nicken übermittelte sie Kian ihre Zustimmung, ehe sie sich auch die Hose von den Beinen streifte und sie zur Seite legte. Die Haare nach hinten werfend und nur noch in Unterwäsche vor Kian stehend, ließ Kian seinen Blick über ihr Seitenprofil wandern und bemühte sich dabei nicht die Fassung zu verlieren und vor lauter Wut gegen die Wand neben ihm einzuschlagen. Die Rippen unter Amiras Brüsten stachen mehr denn je in diesem grellen Licht der Lampe hervor. Die fahle Haut wirkte ungesünder und in allem hatte Kian den Eindruck gewonnen, als wäre die Frau vor ihm ein Streichholz, welches er ohne Probleme mit einer Bewegung entzwei reißen können würde. Kians Augen brannten, als er die erneut aufkommenden Tränen zu unterdrücken versuchte. Ihm wurde ab da bewusst, dass Amira nicht nur innerlich zerfiel, sondern auch äußerlich, einer Pflanze ähnelnd, welches keinen Zugang mehr auf eine Wasserquelle hatte, austrocknete und letztlich abstarb.
Amira, die seitlich, immer noch seine Augen auf ihrem Körper spürte, streifte sich das letzte Stück Fetzen nicht vom Körper, sondern entschloss sich so in die Badewanne zu steigen. Sie hatte sich immer schon geschämt vollkommen nackt vor Kian zu stehen, trotz, dass er ihr Ehemann war. Demzufolge schwang sie das einen Bein und dann das andere, über den Rand der Badewanne.
Als sie mit beiden Beinen einen festen Halt hatte, drehte sie sich rücklings um und setzte sich in das eiskalte Wasser rein, anschließend sie sich nach hinten legte, sodass sie mehr oder weniger unterhalb ihres Hales komplett im Wasser verborgen lag. Obwohl Amira in dem Moment die Augen schloss und sich zu entspannen versuchte, nahm sie dennoch zur Kenntnis, wie Kian nun komplett das Badezimmer betrat und sich auf sie zubewegte. Amira hielt den Atem an, als sie erfasste, dass er auf dem Boden Platz nahm, sich mit dem Oberkörper nach vorne richtete, dabei mit dem Kinn an die Kante der Badewanne kam und demzufolge nur ein geringer Abstand zwischen ihm und Amiras Gesicht bestand. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, doch machte er keinen Anstalten, sie zu berühren. Auch nicht, als er seine Arme ebenfalls über die Kante baumeln ließ und mit den Fingerspitzen das kalte Wasser zu ertasten bekam. Er wollte sie nicht bedrängen. Er wollte nur in ihrer Nähe, bei ihr sein, wollte sich durch ihren einzigartigen Eigenduft heilen, wollte ihr beistehen, falls sie ihn brauchen sollte.
Zwar war sie die ganze Zeit über still geblieben, nachdem sie die Schuhe hatte fallen lassen und Kian war dies viel willkommener, als dass sie weinte, aber trotzdem ließ ihn diese zu intensive Ruhe dennoch stutzig werden. Doch wenn sie im Augenblick nicht reden wollte oder konnte, dann respektierte er das und er würde warten bis sie es tat, genau wie jetzt auch.
Die Zeit rauschte vorbei und Amira gab keinen Mucks von sich, als sie immer noch still in der Badewanne lag. Kian hob kurz den Kopf, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen und bemerkte, dass über eine halbe Stunde vergangen war, seit er sich zu ihr gesellt hatte. Er runzelte die Stirn, bemerkte hingegen daraufhin, dass Amira durch Kians plötzliche Bewegung leicht die Augen geöffnet hatte und liegend geradewegs zu ihm aufblickte.
Kian lehnte sich erneut zu ihr an die Kante, räusperte sich und sagte anschließend:
»Das Wasser ist kalt, du bist schon zu lange drin. Du wirst dir noch eine Erkältung einholen, wenn du nicht langsam rauskommst.«
Amira erwiderte im ersten Moment nichts, blickte ihn nur weiterhin an, ehe sie flüsterte:
»Ich... ich habe mich noch nicht gewaschen.«
Als sie Anstalten machte sich zu erheben, gab ihr Kian mit einem schnellen Handzeichen zu bedenken, dass sie stoppen sollte. Er blickte zu Boden, unsicher über das, was als Nächstes über seine Lippen kommen würde.
»Darf... darf ich das tun ?«
Einen kurzen Augenblick weiteten sich Amiras Augen, ob vor Angst oder Trauer wusste Kian nicht und als er den Blick hob und sich selbst fragte, warum er diese Frage gestellt hatte, obwohl die Antwort darauf bereits auf der Hand lag, da überraschte sie ihn mit einem kaum merklichen Nicken ein weiteres Mal.
Kian ließ sich dieses Zeichen kein zweites Mal geben. Aufgeregt, wie ein kleines Kind, stand er so schnell es ging auf beiden Beinen und begab sich zum gegenüberliegenden Schrank, aus der er Duschgel, das wunderschön nach Kirchen riechende Shampoo von Amira rausholte und anschließend sich noch einen Schwamm in den Griff klemmte.
