Kapitel Siebzehn: Abstand

F A I T H

Immer wieder sehe ich mir die Rechnung an, jedoch kann ich mich keine Sekunde konzentrieren. Die Zahlen tanzen vor meinen Augen, bilden ein anderes Bild, welches mich tief aufseufzen lässt. Wieso muss er mir die ganze Zeit im Kopf herumspuken? Kann er mich nicht einen Tag in Ruhe lassen? Irgendwie erinnert mich die Szene an das Sommerfest. Auch da wollte mein Kopf nicht das tun, was er eigentlich tun sollte. Er hat sich der Arbeit verweigert, um über einen Menschen nachzudenken.

Genau wie jetzt auch.

Nach unserem Gespräch habe ich meine Sachen gepackt und bin aus der Wohnung geflüchtet. Heath war noch immer im Badezimmer, jedoch konnte ich ihm nicht länger unter die Augen treten. Es ist meine Schuld, weswegen er sich dort eingesperrt hat. Nur durch meine Neugier habe ich ihn in die Vergangenheit zurückreisen lassen, sodass er noch mehr leiden musste als sonst schon. Ich hätte es aber wissen müssen. Die Anzeichen sind mir nicht entgangen und trotzdem habe ich nicht klein beigegeben.

Ich bin ein solcher Egoist.

»So eine verdammte Scheiße!«, schreie ich auf und würde mich am liebsten selbst ohrfeigen.

Nach dieser Aktion hätte ich es verdient. Als wäre das nicht genug, haben sich neue Gedanken in meinem Kopf eingenistet, die nicht wieder verschwinden wollen. Wenn das so weitergeht, drehe ich bald durch. Ich weiß gerade echt nicht, wohin mir.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, wiederhole ich immer wieder.

Mit einem Ruck liegt alles auf dem Boden. Meine Hände fahren über mein Gesicht, während ich die Augen geschlossen halte und tief aufatme. Mit großer Mühe versuche ich, die Tränen zu unterdrücken. Ich darf auf keinen Fall weinen, auch wenn es in diesem Moment eher wütende Tränen wären. In diesem Augenblick bin ich allein und doch will ich kein Risiko eingehen, dass mich jemand so zu Gesicht bekommt. Nicht schon wieder.

Ich muss hier raus.

Ruckartig schnappe ich mir meine Tasche und flüchte aus dem Büro. Hails steht gerade am Tresen und sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Ich gebe ihr nicht mal die Möglichkeit etwas zu sagen, da bin ich schon raus aus dem Café.

Sie weiß nicht mal, was genau in meinem Leben vor sich geht. Klar, sie kennt die Story über die Hochzeit, aber das war es auch schon. Jedoch ist es besser so, da sie sich erst auf sich selbst konzentrieren soll, bevor sie sich meine Probleme anhört. Zudem weiß ich gar nicht, was ich ihr erzählen darf. Heath will bestimmt nicht, dass Hails von Rachel erfährt. Zumindest jetzt noch nicht.

Außerdem ist mein bester Freund für mich da, der mir in dieser Zeit besser beistehen kann als sie. So hart wie sich das gerade anhört. Aber Hunter kennt uns beide, weswegen er alles bestens versteht. Auch wenn er uns am liebsten den Kopf abreißen will.

Hektisch durchsuche ich meine Tasche, wühle in ihr, bis ich endlich mein Smartphone in die Hände bekomme. Ich muss Hunter anrufen, da mir sonst der Kopf explodieren wird. Er kennt meinen Ehemann am besten und nach diesem Gespräch muss ich mit jemanden darüber reden. So leid es mir für Hails tut, er ist derjenige, den ich im Moment brauche.

»Hey Faith«, begrüßt er mich mit seiner melodischen Stimme. Hunter klingt glücklich, weshalb sich mein schlechtes Gewissen meldet, da sich seine Laune bald verschlechtern wird. Und das nur meinetwegen.

»Hunter, wo bist du?«, komme ich direkt auf den Punkt.

Im Gegensatz zu seiner Stimme, höre ich mich schrill an, fast schon hysterisch. »Was ist los? Ich bin zu Hause. Brauchst du Hilfe?«

Erleichtert atme ich auf. Erst jetzt ist es mir in den Sinn gekommen, dass er in der Werkstatt hätte sein können.

»Bist du allein?«, hake ich weiter nach, ohne auf seine Fragen einzugehen. Er wird es noch früh genug erfahren.

»Ja, bin ich. Jetzt sag endlich was los ist?«, fordert er mich auf. Die Sorge kann ich heraushören und irgendwie tut er mir jetzt schon leid, dass ich ihn wieder in die Sache mithineinziehe. Aber ich weiß nicht weiter und hoffe, er kann mir bei meinem Gefühlschaos weiterhelfen.

