verflucht
Ich saß allein am Frühstückstisch – Stefano war am frühen Morgen in die Stadt zu einem der Lagerhäuser aufgebrochen – als ich Schreie von draußen hörte. Vielfältige Flüche auf Italienisch. Abrupt setzte ich den Becher mit der heißen Schokolade ab und lief zum Fenster. Der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Zwei Dutzend von Lucius' Leuten sprangen in die bereitstehenden Vans. In schusssichere Westen gekleidet, Waffen in den Händen haltend. Der Don selbst bellte Befehle über das Grundstück, auf dem sich ebenfalls seine Bodyguards postierten. Diese trugen obendrein Schutzhelme und hielten Sturmgewehre fest umklammert. Ich krallte die Finger in die Platte der Küchentheke.
Stefano. Ihm war etwas zugestoßen. Dieses Mal trog mich mein Gefühl nicht. Für einen normalen Einsatz würde Lucius niemals so einen Aufriss machen. Das war keine Übung. Der ganze Körper des Mafiabosses bebte, wie unter großer Anstrengung. Als ob er meinen Blick bemerkte, drehte er sich zum Fenster um. Sein Gesicht zu einer eisigen Maske erstarrt, musterte er mich kurz. Dann sprang er ebenfalls in einen der Wagen. Ryan, dem er noch etwas zugerufen hatte, sprintete zum Haus. Er entschwand meinem Blickfeld, nur um gleich darauf in der Küche aufzutauchen.
„Komm, Sarah, ich bringe dich in den Bunker. Dort bist du in Sicherheit." Widerstandslos ließ ich mich von dem Mafioso quer durch die Villa führen. Hinter einer unscheinbaren Tür zog er eine Falltür auf, die in einen Keller führte. Ich schluckte, leckte mir nervös über die Lippen. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und versuchte, Ryans Griff zu entkommen. Der Mann drehte sich stirnrunzelnd zu mir um. Er verstand meine stille Weigerung nicht.
„Ich will da nicht runter." Tränen traten mir in die Augen. Ich zerrte panischer, damit er mich endlich losließ. Schweiß rann mir eiskalt den Nacken herab. Ein leises Wimmern erklang.
„Sarah, beruhige dich", redete er auf mich im sanften Tonfall ein. Gleichzeitig zog er mich an seine Brust und streichelte mir über den Rücken. „Das hier ist nur ein Gang zum Schutzraum. Er führt nicht in den Keller, den du kennst. Ganz ruhig, Kleines." Er wiegte mich behutsam einen Augenblick hin und her, dann versuchte er erneut, mich die Treppe hinunter zu führen. Dieses Mal folgte ich. In meinem Bauch rumorte es. Ich schluckte die aufsteigende Übelkeit runter. Vertrauen, selbst wenn es mir im Moment schwerfiel. Ryan wusste besser als ich, in welcher Gefahr wir schwebten.
Der Mafioso öffnete eine weitere Tür, führte mich in einen geräumigen Aufenthaltsraum mit mehreren Etagenbetten, zwei Tischen und einer Vielzahl an Stühlen. An den Wänden waren Regale für die vielfältigen Waffen angebracht. Ich riss mich von Ryan los, eilte zielstrebig auf die Pistolen zu, die in ihren Holstern fein säuberlich nebeneinander hingen. Ich schnallte mir eins um, kontrollierte dann, ob die Schusswaffe geladen war. Meine Finger zitterten, als ich mir eine Packung Munition nahm.
„Essen und Wasser findest du dort in der Ecke." Ich schaute auf, folgte Ryans ausgestrecktem Arm mit meinem Blick und nickte. Mehrere Wasserkanister und ein Regal, auf dem sich unterschiedliche haltbare Nahrungsmittel türmten. Energieriegel, Nüsse, Packungen mit Vollkornkeksen. Des Weiteren entdeckte ich einige Salamis. Ich zog eine Grimasse und lief zu einem der Tische. Hoffentlich brauchte ich hier nicht zu lange auszuhalten und kehrten die Männer bald zurück.