Als er sich wieder Amira zuwandte und auf sie zulief, war sie unverändert geblieben, in Ausnahme, dass sie sich aufgerichtet hatte. Denn nun saß sie und lag nicht mehr in der Badewanne, wie zuvor. Kian setzte sich seitlich zu ihr, sodass er hinter ihr stand und legte dann die Utensilien auf den Boden. Anschließend nahm er den Schwamm in die Hand und sprühte auf diese das Duschgel, sodass im nächsten Moment kleine Luftballons auf dieser zustande kamen. Ängstlich, aber zugleich auch vorsichtig, schob er sanft ihre Haare, die nass auf ihrem Rücken klebten, zur Seite und fing an mit dem Schwamm ruhig ihren Rücken rauf und runter zu fahren. Nach nur wenigen Sekunden, nachdem Amira keinen Mucks von sich gegeben hatte oder sich der plötzlichen Nähe bewusst, sich wieder eingeengt fühlte, entspannte sich Kian und fuhr nun etwas härter über ihre Haut, nahm sich dann ihre Schultern vor und fuhr vorsichtig über diese. Er bemerkte, wie Amira sich ebenfalls leicht entspannte und die Anspannung ihren Körper verließ, als sie die Augen schloss und kaum hörbar aufseufzte. Beim Reiben fielen die Träger ihres BHs sanft über ihre Arme und als Kian von ihrem Arm, welcher auf seiner Seite ausgestreckt stand wieder zu ihren Rücken herüberwanderte, fragte er zurückhaltend und etwas unbeholfen, als er mit den Fingern an die Öffnung ihres BHs angelangt war:
»Ist es ok, wenn ich... wenn ich deinen BH öffne ?«
Amira horchte kurz auf, als sie seinen Worten lauschte, doch dann nickte sie auch hierbei, ohne sich zu ihm umzudrehen. Als für einen Sekundenbruchteil seine Haut mit ihrer Haut in Berührung kam, während er ihr den BH öffnete, schloss er die Augen und spürte, wie ihn die Ruhe packte. Er fuhr erneut zart über ihren Rücken, indes Amira ihren BH nun komplett auszog und sie aus der Badewanne achtlos auf den Boden fallen ließ. Nachdem Kian in Ruhe seine Routine durchgegangen und Amiras Rücken, ihren einen Arm und ihre Schultern fein gesäubert hatte, streckte er den Arm nach vorne aus und reichte ihr den Schwamm entgegen.
»Ich werde jetzt mit deinen Haaren weitermachen. Solange kannst du über deinen anderen Arm fahren, an den ich nicht rangekommen bin.« Und außerdem kannst du deine Vorderseite säubern, dachte Kian in Gedanken, weil er wusste, dass Amira, was ihre Nacktheit betraf, immer noch ihm gegenüber schüchtern entgegentrat. Und dass sie sich bedrängt fühlte, wollte er keineswegs. Zufrieden damit, dass sie ohne Widerrede seiner Aussage entgegenkam, erfüllte sich Kians inneres mit solch einer Wärme, dass ihm leichter ums Herz wurde.
Müde, aber trotzdem erfreut über Amiras nun etwas stabilere Lage, bückte er sich vor und spritzte sich etwas von Amiras Shampoo in die Handfläche, ehe er behutsam mit den Händen in ihre Haare griff. Zufrieden seufzte Kian auf, sog den schönen Duft seiner Frau in sich ein, den er so sehr liebte und betrachtete fasziniert, die fließenden nun nassen Haare, die sich um seine Fingerspitzen geschlungen hatten. Er liebte diese wundersamen weichen Haare, liebte es sie anzufassen, mit seinen Fingern immerzu durch sie hindurch zu gleiten. Mit wachsaner Konzentration, gab er sich dieser Aufgabe hin und hob ihre Haare, sodass auch ihre kurzen Strähnen am Nacken etwas abbekamen, ehe er sich an ihre Kopfhaut hinaufarbeitete und kleine kreisenden Bewegungen, wie als würde er sie massieren, vollführte, damit das Shampoo sich auch gleichmäßig verteilte. So sehr war Kian erfüllt von diesem kurzen, aber dennoch für ihn bedeutsamen Moment, dass er kaum realisiert hatte, wie Amira aufgehört hatte ihre Brust mit dem Duschgel zu shampoonieren und währenddessen ihren Kopf leicht nach hinten in den Nacken geworfen hatte, damit Kian besser an ihre Haare ran kam. Da das kratzende Geräusch, des Schwammes nicht mehr den Raum erfüllte, wurde es erneut still um die beiden und ein kleines Lächeln stahl sich auf Kians Lippen, welcher von Amiras nächsten Worten jedoch schnell wieder weggewischt wurde.
»Du bist so lieb zu mir Kian und das, obwohl ich alles dafür getan habe damit du mich hasst und damit ich dich hasse.«
Kian stoppte mitten in seiner Bewegung, konnte nicht glauben, was Amira so kalt und ohne Halt von sich gegeben hatte.
