Papierkram
„Folgst du mir bitte in mein Büro, Sarah?" Trotz des höflichen Tonfalls verursachte mir Lucius' Bitte eine Gänsehaut. Was wollte er so Dringendes von mir, dass er nicht auf die Rückkehr seines Bruders warten konnte? Stefano war nach dem gemeinsamen Frühstück in die Stadt aufgebrochen und bis jetzt – Stand früher Nachmittag – nicht zurückgekehrt. Kalter Schweiß brach mir aus. War ihm etwas zugestoßen? Wollte Lucius deswegen mit mir reden? Ich schloss hastig zu ihm auf und packte den Italiener am Arm. „Ist Stefano etwas passiert?", fragte ich, meine Stimme eine Oktave höher als sonst. Meine Finger zitterten unkontrolliert.
Lucius zog verwirrt eine Augenbraue hoch, dann nahm sanft meine Hand zwischen seine riesigen Pranken. „Entspann dich, Sarah. Es ist ihm nichts zugestoßen." Er stieß die Tür zu seinem Büro auf und führte mich hinein. „Es gefällt mir zwar, dass du dich um meinen kleinen Bruder sorgst, aber deswegen wollte ich nicht sprechen. Bitte setz dich doch." Er wies auf die Sitzecke, nicht auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch, auf dessen Platte ein kolossaler Papierstapel auf ihn wartete.
„Hast du überhaupt Zeit für mich?" Skeptisch sah ich zu den Dokumenten. Kein Wunder, dass er sich so viel in sein Büro zurückzog, bei der Menge an Arbeit, die er zu erledigen hatte. Da verstand ich auch, weshalb er so oft mürrisch war.
„Für dich mache ich Zeit." Er lief zum Schreibtisch und holte etwas aus einer Schublade. Dann setzte er sich mit ein wenig Abstand zu mir hin. „Wie fange ich am besten an?" Er seufzte leise und hielt mir den Gegenstand hin. „Vielleicht erst einmal damit."
Ich schnappte nach Atem, schaute den Italiener ungläubig an. Er gab mir freiwillig meinen Reisepass zurück? Womit hatte ich das verdient? Gab es einen Haken?
„Nun nimm ihn schon." Da ich nicht reagierte, legte er den Pass auf meinen Schoß. „Das wäre erledigt. Was als nächstes?" Er lehnte sich an die Sofalehne und verschränkte die Finger. „Wir hatten nicht gerade den besten Start und das ist zum Großteil mein Fehler. Zu einem gewissen Anteil deiner, weil du Mandy bei der Flucht geholfen hast. Allerdings verstehe ich auch, dass sie dich nur benutzt hat."
Mandy, diese treulose Tomate. „Ich verstehe nicht, wieso ich so auf sie fixiert war", murmelte ich. Die gemeinsame Zeit in Deutschland schien Ewigkeiten her zu sein. „Ich hätte sie hier versauern lassen sollen."
„Das sehe ich anders." Überrascht wandte ich ihm das Gesicht zu. „Nun schau mich nicht so an. Ich war so in sie verliebt, dass ich sämtliche Warnzeichen übersehen habe, beziehungsweise nicht sehen wollte. Außerdem hätten wir dich nicht in unsere Familie aufnehmen können, wenn du dich mir nicht in den Weg geworfen hättest."
Nach der Hälfte seiner Worte begannen meine Wangen bereits zu brennen. Ich senkte den Blick, damit er mir die Verlegenheit nicht ansah. Dämliche Idee, denn es war für ihn offensichtlich, wie sehr er mich aus der Fassung brachte. Nach einigen Minuten fing ich mich wieder. „Du gibst mir meinen Pass zurück, obwohl ich Mandy geholfen habe?"
Lucius schmunzelte. „Ich gehe nicht davon aus, dass du bei der nächstbesten Gelegenheit wegläufst. Dazu hattest du in Ginas Obhut weitaus bessere Möglichkeiten. Außerdem möchte ich dir damit zeigen, dass es mir leidtut." Er seufzte schwer, starrte einen Moment auf seine gefalteten Hände. „Wieder gutmachen kann ich meine Fehler nicht, aber ich hoffe, dass du mir eines Tages doch verzeihen kannst, da du bei uns bleiben wirst."