Stefano!
Abrupt drehte ich mich zu Ryan um. „Weißt du, was mit Stefano ist?" Meine Stimme bebte und meine Beine gaben unter mir nach. Ich ließ mich auf einen der Stühle sacken, stützte mich an der Tischplatte ab.
Der Mafioso wich meinem fragenden Blick aus. „Ich weiß es nicht", erwiderte er schließlich leise. „Wir bekamen einen Anruf, dass er und unsere Crew bei einem der Lagerhäuser unter Beschuss lagen. Lass uns hoffen, dass der Boss dort rechtzeitig eintrifft. Mehr können wir von hier aus nicht tun." Er wandte sich zum Gehen, hielt bei der Tür noch einmal inne. „In der hintersten Ecke gibt es noch einen zweiten Ausgang. Er führt hoch zur Familiengruft. Sollten Angreifer wider aller Erwartung in die Villa vordringen, kannst du dich auch dorthin zurückziehen."
„Glaubst du, dass es so weit kommen wird?" Ich zog erneut die Waffe aus dem Holster und prüfte, wie sie in der Hand lag.
„Keine Ahnung. Lucius hat uns noch nie den Befehl gegeben, das Anwesen so zu sichern. Kann sein, dass er es nur deinetwegen veranlasst hat. Ich muss jetzt wirklich wieder hoch." Er zog die Schutztür hinter sich ins Schloss und ließ mich mit meinen Gedanken allein. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Würden die Italiener wohlbehalten zurückkehren? Was war mit meinem Freund? War er verletzt? Tot?
Erneut strömten mir Tränen über die Wangen. Was würde ich tun, wenn Stefano durch diesen Angriff umkam? Bei Lucius bleiben? Flog ich doch heim nach Deutschland? Ich zuckte hilflos mit den Achseln. Die Welt verschwamm vor meinen Augen. Ich schluchzte leise und wiegte mich auf dem Stuhl hin und her. Meine Hände zitterten so sehr, dass mir fast die Pistole entglitt. Panisch umklammerte ich ihren Griff. Die prekäre Lage, in der ich mich befand, wurde mir immer bewusster. Mein Blick huschte unruhig durch den Raum. Drangen die Feinde hier ein, saß ich in der Falle. Sollte ich vielleicht doch lieber zur Gruft weitergehen, mich dort zwischen den Ruhestätten der vor langer Zeit Verstorbenen verstecken?
„Nur nicht den Kopf verlieren", murmelte ich und wischte mir über das Gesicht. Es stand nicht fest, dass die Mistkerle, die Stefano beim Lagerhaus hinterrücks angegriffen hatten, auch hier auftauchen würden. Ich atmete tief durch, besann mich auf Michaels Entspannungsübungen. In Panik zu verfallen, würde es mir nur erschweren, mich im Notfall zu verteidigen. Die darauffolgende Zeit lauschte ich auf Geräusche, die verdächtig klangen.
Nichts.
Als jemand nach einigen Stunden die Tür öffnete und eintrat, starrte derjenige in den Lauf einer Waffe. Schnell ließ ich sie sinken und sprang von meinem Platz auf. „Wo ist Stefano?", bestürmte ich den erschöpft aussehenden Don, dessen Kleidung von Blut durchtränkt war.
„Beruhige dich, Sarah." Er hielt mich an den Armen fest, als ich an ihm vorbeirennen wollte. „Er liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation." Lucius zog mich an seine Brust.
Trotz des intensiven metallischen Geruchs kuschelte ich mich an und ließ zu, dass er mich hochhob und zurück in die Villa trug. Stefano war verletzt, womöglich lebensgefährlich. „Wird er es schaffen?"
„Ich weiß es nicht?" Der Italiener schluckte schwer. „Manchmal glaube ich, dass meine Familie verflucht ist."
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