»Ich bin in zehn Minuten bei dir. Ich muss mit jemanden reden und ich brauche dich, Hunter.«

Das Zittern in meiner Stimme nimmt immer mehr zu, trägt sich sogar auf meine Hand aus, mit der ich das Handy halte. Abgehackt atme ich ein, versuche mich zu beruhigen, jedoch steigere ich mich mit jeder Sekunde mehr in die ganze Sache rein. In einem solchen Zustand kann ich nicht mit dem Auto dahin, weswegen ich loslaufe. Ein Glück, dass er gleich in der Nähe wohnt. »Okay, dann bis gleich.«

Ohne eine Verabschiedung kappe ich die Verbindung. Er wird mich gleich sehen und mir den Arsch aufreißen, aber ich weiß im Moment keinen anderen Weg. Vielleicht ist es besser so. In den letzten Tagen habe ich mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen und aus jedem Winkel die Sache betrachtet, sodass ich immer zum selben Schluss gekommen bin.

Ich nehme die Umgebung nicht wahr, laufe einfach weiter und versuche dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Auch wenn sich meine liebste Jahreszeit ankündigt, kann ich diesen Anblick keine Sekunde genießen. Meine Schritte werden schneller. Ich hoffe, dass mein bester Freund mir helfen kann, denn sonst drehe ich wirklich noch durch. Vielleicht ist mein Verhalten übertrieben, jedoch hallt immer der gleiche Gedanke in meinem Verstand wider.

Außer Atem hebe ich meine Hand, um an die Tür zu klopfen, als sie ruckartig geöffnet wird. Hunter sieht mich mit geweiteten Augen an, scannt meinen gesamten Körper, sodass ich ihn mit gerunzelter Stirn anblicke.

Wieso tastet er mich mit den Händen am ganzen Körper ab? »Bist du verletzt?«

Seine Hände sind überall, drehen mich in alle Richtungen, bis ich mich aus seinem Griff losreiße und ihn kopfschüttelnd ansehe.

»Mir fehlt nichts, Hunter. Nicht körperlich zumindest.«

Erleichtert atmet er tief ein, bevor sich sein Blick schlagartig ändert, weshalb ich meinen gegen den Boden richte.

»Wenn dir körperlich nichts fehlt, was ist es dann?« Seine Augenbraue schießt in die Höhe, nachdem er seine Arme vor der Brust verschränkt. »Was hat Heath dieses Mal angestellt?«

»Nichts«, kommt es schnell aus meinem Mund.

Nicht überzeugt, wandert auch die zweite Augenbraue in die Höhe. »Ach ja?«

Herausfordernd blicke ich ihn mit funkelnden Augen an. Hunter starrt zurück und niemand von uns hat die Absicht nachzugeben. Aber was mache ich mir eigentlich vor? Wenn ich so aufgelöst zu ihm komme, kann es nur einen Grund geben. Ich weiß nicht mal, wieso ich Heath in Schutz nehmen möchte? Na ja, da er eigentlich nichts falsch gemacht hat, sondern dieses Mal ich das Problem bin.

»Er hat mir erzählt, dass Rachel tot ist.«

Hunters Augen werden groß, sein Mund steht offen, jedoch dringt kein Laut über seine Lippen. Fassungslos sieht er mich an, unfähig sich zu bewegen. Es ist, als würde ich in mein eigenes Spiegelbild blicken. Ich habe bestimmt genauso ausgesehen, nachdem Heath mir alles erzählt hat. Immer wieder habe ich mir jegliche Szenarien im Kopf ausgemalt, was ihm passiert sein musste. Was ihm diese Frau angetan haben könnte. Nur bin ich nie davon ausgegangen, dass sie nicht mehr lebt. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Langsam nähere ich mich meinem besten Freund, hebe meine Hand und schließe seinen Mund. »Ich weiß auch, wann sie sich kennengelernt haben. Er hat nicht viel erzählt, aber genug, damit ich mir selbst ein Bild mache.«

»Ich ahne es bereits. Nein, Faith! Egal, was dir versucht dein Verstand einzureden, hör nicht darauf. Aber komm erstmal rein und erzähl mir alles genau.«

Er geht einen Schritt zur Seite, damit ich ins Innere des Hauses eintreten kann. Der Duft von Rosen, Vanille und Zimt durchströmt meine Sinne, sodass ich tief einatme und all die Bilder bestaune, die sich an der Wand gegenüber befinden. Es sind sogar neue dazugekommen. Hails hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Augenblick mit der Kamera festzuhalten und hier zu verewigen. All die Menschen kann ich erblicken, die ihr unfassbar viel bedeuten. Sobald ich ihr Hochzeitsfoto ansehe, zuckt mein Mundwinkel nach oben. Hunter und Hails strahlen um die Wette und sehen unfassbar glücklich aus.

»Ich könnte mir das Foto den ganzen Tag lang ansehen. Aber wir haben anderes zu besprechen. Setz dich ins Wohnzimmer, Faith. Ich hole uns etwas zu trinken«, fordert mich Hunter auf, bevor er in die Küche verschwindet.

Mit schwerem Herzen befolge ich seine Anweisung. Meine Hände sind bereits nass und immer wieder wische ich sie an der Hose ab. Ohne Erfolg. Mit jedem Schritt, den ich mich nähere, hämmert es in meiner Brust, sodass ich das Gefühl habe, es bereits zu hören. Vor noch fünf Minuten war ich entschlossen darüber zu reden, aber jetzt? Jetzt würde ich am liebsten wieder gehen und allein mit meinen blöden Gedanken diesen Kampf ausfechten.