»Ich hatte es so sehr darauf ankommen lassen. War gemein zu dir, provozierend und trotz dessen hast du keinen einzigen Fehler gemacht. Ich wollte, dass du mich hintergehst, mich betrügst, weil ich so gemein zu dir war und...« Ein Schluchzen entwich ihr so plötzlich aus der Kehle, dass Kian dies eine Gänsehaut bescherte und er hinter ihr stehend einfach ihren Rücken anstarrte.
»Amira... was faselst du da ?«, flüsterte er mit einer brüchigen Stimme.
»Ich wollte dich hassen. Ich habe es so sehr in all dieser Zeit versucht. Mich von der blanken Wut ernährt... aber ich habe es nicht geschafft. Hätte ich es nämlich geschafft, dann hätte ich das beenden können. Ich hätte gehen können, doch...« Plötzlich wimmerte Amira auf, presste sich die Hände vors Gesicht um die stumm laufenden Tränen zu verbergen. Kian war bei dessen Anblick auf die Beine gesprungen, hatte sich erschrocken vor Amira gestellt und versucht ihr die Hände aus dem Gesicht zu entreißen, doch jedes Mal war er dabei jämmerlich gescheitert.
»Amira... Amira, blick mich an. Schau mir in die Augen.«
Doch sie krallte sich ihre Fingernägel in ihr Gesicht, weinte hemmungslos und schüttelte hektisch den Kopf.
»So sehr wollte ich dich hassen, aber mein Herz ließ es nicht zu. Es ist meine Schuld, es ist alles meine Schuld«, wimmerte sie schmerzerfüllt auf, was Kian innerlich niederschmetternd zu Boden warf.
Kian fasste sie erneut an den Händen und entriss sie nun mit einiger Gewalt. Als er den quälenden Ausdruck in Amiras Gesicht sah, stockte ihm der Atem. Er stand sofort auf, schnappte sich den Bademantel, der an der Tür hang und lief wieder auf Amira zu, die weiterhin stumm vor sich hin flennte.
»Komm... komm zu mir... Ich werde dich halten. Ich verspreche es dir«, versuchte Kian so behutsam wie nur möglich auf sie einzureden und Amira in Sicherheit zu wiegen, aber sie blickte ihm immer noch völlig fertig ins Gesicht und rührte sich nicht von der Stelle.
»Vertrau mir«, flüsterte er, was Amira kurzzeitig aufhören ließ weitere Tränen zu vergießen.
»Hat genau das nicht uns in diese Lage gebracht ?«, hauchte sie, die Stimme gedämmt, ergriff aber sogleich dennoch Kians Hand. Dieser war, wie erschlagen von ihren Worten und er spürte, wie dies für ihn viel schlimmer als eine echte Ohrfeige war. Denn der Schmerz wollte auch nach Sekunden nicht loslassen. Doch diese Chance die Amira ihm gerade gab, wollte er ergreifen, schließlich hatte sie ihm trotz ihres Satzes die Hand entgegengestreckt. Oder galt das als ein Symbol dafür, dass sie sich nun endgültig ihrem Untergang hingeben wollte ? Kian runzelte die Stirn, scheuchte aber seine dunklen Gedanken in eine Ecke, wo er sie für später aufbewahren würde. Denn jetzt war ganz und gar nicht der richtige Zeitpunkt für.
Mit festem Halt erhob sich Amira, doch als Kian ein weiteres Mal in ihr Gesicht blickend, eine erneute Ladung der Tränen aufblinzeln sah, fasste er sie kurzerhand am Rücken und unter den Beinen und hob sie selbst hoch. In dem Augenblick, wo er sie in den Armen fest an sich zog, krallte Amira ihre Hände in sein Hemd, lehnte sich an ihn und schluchzte erneut aus tiefstem Herzen auf. Ununterbrochen und schmerzerfüllt, schallte ihre Stimme im ganzen Haus wider. Kian setzte sich, Amira immer noch in ihren Armen umschlungen, zu Boden und nahm den dort liegenden Bademantel, welches er fallen gelassen hatte, als er Amira hoch gehoben hatte, und deckte sie sorgfältig damit zu, ehe er sie fester an sich zog und sie leise vor sich hinsummend zu wiegen begann.
»Scht scht querida...bitte weine nicht. Bitte. Es wird alles wieder gut werden, alles wird wieder gut werden. Ich verspreche es dir.«
Doch Amira konnte nicht aufhören, konnte sich nicht stoppen. Ihre Nerven waren am Ende, ihre Energie bis zum letzten Atemzug verbraucht. Sie konnte einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen, hatte keine Kontrolle mehr über ihre Gefühle.
»Es tut so weh, Kian. Es tut so schrecklich weh«, weinte sie und schlug mit ihrer letzten Kraft gegen seine Brust. Warum wollte dieser Schmerz nicht aufhören ? fragte sie sich in ihrem vernebelten Zustand immer wieder.
Kian, dem durch Amiras Worte eine Träne übers Gesicht lief, krächzte angeschlagen:
»Scht... scht... Es ist ok. Hörst du ? Es ist ok.«
Doch nichts war auch nur ansatzweise ok. Während Amira sich an Kian festkrallte, um nicht den Halt zu verlieren und Kian sie fest umarmte, um sie nicht nochmal von den Händen gleiten zu lassen, um ihren Schmerz zu betäuben, merkten beide nicht, wie verloren sie doch waren. Kian wiegte ein verlorenes Wesen in den Armen, nicht wissend, dass er dadurch ein Teil seiner selbst ebenfalls während dieses Aktes für immer aufopferte.
