Gräueltaten


Gina gefiel mir immer besser. Ihre lockere Art täuschte jeden, der sie nicht kannte, darüber hinweg, dass sie bereits als Kind Furchtbares durchgemacht hatte. Je mehr sie über ihre Kindheit und die Erziehung bei dem Psychopathen – ein anderer Begriff fiel mir für den Mann, der ihre Eltern kaltblütig umgebracht hatte, nicht ein – desto größer wurde mein Respekt. Vor ihr und dem, was sie alles auf die Beine gestellt hatte, um ihre Familie zu beschützen. Jetzt verstand ich auch, was sie mit Michael verband. Ein wenig war ich schon neidisch, dass sie in ihm eine Art Bruder gefunden hatte. Einen, der alles in seiner Macht Mögliche tat, um sie vor jeglichen Gefahren zu schützen. Als sie schließlich davon erzählte, wie sie hier vom Anwesen geflohen und danach mit einer älteren Dame nach Las Vegas gereist war, beobachtete ich schmunzelnd Lucius und Massimo. Letzterer schüttelte nur grinsend den Kopf, als Gina die Geschichte zum Besten gab, und konzentrierte sich wieder auf sein Essen.

Lucius schnaubte dagegen wie ein aufgebrachter Stier. „Es war zu deiner Sicherheit, Gina. Deine Vorliebe für Alleingänge hat dich in Vegas fast das Leben gekostet."

„Hat es aber nicht." Sie zuckte nonchalant mit den Schultern. „Wie wäre es, wenn Sarah uns jetzt erzählt, wie sie hier gelandet ist?" Die Besucher richteten ihre Blicke erwartungsvoll auf mich.

„Ich halte das für keine gute Idee", wehrte der Mafiaboss sogleich ab. Warnend sah er zu mir. Ich verstand die unausgesprochene Drohung, die in der Luft über mir schwebte wie das sagenhafte Schwert des Damokles. Ein falsches Wort und ich würde erneut angekettet im Keller landen. Brav hielt ich den Mund und stocherte auf meinem Teller herum.

„Lass dich nicht von dem alten Griesgram einschüchtern. Wenn er dir etwas antun will, muss er erst an mir vorbei." Gina tätschelte Lucius den Oberarm. „Und mit mir legst du dich nicht an, nicht wahr, sacco di lardo?"

Ich runzelte die Stirn. Wie hatte sie ihn da genannt? Freundlich klang es nicht gerade. Ich sollte wohl mal meine Anstrengungen, Italienisch zu lernen, erhöhen. Denn vorläufig kam ich hier nicht weg und eine weitere Fremdsprache könnte sich später noch als nützlich erweisen.

„Ich würde auch gern Genaueres darüber erfahren, wie es meine Prinzessin zu uns verschlagen hast. Beziehungsweise, wie du auf die Idee kamst, sie ..." Stefano brach ab, wies stattdessen einladend auf seinen Schoß, um mir zu zeigen, dass ich abermals bei ihm Schutz suchen konnte, falls ich es wünschte. Dieses Mal ging ich nicht auf das Angebot ein, sondern nahm Blickkontakt zu dem Mann am Tisch auf, der mich am wenigsten zu bewerten schien. Michael ließ mich nicht aus den Augen, nickte mir immer mal wieder zwischendurch aufmunternd zu, als ich die Dinge erzählte, die ich zuvor in den Gesprächen mit den Gästen verschwiegen hatte. Die Zelle im Keller und meine Angst, dort zu sterben. Wie der Mafiaboss mich dort unten behandelt hatte. Mein Fluchtversuch, bei dem ich ausgerechnet einem der Mafiosi in die Arme gelaufen war und ihn um Hilfe gebeten hatte. Die Strafe, die ich dafür von Lucius bekam.

