Einstellung


Nachdenklich beobachtete ich Fernanda, die teilnahmslos aus dem Fenster starrte. Die Rückkehr zum Flughafen, der neuerliche Flug und das Ungewisse, in das uns der überstürzte Aufbruch gestürzt hatte, setzte ihr noch mehr zu als mir.

Ich rollte mich auf dem Sofa der Villa ein und ließ meine Gedanken zu Stefano wandern. Ging es ihm gut? War er unverletzt? Wie sah es mit Lucius und den Männern aus? Hatten sie den Angriff abgewehrt. Gab es Verletzte? Vielleicht sogar Tote?

„Wir haben euch etwas zu essen mitgebracht." Maria und Inès, zwei Frauen der spanischstämmigen Tempestuoso liefen mit Tabletts ins Wohnzimmer und stellten sie auf dem Tisch vor uns ab.

Abrupt setzte ich mich auf. „Gracias." Ich bediente mich an den köstlich aussehenden Tapas. Die hiesige Mafia hatte sich sofort bereiterklärt, uns zu helfen. In Windeseile hatten sie Ginas Villa in Las Vegas vorbereitet, damit wir dort in Ruhe unterkommen konnten. Die Frauen sorgten für das Essen, während einige der spanischen Bodyguards draußen ihre Runden zogen. José und Juan, die ich damals in Hamburg kennengelernt hatte, waren ebenfalls dabei. Vielleicht ergab sich später ein Moment, um in Ruhe ein wenig zu quatschen.

„Ich verstehe nicht, wie du unter diesen Umständen etwas essen kannst", brummte Fernanda, ohne sich zu mir umzudrehen. Eher schien sie sich noch kleiner zu machen, als sie ohnehin schon war.

Ich nahm es ihr nicht übel, sondern verstand sie sehr gut. Nach dem Einsatz, bei dem Stefano verletzt und wegen dem ich im Schutzkeller allein eingesperrt wurde, war es mir ähnlich ergangen. Fiel es mir dieses Mal leichter, weil ich mich in einer angenehmen Umgebung aufhielt? Oder hatte ich durch die andauernde Angst um meinen Verlobten gelernt, besser mit Stresssituationen umzugehen?

„Du solltest ebenfalls etwas essen", ermunterte Inès Fernanda. Die Spanierin war sehr herzlich und zuvorkommend zu uns. Maria hielt sich eher abseitig, linste immer mal wieder aus dem Fenster. Wie Gina war sie mit Waffen aufgewachsen und scheute nicht davor, sie einzusetzen.

Es wunderte mich nicht, dass die Italienerin die beiden in der familienübergreifenden Einsatzgruppe aufgenommen hatte. Jede Frau, die Ilimitada angehörte, verfügte über bestimmte Fähigkeiten. Dass es sich dabei nicht zwangsläufig um Schießkünste handeln musste, hatte ich während meines Aufenthaltes in Philadelphia gelernt. Ginas Cousine kümmerte sich um die Finanzen, ihre Schwägerin dagegen um nützliche Gadgets. Massimo hatte Leute beigesteuert, genauso wie die Tempestuoso. Nur Lucius hatte nicht sonderlich begeistert auf die Aussicht reagiert, mir die Teilnahme an illegalen Aktivitäten zu erlauben. Bei Fernanda sah es noch düsterer aus. Allerdings hatte sie als Ärztin eh andere Aufgaben. Schon allein, weil sie über keine Kampferfahrung verfügte. Wie sie ihre brasilianische Heimatstadt überlebt hatte, war mir ein Rätsel.

Kämpfen, das geeignete Stichwort. Ich schluckte das Hackfleischbällchen, das ich mir gerade geschnappt hatte runter und wandte mich der Brasilianerin zu. „An deiner Stelle würde ich wirklich etwas essen, denn Maria hat bestimmt schon von Gina einen Trainingsplan erhalten, um uns einerseits abzulenken und andererseits in Form zu bringen." Ich zwinkerte der Spanierin zu.