»Willst du nicht mal einen Gang zulegen? Schnecken sind sogar schneller als du, Kampfzwerg.«

Schreiend drehe ich mich um. Meine Hand liegt auf der Brust, meine Augen sind geweitet und mein Körper zittert. Ich war so tief in meinen Gedanken versunken, sodass ich Hunter nicht gehört habe.

»Hast du sie nicht mehr alle? Wie kannst du es wagen, dich so anzuschleichen? Ich hätte einen Herzinfarkt erleiden können.«

Mit tiefen Atemzügen versuche ich mich zu beruhigen, bevor ich ihm an die Gurgel springe. Der ist doch total bescheuert.

»Was kann ich dafür, wenn du so schreckhaft bist? Ich habe dich zweimal gerufen, aber du hast mich nicht wahrgenommen. Setz dich jetzt endlich hin, damit du mir alles erzählen kannst. Ich will wissen, weshalb du so neben der Spur bist. Jedes kleinste Detail, klar?«

Hunter geht an mir vorbei und setzt das Tablet auf dem Tisch ab. Tief atme ich ein, versuche mich auf dieses Gespräch vorzubereiten, jedoch bleibt die Anspannung bestehen. Er wird mich verurteilen, da ich seinen besten Freund damit verletzen werde. Aber ich denke nach wie vor, dass uns das guttun wird. Das hoffe ich zumindest.

Sobald ich ihm gegenüber Platz genommen habe, lehnt er sich zurück und hebt seine Augenbraue in die Höhe. Auffordernd blickt er mich an, nur kann ich mich nicht dazu bewegen etwas zu sagen. Als er bemerkt, dass ich weiterhin stumm bleibe, deutet er mit der Hand an, dass ich endlich meinen Mund aufmachen soll.

»Wir haben letzte Woche geredet. Er hat mir endlich offenbart, dass sich er und Rachel seit der Highschool kennen und dass sie seit sieben Jahren tot ist.«

Laut stößt Hunter die Luft aus seinem Mund und wischt sich die Haare aus dem Gesicht. Seine Augenbrauen sind dieses Mal zusammengezogen, während er nachdenklich aus dem Fenster blickt.

»Aber das ist doch gut, oder etwa nicht? Ihr redet endlich miteinander, also wieso bist du dann so aufgelöst und willst Abstand nehmen?« Ertappt beiße ich mir auf die Lippen. Ich hätte es wissen müssen, dass er mich bereits durchschaut hat. Hunter kann Menschen wie ein offenes Buch lesen, egal wie stark jemand versucht seine Gefühle zu verbergen.

»Ich habe doch recht? Wieso willst du Heath von dir stoßen, wenn er endlich den Mut gefunden hat, um mit dir darüber zu reden?«

Durch den Stich in meiner Brust schließe ich meine Augen. Meine Hände wandern zu der Stelle, wo sich mein Herz befindet und mit jedem Wort, das aus Hunters Mund kommt, wird der Schmerz größer. Ich weiß, dass er recht hat. Ich weiß es und doch habe ich Angst, die ganze Geschichte zu hören.

»Anstatt, dass du für ihn da bist, läufst du lieber weg. Ich hätte mehr von dir erwartet, Faith. Du bist ein Feigling.«

Scharf ziehe ich die Luft ein. Diese Aussage fühlt sich wie ein Schlag ins Gesicht an. »Hunter«, flüstere ich. Ich will, dass er damit aufhört. Er soll mir nicht Dinge aufzählen, die ich bereits weiß. Dinge, die mich noch mehr zerbrechen lassen. Nur hat mein bester Freund nicht vor, es gut sein zu lassen. Im Gegenteil, er setzt noch einen darauf.

»Weißt du, Faith, er hat nicht immer so gehandelt, wie ich es mir gewünscht habe. Er hätte es dir vorher sagen sollen, da stimme ich dir absolut zu. Nur jetzt, wo er das endlich einsieht, flüchtest du. Wovor hast du Angst? Welche Gedanken treiben dich dazu, dich so feige zu verhalten?«

Der Schmerz zerreißt mich und außerdem habe ich das Gefühl, dass mein Kopf gleich explodieren wird. Er soll endlich damit aufhören!

»Weil er sie noch immer liebt!«, brülle ich ihn an.

Mit großen Augen sehe ich zu Hunter, der genauso schockiert ist wie ich. Er öffnet seinen Mund, doch bevor er etwas sagen kann, ertönt eine Stimme, die mir den letzten Stoß verpasst, bevor ich in den Abgrund stürze.

»Ist das euer Ernst?«

Heath steht mit verschränkten Armen vor uns. In seinen Augen tobt ein Sturm der Gefühle. Verrat, Schmerz und eine Menge Wut kann ich darin erkennen.

»Was soll das? Kann mir jemand darauf antworten?«

Wie ist er hereingekommen, ohne dass es jemand von uns bemerkt hat? Verdammt, was mache ich jetzt?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top