„Vaffanculo!" Gina, deren Miene einen immer grimmigeren Ausdruck angenommen hatte, während ich berichtete, sprang von ihrem Stuhl auf und hechtete auf den Don zu. Dieser brachte sich sogleich mit einigen Sätzen in Sicherheit vor ihr. Den Tisch zwischen ihnen als natürliches Hindernis nutzend, schaute er sie einen Augenblick misstrauisch an.

„Ich kann es erklären." Beschwichtigend hob er die Hände. Es erinnerte mich an die Haltung von Priestern, die sich in Horrorfilmen bösartige Entitäten vom Leib halten wollten, und ich erlaubte mir ein Schmunzeln. Lucius passte eh nicht auf, um mich dafür zu tadeln. Er schien nach einer Erklärung zu suchen, setzte schließlich halb stammelnd zu einer an.

„Was willst du mir erklären?", unterbrach sie ihn. „Dass du diese Gräueltaten für gerechtfertigt hältst? Hast du nichts davon gelernt, dass du Emma komplett verschreckt hast? Oder davon, dass dir jetzt wieder eine Verlobte davongelaufen ist?" Bei der Erwähnung von Emma sah ich kurz, wie er das Gesicht verzog. Sollte ich mal Stefano nach ihr fragen? Je mehr ich über den Don erfuhr, desto besser konnte ich etwaigen Fettnäpfchen aus dem Weg gehen.

Ein Krachen lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf die Anwesenden. Ein Stuhl lag umgekippt auf dem Boden, Lucius und Gina waren verschwunden. Ich runzelte die Stirn. War die Italienerin über den Tisch gesprungen und hatte der Mafiaboss Reißaus genommen? Es war die einzige Erklärung, die mir dafür einfiel.

„Versohlt sie ihm den Hintern oder jagt sie ihm eine Kugel in Selbigen?" Massimo packte einen Geldschein auf den Tisch.

„Blaues Auge und geprellte Rippen, so wie ich sie kenne", hielt Michael dagegen. Er und der Don aus Chicago schauten Stefano erwartungsvoll an.

„Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, dass ich mit euch eine Wette abschließe, oder? Wir wissen alle, dass er Gina nicht gewachsen ist." Er stand auf, stellte sich hinter mich. Seine Finger streiften meine Schultern, als er seine Hände auf der Stuhllehne abstützte. Ein Kribbeln verbreitete sich in meinem Körper. Nicht unangenehm. Wenn ich ehrlich war, sehnte ich mich danach, dass er mich abermals berührte. Die dazugehörige Erkenntnis gefiel mir nicht. Es waren zwar keine sechs Monate mehr, aber ich gewöhnte mich zu schnell an den freundlichen Italiener. Wie die Motte zum Licht zog es mich zu ihm.

„Dir wird es auch nicht gut ergehen, wenn Sina mit deinem Bruder fertig ist", gab Michael zu bedenken, während er mich entspannt betrachtete. Bemerkte er meine innere Zerrissenheit? Ich atmete tief durch, zwang mich zur Ruhe. Seine Mundwinkel zuckten kurz. „Sie wird nicht glauben, dass du völlig unschuldig an Sarahs momentaner Verfassung bist." Hörte ich da einen Unterton heraus? Worauf spielte er an? Ich fürchtete nur Lucius, wegen der Dinge, die er getan hatte, doch nicht seinen Bruder. Ich legte den Kopf schief und musterte den Indianer. Seine dunklen Augen hatten etwas Beruhigendes. Ich lehnte mich zurück, berührte dabei unerwartet Stefanos Hände. Statt sie wegzuziehen, verlagerte er sie nun doch auf meine Schultern. Mit den Daumen streichelte er über meinen Hals. Erneut spürte ich ein leichtes Kribbeln. Diesmal ließ ich es zu. Es war zwecklos, gegen das Gefühl anzukämpfen, wenn es genau das war, wonach ich mich sehnte.

Die Gräueltaten des Dons verblassten angesichts der Wärme und der Sicherheit, die Stefano mir bot.

*****

Na, möchtet Ihr da bei der Wette von Michael und Massimo mitmachen?

Habt Ihr Ginas Reaktion erwartet?

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