***
Als Kian, Amira in den Armen wiegend, behutsam zu Bett gebracht und sich neben sie gelegt hatte, bis sie zur Ruhe kam und in den Schlaf fiel, war er dabei selbst eingeschlafen. Angestrengt durch die Ereignisse des gestrigen Tages, spürte Kian beim Öffnen seiner Augen, höllische Schmerzen in all seinen Gliedern, die sich erst jetzt beim Aufwachen bemerkbar machten und sich in seinem ganzen Körper wie ein Virus ausbreiteten. Als ihm im Anschluss auch noch die Sonnenstrahlen vom Fenster aus blendeten, hielt er brummend die Hand vors Gesicht und ließ sich schnaubend zur Seite auf das Bett zurückfallen. Als dann seine eine Hand jedoch mit dem weichen Bettbezug in Berührung kam, lag er im nächsten Augenblick hellwach da und fragte sich Stirnrunzelnd, warum Amiras Bettseite leer dastand und wo sie sich wohl aufhalten möge.
Durch die Furcht geleitet, dass Amira etwas zugestoßen sein könnte, erhob er sich so abrupt mit dem Oberkörper, dass er durch die abrupte Bewegung ein leichtes Knacken wahrnahm. Doch als er Amira wenige Augenblicke daraufhin vor ihrem Kleiderschrank zu sehen bekam, erweichte der peinigende Ausdruck in seinen Zügen und er atmete erleichtert die Luft aus seiner Lunge raus, die ihm jedoch augenblicklich im Halse stecken blieb, als er sah, dass Amira einen Stapel Oberteile herausfischte und sie in eine auf dem Boden geöffnete Tasche verstaute in der bereits einige ihrer Klamotten verstaut vorlagen.
Mit einem Blick zu Amira fiel ihm zunächst nichts Merkwürdiges an ihr auf. Sie hatte sich die Haare offen nach hinten geworfen, eine verwaschene Skinny Jeans über ihre Beine gestreift und ein schlichtes etwas breiteres kariertes Hemd an, sodass sie gewöhnlicher denn je wirkte. Doch ihre bizarre Verhaltensweise deutete ganz klar daraufhin, dass sie dabei nur ein Scheinbild projizierte. Amira ging es nicht gut und sie konnte in diesem Zustand auch keineswegs rational denken, dachte sich Kian, weshalb er mit einem Satz aufstand und beharrlich auf sie zumarschierte. Kian, der immer noch in seiner Kleidung von gestern steckte, wurde plötzlich bei jedem weiteren Schritt immer unbehaglicher zumute, doch er ignorierte die tobende fürchterliche Vorahnung tief in seinem Inneren und setzte seine Bewegungen fort. Er wollte diesem Unsinn so schnell wie möglich ein Ende setzen.
Kurz vor dem Schrank zum Halt kommend, beobachtete er Amiras gleichmäßigen ruhigen Bewegungen und fragte darauf folgend, die Schärfe in seiner Stimme kaum zurückhaltend könnend, als sie unbeirrt mit ihren Aktivitäten fortfuhr:
»Amira, was machst du da ?«
Amira schenkte ihrem Ehemann keine Beachtung, indes sie ein weiteres Mal auf den Schrank zulief und diesmal aus einer kleinen Schublade einige Socken herausnahm.
»Amira ?«, startete Kian, bemüht ruhig zu bleiben, einen erneuten Versuch. Doch noch immer erfolgte keine Reaktion, geschweige denn überhaupt ein Blick in seine Richtung. Dies brachte bei Kian das Fass zum Überlaufen, weshalb er ihr, die nächste Ladung von Kleidungsstücken, die Amira fest umschlungen hielt, aus der Hand entriss und sie wütend anstarrte.
»Ich habe dich gefragt, was du machst ? Warum packst du deine Sachen ein ?«
Amira erwiderte seinen Blick so standhaft wie nur möglich, denn im Gegensatz zu gestern hatte sie es erneut bewältigt ihre Mauern hochzuziehen und ihre Tapferkeit und Stärke unter Beweis zu stellen.
»Ich brauche Zeit für mich, ich brauche einen klaren Kopf und deshalb muss ich...«
»Kommt gar nicht infrage, Amira ! Du gehst nirgendwohin.« Kian klang feindseliger, als ursprünglich beabsichtigt, doch dass Amira sich erneut verschließen wollte, löste in ihm eine solche Heidenangst aus, dass der Umhang seiner Selbstbeherrschung achtlos von ihm fiel.
Amira seufzte auf und streckte Kian die Hand entgegen. Sie begriff, dass sie nicht mehr den nötigen Nerv aufbringen konnte, um mit Kian zu diskutieren.
»Gib mir bitte meine restlichen Kleidungsstücke wieder«, sagte sie und deutete auf die Oberteile in Kians Hand.
