Kapitel Sechsundvierzig: Flucht
H E A T H
Vor sechs Monaten
Mit zitternden Händen halte ich meinen Finger an die Klingel. Ich halte ihn länger dort, als ich es sollte und zögere damit nur das unvermeidliche hinaus. Aber irgendwie kann ich nicht draufdrücken, auch wenn ich noch vor einer halben Stunde felsenfest davon überzeugt war, dass ich meinen besten Freund brauche.
Aber wie soll ich ihm erklären, dass ich seinen Kampfzwerg verletzt und allein gelassen habe? Hunter wird mich einen Kopf kürzer machen, sobald er davon erfährt. Nicht umsonst hat er mich genau davor gewarnt. Nur wollte ich nicht darauf hören, auch wenn am Anfang alles auf dieses Ende hingedeutet hat. Ich wollte diese ganzen Warnsignale ignorieren, weil ich dieses Gefühl so unfassbar mag, welches Faith in mir auslöst. Ein Gefühl, das ich lange nicht mehr gespürt habe.
»Verdammte Scheiße!«, fluche ich vor mich hin.
Ich fühle mich mies, ausgelaugt und einfach nur überfordert und schuldig. Außerdem bin ich ein Feigling, weil ich davon gerannt bin, sobald ich die Möglichkeit hatte, die Flucht zu ergreifen. Faith hat eine Erklärung verdient, nur wie sollte ich ihr etwas davon erzählen, ohne zusammenzubrechen? Wie soll ich ihr alles beichten und all diese düsteren Geheimnisse offenbaren, ohne dass sie mich direkt von sich stößt? Das würde nämlich passieren, wenn ich meinen Mund aufmache.
Plötzlich geht das Licht auf der Veranda an, bevor sich die Tür öffnet und eine verschlafene Haylee zum Vorschein kommt. Mit ihrer Hand reibt sie sich den Schlaf aus den Augen, während sie einen Schritt nach draußen kommt.
»Heath?«, kommt es überhaupt nicht überrascht aus ihrem Mund. »Was machst du hier?« Einen Moment später steht sie direkt vor mir und legt ihre Hände auf meine Schulter und drückt sanft zu. Eindringlich blickt sie mich an, sucht etwas in meinem Gesicht und als sie es gefunden hat, schlingt sie ihre Arme um meinen Torso. Fest drückt mich Haylee an sich, während sie ihr Gesicht in meine Halsbeuge legt.
In ihren Augen konnte ich Mitgefühl und Verständnis erkennen, was ich aber nicht ganz verstehe. Verständnis wofür?
»Eigentlich wollte ich zu Hunter. Aber sag mal, wieso bist du wach, Zuckerglöckchen?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Ihr Duft steigt mir in die Nase, sodass ich augenblicklich meine Augen schließe und ebenfalls meine Arme um sie lege. Hails war immer für mich da, auch wenn ich ihr nie ein Wort über meine Gefühle offenbart habe. Es ist aber, als würde sie den Teil verstehen können, der in mir schlummert und immer mal wieder an die Oberfläche gelangen will. Haylee ist jemand, der mich ihrer bloßen Anwesenheit beruhigen kann.
Zwar ist Hunter mein eigentlicher Gesprächspartner für solche Situationen, aber irgendwie tut es mir gerade gut, dass dieses Mal Hails da ist und mich in den Arm nimmt.
»Ich habe mich mit Faith gestritten«, platzt es aus mir heraus, worüber ich schockiert bin. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihr etwas darüber erzählen werde.
»Ich weiß«, erwidert sie nur darauf und streichelt mir über den Rücken. »Faith hat mich angerufen«, fährt sie fort und beantwortet meine Frage, bevor ich sie ihr überhaupt stellen konnte.
Mit einem lauten Seufzer drücke ich mich näher an sie. »Ich habe es verbockt, nicht wahr?«
»Ehrlich gesagt, hat mir Faith kein Wort darüber erzählt. Aber ich kenne meine beste Freundin und sie hat anscheinend vergessen, dass ich sie wie ein Buch lesen kann.«
Langsam löst sie sich von mir, damit sie mir kurz in die Augen blicken kann. Mit einer Handbewegung gibt mir zu verstehen, dass ich ihr folgen soll. Ohne zu zögern, laufe ich ihr schweigend und mit hängenden Schulter hinterher. Zusammen umranden wir ihr kleines Haus, bis wir hinten im Garten ankommen und setzen uns auf die Schaukel, die ihr Hunter zur Hochzeit geschenkt hat.
Die ganze Zeit über spukt mir eine kleine schwarzhaarige Frau im Kopf herum, mit diesen großen Augen, die einen schmerzlichen Ausdruck angenommen haben.
»Du musst mir nichts erzählen, Heath. Ich will nicht, dass du etwas preisgibst, worüber du nicht reden kannst. Aber lass mich dir eines sagen.«
Haylee lächelt mich liebevoll an, nachdem sie nach meiner Hand greift, um unsere Finger miteinander zu verschränken.