Maria grinste breit und nickte. „Richtig. Als erstes werden wir an eurer Kondition arbeiten. Wenn ihr dann in ein paar Wochen von euren Männern den Jet bekommt, um nach Philadelphia zu fliegen, bringt Gina euch den Rest bei." Sie lief nonchalant auf uns zu und blieb vor mir stehen. „Wenn ich korrekt informiert bin, hat sie dir schon einiges gezeigt. Daher werde ich nach dem Essen gegen dich kämpfen, um Fernanda einen Eindruck von den Kampftechniken zu vermitteln."

Scheiße. Ich versuchte, mir meinen Schrecken nicht ansehen zu lassen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Dabei hätte es mir bewusst sein müssen, dass Maria die Chance nutzen und meine Kenntnisse austesten würde. „Dir ist klar, dass ich in der kurzen Zeit bei ihr bei weitem nicht so viel gelernt habe wie du seit deiner Kindheit."

Sie nickte erneut. „Genau deswegen bist du die richtige Gegnerin. Weil du wenig Erfahrung hast. Aber esst jetzt beide. Das Training hat noch etwas Zeit." Sie verließ das Wohnzimmer. Ich vermutete, um sich umzuziehen.

„In was für eine Scheiße hast du uns da geritten?", zischte Fernanda.

„In erster Linie stecke ich wohl drin." Ich packte ein weiteres Hackbällchen und stopfte es meiner Leidensgenossin in den Mund, als sie ihn erneut öffnete. „Iss jetzt. Die Energie wirst du benötigen." Wenn ich nur daran dachte, wie Gina mich gescheucht hatte, bekam ich schon Muskelkater.

Zusammen verputzten wir die gesamten Tapas. Erst die herzhaften, dann die süßen Leckereien. Ich hatte das Gefühl, dass man mich rollen konnte.

„Überfressen?", raunte Maria mir ins Ohr.

Ich bemühte mich krampfhaft, nicht zusammenzuzucken, doch es misslang. Grummelnd drehte ich mich zu der amüsiert grinsenden Spanierin um. Zu meiner Überraschung trug sie noch normale Kleidung.

Sie warf einen Blick zu Fernanda, die von Inès in ein Gespräch verstrickt wurde, und steckte mir dann einen Zettel zu. „Wir machen uns einen ruhigen Abend. Das Training ist auf morgen verschoben."

Das bedeutete, dass wir auf jeden Fall länger hier festsaßen. Unauffällig faltete ich das Papier auseinander und las die Nachricht.

Angreifer haben ein Loch in die Mauer des Anwesens gesprengt. Es gab Verletzte, aber bisher keine Toten. Der Angriff konnte vorerst abgewehrt werden. Die Bandenmitglieder haben nicht damit gerechnet, dass so viel Männer vor Ort sein würden. Lucius und Stefano wollen erst die Lage peilen und einen Gegenangriff unternehmen. Notfalls mit Unterstützung von Gina und den anderen Familien. Behalte die Info vorläufig für dich.

Tja, Lucius hatte darauf bestanden, dass seine Leute wachsam blieben, als wir in den Urlaub flogen. Es wurmte ihn da schon, dass er die Latinos, die für Stefanos Verletzung verantwortlich waren, nicht komplett hatte ausschalten können. Ja, er hatte viele Gegner bei den Aufräumarbeiten erwischt, aber immer wieder betont, dass es nicht die Drahtzieher sein könnten. Hatte er doch Recht behalten.

Ich steckte den Zettel ein und machte mich auf dem Sofa breit. Fernanda unterhielt sich noch, schien von der Nachricht nichts mitbekommen zu haben. Ich atmete tief durch und rief mir die Entspannungstechniken ins Gedächtnis, die Michael mir beigebracht hatte. Die würde ich in nächster Zeit auf jeden Fall benötigen. Mein Verlobter schwebte abermals in Gefahr und ich saß hier doof herum. Das würde mir so einiges abverlangen.

Ich runzelte die Stirn. Wie besonnen ich an die Sache heranging. Meine Einstellung hatte sich wirklich grundlegend geändert, seitdem ich bei dieser verrückten Mafiafamilie gelandet war. Vielleicht gar nicht mal so schlecht, dass mich nicht mehr jede Kleinigkeit aus dem Konzept brachte. Denn stahlharte Nerven würde ich mit den Italienern noch öfters brauchen.

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