Doch Kian dachte nicht mal annähernd daran ihrer Aufforderung nachzugehen, sondern trat währenddessen ein paar Schritte zurück, was Amiras Geduld deutlich überstrapazieren ließ.
»Kian...«
»Vergiss es.«
Sie lief auf ihn zu, zischte Kian laut an und riss die Sachen aus seiner Hand an sich.
»Es reicht ! Es reicht jetzt wirklich.«
Sie taumelte einige Schritte zurück, hielt aber dennoch die Kleidungsstücke in ihrer Hand fest. Kian war deutlich getroffen vom schroffen Tonfall Amiras, weshalb er nichtssagend, auf den Stuhl und den Tisch in der Ecke ihres Schlafzimmers zulief und sich erschöpft, die Händen in seinen dichten dunklen Haaren vergrabend, auf diesem niederließ.
Amira, die begriff, dass sie unbewusst zu hart mit ihm umgegangen war, flüsterte, als sie eines ihrer Oberteile sorgsam wieder zusammenfaltete:
»Ich habe gelogen. Ich habe bei der ersten Sitzung bei Mrs. Gielow gelogen. Ich bin nicht mit dir zur Eheberatung gegangen, um mir selbst zu beweisen, dass unsere Ehe aussichtslos war, damit ich dies schnellstmöglich hinter mich bringen kann. Nein, es war die kleine Hoffnung in meinen verkommenen Herzen, der mich zu ihr geführt hat. Indirekt, trotz meiner Wut dir und mir gegenüber, hatte ich die Hoffnungen gehabt, dass sie es doch irgendwie schaffen würde unsere Ehe zu retten, dass wir es schaffen.«
Kian fuhr sich angesichts Amiras offenen Worten, übers Gesicht, blieb hingegen weiterhin stumm. Er war nicht in der Lage zu reagieren.
»Ich habe jedes Mal gelogen, als ich sagte, ich würde nichts mehr für diese Ehe tun wollen. Gelogen. Alles war gelogen. Denn ganz tief in meinem Inneren, habe ich alles gegeben, um es wieder zurechtzubiegen, aber es hat nicht geklappt. Es hat einfach nicht geklappt. Ich bin meine negativen Gefühle nicht losgeworden.«
Amira spähte vorsichtig zu Kian rüber, wie als würde sie ihn damit stumm um Vergebung bitten.
»Ich...Ich brauche nur etwas Zeit. Es wird sich wieder legen und...«
Kian unterbrach sie so plötzlich, dass Amira durch seinen schroffen Tonfall unmittelbar zurückwich.
»Warum werde ich dann das Gefühl nicht los, dass deine Worte eher einem Lebewohl gleichen, als dass du mir die Situation damit erklären wollen würdest ?« Amira ging nicht auf Kians Aussage ein, sondern bewegte sich, nachdem sie sich von ihrer Starre gelöst hatte, wie schon zuvor im Zimmer hin und her. Kian beobachtete sie stillschweigend, bis sie behutsam die Schranktüren schloss und den Reißverschluss ihrer Reisetasche hochzog, sodass dieses Geräusch im ganzen Raum widerhallend, Kian durch Mark und Bein ging.
»Also tust du es ?«, fragte er sie direkt und versuchte seinen Stimmton im Griff zu halten. Eine unaufhaltsame Wut staute sich in seinem Inneren auf, der sich mit seiner unterschwellig, sich nach oben hinaufarbeitenden Panik vermischte und mit ihr Eins wurde. Er wusste nicht, welches Gefühl in ihm mehr dominierte. Die Wut über ihre Worte oder die Angst, dass sie diese wirklich in Tatsachen umwandeln würde. Worauf sollte er sich konzentrieren ? Was sollte er zulassen, damit beide Gefühle nicht gleichermaßen die ultimative Macht über ihn gewannen und ihn erdrückten, ihn zertrampelten. Auf die Implosion in ihm oder doch den Tränendamm, der kurz vorm Zusammenbruch war und nach außen zu sickern drohte. Um diesem Chaos ein für alle Mal ein Ende zu setzten, tat er das einzig Richtige, was ihn in seiner verlorenen Dunkelheit etwas Licht und somit Trost, etwas Hoffnung spenden würde. Er blickte in ihre grünen auffälligen Augen, die einen recht faszinierenden starken Kontrast zu ihren lang geschwungenen Wimpern darstellten und die stechende Farbe näher in den Fokus rücken ließen. Er hielt sie gefangen. Hielt sie gefangen in seinem Blick, bis er der Ansicht war, dass auch sie sah, was er zu sehen bekommen hatte. Bis sie selbst ein Teil dessen spürte, was er gerade fühlte. Bis sie genauso zerbrach, wie er.