»Faith ist keine Frau, die aufgibt, ohne alles zu versuchen, es wieder geradezubiegen. Sie wird dir auf die Nerven gehen, bis du fast durchdrehst. Sie wird für dich da sein, auch wenn du niemanden an dich heranlassen möchtest. Und sie wird einen Weg finden, für immer in deinem Leben bleiben zu können, weil du nicht mehr ohne sie kannst.«
Interessiert und neugierig lausche ich ihren Worten, die nicht besser auf diese Frau zutreffen können. Hails kennt ihre beste Freundin, als wären sie Schwestern und dieser Augenblick zeigt das nochmals sehr deutlich. Mein Mund öffnet sich, jedoch schließe ich ihn sofort wieder, als ich ihren Blick sehe und den Finger, den sie in die Höhe hält.
»Sie ist für die nächsten zwei Wochen nicht da. Ich nehme an, dass sie durch euren Streit verletzt und voller Zweifel ist. Ich habe ihr angeboten wegzufahren, weil ich ihr noch eine Reise schuldig bin und das die perfekte Gelegenheit dafür ist. Lass ihr die Zeit, die sie benötigt, um wieder zu sich selbst zu finden.«
Wie bitte? Faith ist weg? Das kann doch nicht wahr sein! Hat sie ernsthaft erneut die Flucht vor mir ergriffen? Ich weiß, dass unsere Diskussion nicht schön und nett war, aber sie war diejenige, die mich weggeschickt hat. Sie wollte, dass ich meine Wohnung verlasse. Ich hätte morgen mit ihr darüber geredet, hätte versucht ihr meine Gründe zu erklären.
Und jetzt?
Jetzt muss ich ein paar Wochen abwarten und hoffen, dass sie sich wieder blicken lässt, damit wir diese Unstimmigkeit aus der Welt schaffen können.
»Heath! Hör auf damit und verhalte dich nicht wie ein bockiges Kind, das sein Spielzeug verloren hat.« Hails Stimme ist scharf, wie eine Messerklinge und ihr Blick vorwurfsvoll. »Aus irgendeinem Grund wurde es ihr zu viel. Du hast sie mit deinen Worten verletzt und musst jetzt mit den Konsequenzen leben. Außerdem finde ich es gar nicht so schlecht, dass ihr ein wenig Abstand zueinander bekommt. So könnt ihr beide darüber nachdenken, wie es mit euch weitergehen soll.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sehe ich sie an. »Woher weißt du das alles, wenn dir Faith kein Wort darüber gesagt hat?« Meine Neugier ist stärker, als der Drang, auf ihr Gesagtes Widerworte zu geben. Und wenn ich ehrlich bin, hat Haylee recht. Auch wenn mich die Tatsache darüber, dass sie vor mir flüchtet, schmerzt und ich mich von Faith ein wenig verraten fühle.
»Ich habe Augen, Heath, und zwar zwei davon. Ich bin nicht blind und sobald euch beide jemand sieht und für einen kurzen Augenblick beobachtet, erkennt jeder, dass zwischen euch etwas läuft. Ihr müsst mir nichts erzählen, auch wenn ich ein wenig enttäuscht über die Tatsache bin, dass ihr Hunter anstatt mich eingeweiht habt.«
»Er hat dir davon erzählt?«, rufe ich laut aus. Dieser Mistkerl! Ich dachte wirklich, dass er Geheimnisse für sich bewahren kann.
Lächelnd schüttelt Hails den Kopf. »Du kennst ihn. Es gibt keinen Menschen, der loyaler ist als Hunter. Nur habt ihr auch hier ein kleines Detail vergessen. Ihm fällt es schwer, etwas vor mir zu verbergen. Vor allem nach der Sache, die zwischen uns geschehen ist.«
Zustimmend nicke ich dem Zuckerglöckchen zu. Wir hätten es besser wissen sollen und eigentlich finde ich es gut, dass Hails die Menschen um sich herum so leicht durchschauen kann.
»Ich danke dir, Haylee. Danke, dass du heute für mich da warst und mit mir geredet hast. Das bedeutet mir echt viel. Trotzdem bin ich mir unsicher, wie ich darauf reagieren werde, sobald sie wieder zurück ist. Irgendwie bin ich wütend auf sie, aber noch viel mehr auf mich selbst.«
Sanft drückt sie meine Hand, die noch immer miteinander verschränkt sind und lehnt ihren Kopf auf meine Schulter. »Das ist mir klar und ich hoffe sehr für euch beide, dass ihr das wieder hinbekommt. Ihr habt es verdient, zusammen glücklich zu sein. Egal, was euer Verstand versucht, euch zu sagen.«
Und wieder zeigt mir Hails, wie scharfsinnig und klug sie ist. Dieser Frau entgeht wirklich nichts und auf eine Weise finde ich das wirklich gut. Sie versteht mich, ohne Worte und dieser Abend hat unsere Freundschaft nochmals enger zusammengeschweißt.
Ich bereue es keine Sekunde, dass ich hierhergekommen bin.
»Das hoffe ich auch«, murmle ich leise vor mich hin, ohne zu wissen, ob Haylee meine Worte gehört hat.
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