Jetzt zog ich eine Augenbraue hoch. „Bist du dir sicher, dass ich nach den sechs Monaten bleiben werde?"
„Bin ich. So wie du meinen Bruder anschaust, oder eben gefürchtet hast, dass ihm etwas zugestoßen ist – das sagt mehr als tausend Worte." Er stand auf und lief zu seinem Schreibtisch. „Wenn du möchtest, kannst du gern hierbleiben, bis er aus der Stadt zurückkehrt. Auf mich wartet leider der Papierkram."
„Kann ich dir bei irgendwas helfen?" Ich folgte ihm, den Reisepass fest umklammert, und setzte mich auf einen der Stühle. Stirnrunzelnd ließ ich den Blick über die Schreibfläche gleiten. Papiere, dicke Umschläge, hochwertige Dokumentenmappen aus schwarzem Leder, wohin das Auge blickte. Dazu ein Computer mit zwei Bildschirmen. Ein kleiner Gegenstand bei der Tastatur weckte mein Interesse. Eine Schmuckschachtel, die bis auf ein dickes Kissen mit einem Spalt in der Mitte leer war. Der Ring, der dort hineingehörte, fehlte. Eine böse Ahnung befiel mich.
Lucius bemerkte mein Starren. „Der Ehering meiner Großmutter. Ich hatte ihn Mandy als Zeichen meiner Liebe und um unsere Verlobung zu besiegeln angesteckt. Noch so ein Missgeschick der jüngsten Zeit." Er schloss die Augen. Die Enttäuschung über ihr Verhalten und seine eigene Dummheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ein Fehler, den er nicht mehr ausbügeln konnte.
Ich tippte mich ans Kinn. Hatte Mandy das Schmuckstück etwa mitgenommen? Ich zog die Nase kraus und überlegte. An ihren Fingern hatte kein Ring gesteckt, als ich sie bei dem Häuschen abholte. Aber das hatte nicht unbedingt etwas zu sagen. Wenn wir früher zum Stadtbummel durch Hamburg liefen, hatten Juweliergeschäfte sie magisch angezogen. „Lass mich raten. Er ist aus hochwertigem Gold mit Diamanten." Solche Ringe hatte sie besonders angehimmelt.
„Korrekt. Seit ihrem Verschwinden fehlt er ebenfalls. Ich wollte ihn Stefano für dich geben, denn selbst werde ich wohl nie die richtige Frau finden." Er zuckte mit den Achseln. „Aber das können wir wohl vergessen. Wenn sie ihn mitgenommen hat, ist er wahrscheinlich längst in einem Pfandhaus gelandet. Es wäre zu mühselig, Nachforschungen anzustellen." Davon war ich nicht überzeugt, doch das verschwieg ich ihm. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich auf das Schriftstück, das vor ihm lag. Eine Weile schaute ich zu, wie er völlig vertieft seiner Arbeit nachging. Um ihn nicht zu stören, verhielt ich mich mucksmäuschenstill. Der Don fing an, mir zu vertrauen. Das konnte ich zu meinem Vorteil nutzen.
Mein Blick fiel auf den Reisepass. Mir kam eine Idee. Mit der richtigen Taktik würde ich Stefano schon überreden, mich nach Hamburg reisen zu lassen. Immerhin gab es dort für mich noch genügend zu erledigen, wenn er wollte, dass ich bei ihm in San Francisco blieb. Unter dem Vorwand, dass ich mich vor Ort von der Universität abmelden musste und meine Wohnung räumen wollte, würde er mich ziehen lassen. Mein Konto konnte ich ebenfalls leerräumen. Lucius durfte nur nicht erfahren, was ich in Wirklichkeit vorhatte. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Mir standen endlich wieder alle Möglichkeiten offen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
*****
Na, was für einen Plan legt Sarah sich jetzt zurecht? Die heckt doch sicher etwas aus.
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