»Ich muss Kian«, flüsterte sie. Der flehentlich weinerliche Ton in ihrer so samtweichen Stimme, ließ seine harten Gesichtszüge dezent erweichen. Er hatte nicht ganz recht behalten bei dem, was er gerade gedacht hatte. Auch sie litt, auch sie spürte den schrecklichen Schmerz in der Brust, das wilde Herzklopfen... Auch sie hatte dieselben klagenden Gedanken wie er. Doch bei ihr hatte die aufkommende Flutwelle bereits die Oberhand gewonnen, denn einzelne Tränen bannten sich einen Weg über ihre makellose Haut. Schnell wischte sie sich diese mit dem Handrücken weg und schnappte hörbar nach Luft, um nicht aufzuschluchzen. Ihre langen feinen Finger, die in den letzten Wochen noch dürrer geworden waren, verfingen sich in ihren nougatbraunen federleichten Haaren, ehe sie ihre glatten Strähnen im Gesicht nach hinten warf. Einen Augenblick lang verharrte sein Blick an ihren Strähnen, ihren Haaren und er fühlte sich an die Tage zurückkatapultiert, wo er sie still in den Armen hielt, anschließend er sein Gesicht in ihre Halsbeuge schmiegte und ihren einzigartigen Duft in sich aufnahm. Wie immer hätte er kurz, nachdem er ihre empfindliche Stelle am Hals geküsst und sie lachend zurückgewichen wäre, sie an ihrem Hinterkopf gepackt und hätte sie wieder an sich gezogen. Dann wäre er ihr wie immer durch die Haare gefahren und hätte sie völlig verzaubert in der Stille betrachtet.
Ja, ihre Haare waren einer der unzähligen Attribute, die er so sehr an ihr geliebt hatte. Wie gern würde er in die Tage zurückkehren und erneut ihre Haare durch seine großen Hände hindurch gleiten lassen wollen, doch auch er wusste, dass es zu spät war. Deutlich zu spät.
Als kurz danach ihre ausgesprochenen Worte, wie Pfeile auf ihn zugeschossen kamen und letztlich das gewünschte Ziel auch trafen, erst da realisierte er, was sie da überhaupt von sich gegeben hatte. Ein gewaltiger Zorn packte ihn von erneuten und schien ihm jeden Augenblick den Boden unter den Füßen wegreißen zu können. Er spürte wie seine Brust sich ruckartig hoch und runter bewegte, wie ihm das Atmen schwer fiel und er die Hände zu großen Fäusten ballte, damit er ja nicht in Versuchung kam einen Gegenstand zu nehmen und es durch die Gegend zu schleudern, nur um sich dann besser zu fühlen. Grob fasste er sich an seinem Hemdkragen und riss mit Gewalt gleichzeitig die obersten Knöpfe auf, ehe er mit einem schnellen Ruck aufstand. Das laute Aufkommen des Stuhles auf den Boden war das Einzige, was diese unerträgliche Stille durchbrach.
Völlig außer sich wandte er den Blick von ihr ab. Er konnte und wollte sie nicht mehr ansehen. Er wollte ihr nicht zeigen, wie sehr ihre Worte ihn mitgenommen hatten, wie sehr er sie für ihre Schwäche, für ihren Egoismus verachtete. Doch ehe er sich versah, brauchte er sie dabei auch gar nicht anzusehen, denn die nächsten Worte hatten schon längst die Kontrolle über ihn gewonnen und nun war er es, der seine tödlichen Pfeile auf ihr Herz richtete.
»Dann tu es, tu es, damit du dich besser füllst. Tu es, damit du dich selbst rettest, dich mit solch belanglosen Themen nicht mehr herumschlagen musst und diese Last auf deinen Schultern los wirst. Mach schon, worauf wartest du !«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie urplötzlich nach seinen Worten zusammenzuckte und nur zögerlich wagte er es den Blick erneut in ihre Richtung zu wenden. Er blickte sie finster und genauso verloren an, wie er sich fühlte. Sie hingegen schien mit jeder kleinsten Faser, jeder kleinsten Mimik und Haltung aufzuzeigen, dass sie verletzt war. Unglaublich verletzt von seiner Wortwahl und verletzt davon, wie er sie sah, wie er sie betrachtete.
Er verachtete sie...
Sie konnte es in seinen Wut sprühenden haselnussbraunen Augen sehen. Diese Augen, die immer ihr Rettung gewesen waren, ihr Anker, welcher sie fest umklammert hielt, weil sie nur das Gute in ihr sahen, immer das Reine, das Wunderschöne. Doch dieses eine Mal waren sie anders. Zum ersten Mal hatte sich ein Sturm in ihnen aufgelegt, welcher die Farbe dunkler, dreckiger gestaltete. Nun waren sie besudelt, besudelt von der Farbe der Enttäuschung und der Verachtung. Der Funke in seinen Augen war erloschen und der dumpfe Glanz hatte eine dunkle Spur von Asche übrig gelassen. Diese Augen, die als offene Tür zu ihrer Seele galten, waren nun geschlossen.
Ihrem Spiegelbild nicht standhalten können, welches in seinen Augen zurückreflektiert wurde, richtete sie den Blick von ihnen ab und die Verbindung zwischen ihnen ging endgültig in die Brüche. Sie spürte, wie ihr dabei unwillkürlich kalt wurde, wie nackt und verloren sie sich plötzlich fühlte, wenn sie ihn nicht ansah, ihn nicht berührte, aber sie konnte nicht anders. Eine andere Wahl blieb ihr nicht mehr.
Mit einem letzten erdrückten Seufzer hielt sie den Griff ihrer Tasche fest umschlungen und setzte dann ihre ersten Schritte Richtung Tür. Innerlich betete sie, dass sie die Kraft aufbringen würde zu gehen, dass sie es auch wirklich durchzuziehen würde, so sehr es auch schmerzte. Doch kurz bevor sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, hielt sie inne.
»Du siehst es nicht, Kian. Du hast es auch damals nie sehen wollen, wenn eine Scheibe Risse vorwies und sie kurz davor war auseinanderzufallen. Du hast die daraus resultierenden Scherben nie gesehen, die die sich überallhin verstreuten, in kleine Stücke zerfielen und damit andere Menschen verletzten. Wir sind diese Glasscheibe, Kian. Du und ich. Unsere Risse sind zu enorm, zu tief ausgetragen, dass selbst eine leiseste Berührung, ein leichter Druck auf dieser Stelle, das Zerbrechen unserer Seelen hervorrufen würde. Ja, vielleicht muss ich es tun, um mich zu schützen, muss es tun, um nicht komplett zu zerfallen. Vielleicht muss ich genau deshalb auch egoistisch handeln, aber dies dient gleichermaßen zu deinem Schutz, wie zu meinem eigenen. Denn ich würde mich an deinen Seelenscherben schneiden und du dich an meinen... Wir würden uns endgültig zerstören.«
Nach diesen Worten warf Amira keinen Blick mehr zurück, sondern öffnete kurzerhand die Tür, lief die Treppen runter und stürmte aus dem Haus raus. Die Tasche fest umschlungen, war der brennende Schmerz in ihrer Hand das Einzige, worauf Amira sich just konzentrieren wollte. Ihr, wie ein Papierstück zusammengeknülltes, Herz, ihre verlorene Seele, ihr Leben, ihre große Liebe, die sie hinter sich gelassen hatte, erfüllten sie mit solch einer Qual, dass sie dem Gefühl unterlag in Flammen zu stehen. Umzingelt von dieser folternden Hitze, die in ihr die Aussichtslosigkeit, als auch die vollkommene Leere mehr denn je zu Ausdruck brachte, konnte sie nicht anders, als sich von dieser Erkenntnis in die Knie gezwungen, die Hand vor den Mund zu halten.
Sie hatte alles weggeschmissen, die Bilder, die sie sich innerlich ausgemalt hatte, wie sie und Kian Kinder bekamen, ihnen bei den ersten Schritten halfen, zu ihren Abschlüssen gingen, der stolze Blick in ihren Augen dabei aufglimmend. Dann die einzelnen Falten, die einzelne weißen Haarsträhnen, die sie an Kian im Laufe der Jahre mitansehen würde, wie sie mit ihm altern, seine faltige Hand in ihre nehmen und ihn dennoch mit dieser vollkommenen Liebe anblicken würde, wie am ersten Tag ihrer Ehe. Und letztlich, wie sie ihre letzten Tage gemeinsam verbringen und zusammen sterben würden. All diese Fotos warf Amira mit jedem weiteren Schritt auf dem Kiesweg ins Lauffeuer, sah zu wie die Bilder verschmolzen, die Gesichter sich verzerrten, dunkler Rauch entstand und all die schönen Geschehnisse sich in einen nie wahr gewordenen Traum verwandeln und sich eine Sehnsucht in ihr einnisten würde, welcher ab sofort ihre Albträume darstellen würden, da sie sie nie zu erfassen bekommen würde.
Ich will das nicht, dachte sich Amira und hastig stolperte sie den Weg weiter, als sie mit der Hand ihre jämmerlichen Tränen wegzuwischen bestrebte. Doch je mehr sie ihre Tränen unterdrückte, desto gewalttätiger stürzten die Wellen der Trauer auf sie ein, rissen sie mit, ertränkten sie. Kurz bevor Amira das Tor zum Eingang erreichte, fiel ihr Kians niederschmetternder Blick wieder vor die betrübten Augen. Er hasste sie. Er hasste sie für ihre Schwäche. Er hatte sie nicht aufgehalten, war ihr nicht hinterhergekommen, hatte nichts mehr dazu gesagt. Er war verstummt, denn er...
Plötzlich wurde Amira mitten in ihren Gedanken versunken, umhergewirbelt, sodass ihre Tasche wenige Meter vor ihr auf den Boden fiel und ehe sie es sich versah, sah sie, dass schmerzhaft dreinblickende Augen so nah vor ihr standen, dass sie erschrocken nach Luft schnappte. Kian war ihr hinterher gekommen, hatte sie mit der einen Hand an der Hüfte gefasst, an ihre wunderschöne Haut, und die andere auf ihr Gesicht gelegt, um mit seiner Handfläche sachte über ihre Wange zu streichen, wie als bestünde sie aus Glas. Seine Nasenspitze stieß mit ihrer zusammen, sein Atem vermischte sich mit der ihres, doch das war es nicht, was sie so sprachlos und bewegungslos stimmte. Es waren die Tränen, die dicken endlosen Tränen, die über Kians makelloses Gesicht liefen. Es war sein Blick, seine Augen, in der sie ganz klar eines sehen konnte. Unterwerfung.
Er unterwarf sich ihr.
»Bitte...«, krächzte er, die Stimme zitternd von der Qual, die ihm den Willen zum Überleben nahm.
»Bleib bei mir Amira... Bitte geh nicht.« Er zog Amira noch näher an sich, ihre Lippen berührten sich fast, doch wagte er es nicht sie zu küssen, weil er wusste, dass er dadurch endgültig zugrunde gehen würde.
»Kian...«, nun weinte Amira, schmerzhafte Laute verließen ihren Mund, als sie das Gesicht aus seinem Griff entziehen wollte, doch Kian erlaubte dies nicht, sondern umschlang seine Hand noch fester um ihre Hüfte. Plötzlich kniete er sich auf dem Boden nieder, umschlang mit beiden Armen ihre Taille und schmiegte sein Gesicht in ihren Bauch, währenddessen Amira hörte, wie gepresste Schluchzer seine Kehle verließen, als er sich wie ein kleines Kind an sie geklammert hielt.
»Bitte verlass mich nicht... tu mir das nicht an, Amira. Was soll ich nur ohne dich machen ?«
Amira blickte schockiert und völlig außer sich auf sich runter. Ihre Brust hob und senkte sich ruckartig, als sie nach Luft zu schnappen versuchte, die von ihrem Weinen immerzu unterbrochen wurde. Sie hob die Hand und wollte diese auf Kians Kopf legen. Sie näherte sich, näherte sich immer mehr mit ihren zittrigen Händen an ihn, doch hielt sie kurz davor inne, ballte die Hand zur Faust, entzog die herannahende Wärme ein weiteres Mal und ließ es zu, dass ein Windsturm über sie einbrach.
»Kian... bitte lass mich gehen. Bitte...« Amiras Stimme brach zum Ende hin, wie die Schnur an einer Nadel, ab. Sie wollte stark bleiben. Sie wollte den Schritt wagen, den Kian nicht von selbst tun würde. Sie musste es tun. Sie musste loslassen, ansonsten würde sie Kian mit sich ziehen und das würde sie sich nie verzeihen können.
Mit der letzten Kraft, die sie aufbringen konnte, fasste sie an beiden Seiten die Arme von Kian, die er um sie gelegt hatte und zog sie runter. Kian wehrte sich nicht, konnte sich nicht mehr wehren. Er hatte die Endgültigkeit in ihrer Stimme gehört. So sehr er es wollte, er konnte sich nicht mehr rühren.
Amira, die sich befreit hatte, taumelte, die Sicht immer noch von ihren Tränen bedeckt, einige Schritte ungeschickt zurück zu ihrer Tasche. Als sie diese ergriff, blickte sie ein letztes Mal auf Kian zurück, der mit schlaffer Körperhaltung einfach so auf dem Boden niederkniete und leblos auf den Kiesweg starrte. Seine zerzausten Haare, die im Winde verweht wurden, war die einzige Bewegung, die an ihm auszumachen war. Ansonsten glich er einer Statue. Versteinert, leblos.
Ihn so zu sehen, brach Amiras schon in kleinste Teile zerstückelte Herz ein weiteres Mal. Als Kian langsam den Blick hob und sie fast schon den bettelnden Ausdruck in seinen erloschenen Augen sah, der besagte, ihm hier und jetzt das Leben zu nehmen, traf Amira wie ein harter Schlag mitten in die Brust. Mit wackeligen Knien und einem Tod gleichenden Körper, setzte sie langsam einen Schritt nach dem anderen rückwärts, erzeugte immer weiter eine größere Distanz zwischen ihnen, um sich endgültig von ihm zu lösen. Doch er, als auch sie wussten beide, dass ihre jahrelange Liebe ein blutgetränktes Band erschaffen hatte, welcher durch beider ihrer zerstückelten Herzen verlief. Je mehr Amira Schritte nach hinten setzte, desto länger, fester, intensiver wurde diese Verbindung und sie wusste, es gab nur eine Möglichkeit, um dieses Band genau in der Mitte zu zerschneiden. Nur ein Satz, der dies bezwecken konnte.
»Lebe wohl, Kian.«
Amira drehte sich, ihren Schmerz vor ihm verstecken wollend, um, drückte mit der Faust an ihre Brust und biss sich hart auf die Lippen, als sie vor der betäubenden Folter ihres Herzen nach Atem rang. Zeitgleich warf sich Kian nach vorne, landete mit den Händen auf den Boden und stützte sich mit einer Hand ab, doch fasste er sich, wie Amira, in dem Moment auch an die Brust, genau da, wo sein Herz sich befand. Auch er spürte es nämlich, auch er hielt diesen Schmerz kaum aus. Denn auch er wusste es nun. Das Band zwischen ihnen war zerrissen, sie waren getrennt worden und ihre Herzen hatten aufgehört zu schlagen.
Amiras und Kian Barrosos Herzschläge, die Höhen und Tiefen vorwiesen, wurden zu einer Linie. Sie wurden zu einer Signatur ihres Todes, der letzte Punkt einer verlorenen und dennoch unsterblichen Liebe.
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