Kapitel Dreiundvierzig: die nackte Wahrheit

F A I T H

Die Zeit steht still. Alles, was ich in diesem Moment wahrnehmen kann, ist dieser Mann vor mir und diese Schwere in meiner Brust, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Alles in mir zieht sich zusammen, fühlt und leidet mit Heath mit, der am Boden zerstört ist. Die Erinnerungen an diesen schmerzlichen Tag überschwemmen ihn, versuchen ihn in die Tiefe zu ziehen.

Ich kann seinen Hilferuf hören. Ich kann seine Hand sehen, die er verzweifelt ausgestreckt hält, um nach etwas zu greifen. Heath will die Rettung. Die Frage ist eher, ob ich nah genug bin, um ihn aus diesem Ozean der tiefen Schuld zu befreien.

Der Tag der nackten Wahrheit ist da und ich bin unschlüssig, ob ich bereit bin alles zu hören. Ob ich stark genug für uns beide bin, um uns aus diesem Meer aus Tränen zu retten. Ich bin mir nicht sicher, da ich bereits mit einem Fuß in der Pfütze stehe, die immer größer wird und alles um mich herum versucht einzunehmen. Mich eingeschlossen.

Heath sieht mich eindringlich an. Seine blauen Iriden wirken beinahe schwarz, als die Mauer um ihn herum komplett einstürzt und er mir einen Blick in sein Inneres gewährt. Es zerreißt mir mein Herz, als ich ihn ansehe. Am liebsten würde ich diesen wundervollen Mann in die Arme nehmen, ihn trösten. Aber das ist leider in diesem Augenblick nicht möglich. Nicht, bevor er mir alles erzählt hat. Er würde es auch gar nicht zulassen.

»Ich habe früher schon immer mal wieder als Barkeeper gearbeitet«, beginnt Heath und durchbricht damit die beängstigte Stille, die sich zwischen uns gebildet hat.

Eine Gänsehaut der bösen Sorte bildet sich auf meinem gesamten Körper, als ich den Klang seiner Stimme vernehme, die so viele Emotionen preisgibt. Emotionen, die Heath immer hinter einer Mauer versteckt hat und niemandem zeigen wollte. Emotionen, die das erste Mal an die Oberfläche gelangen.

»Es war ein Job, der mir zwischendurch gutgetan hat, weil ich abschalten konnte. Ich liebte meine Familie, wirklich, nur kam auch ich an meine Grenze und Rachel verstand dies. Immerhin kann ein Kind wirklich anstrengend sein, auch wenn Olivia meine kleine Prinzessin war.«

Ein Lächeln ziert seine Gesichtszüge, welches mir das Blut in den Adern gefriert. Es ist eher mit einer Grimasse zu vergleichen. Heath wollte damit etwas anderes ausdrücken, nur gelingt ihm das keineswegs. Viel mehr macht es mir Angst, da ich erst in diesem Moment das Ausmaß seines Schmerzes in seinem Inneren erkennen kann.

»Rachel kam mit dem Vorschlag, mir etwas zu suchen, damit ich alle paar Wochen eine kleine Auszeit bekomme.« Tief atmet er ein und schließt seine Augen, sodass die Tränen weiterhin über seine Wangen hinunterfließen können. »Sie verstand, dass mir die Arbeit in der Firma meines Vaters keinen Spaß macht und der Druck mir mit jedem Tag zu viel wurde. Also hatte ich bei meinem Freund erkundigt, ob er jemanden sucht.«

Die Schuld, die Heath mit sich seit Jahren herumträgt, fühle ich so sehr, da er wirklich jede Emotion mit mir in diesem Augenblick teilt. Alles kann ich spüren und am liebsten will ich ihn in die Arme nehmen und ihm einen Teil davon abnehmen. Heath soll sich nicht schuldig fühlen. Auch wenn ich noch immer nicht die ganze Geschichte kenne, kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Last in irgendeiner Weise der Wahrheit entsprechen könnte.

Ich bleibe weiterhin auf dem Boden sitzen und sage kein Wort. Er hat mich gebeten, dass ich ihn ausreden lasse und daran werde ich mich auch halten. Aber dafür lasse ich Heath keine Sekunde aus den Augen. Sobald ich das Gefühl habe, dass es zu viel für ihn ist, werde ich da sein und ihm den Halt geben, den er sich selbst verwehrt.

»Jason hat mir eine offene Stelle angeboten. Ich konnte freiwillig wählen, wann ich da sein will und wann nicht. Es war die perfekte Lösung und zudem habe ich mir noch etwas dazuverdient.«

Sein Blick richtet sich kurz auf mich, bevor er sich wieder umdreht und einen Schritt auf den Grabstein zumacht. Langsam, als hätte er Angst, berührt Heath die Inschrift und fährt sanft jeden Buchstaben nach. Seine Hand zittert dabei, jedoch ignoriert er es.

»Weißt du, was am 15. Mai 2015 in Boston passiert ist?«

Angestrengt denke ich darüber nach. Ich weiß nicht, worauf er hinaus will und schüttle dabei den Kopf. Stumm, damit ich ihn nicht unterbreche, auch wenn er mir gerade eine Frage gestellt hat. Nur traue ich mich nicht, etwas zu sagen. Nicht, bis er komplett mit der Wahrheit herausrückt.

»Vielleicht kennst du nicht das Datum, Faith. Aber es kann gut sein, dass du von dem großen Feuer gelesen hast, das einigen Menschen das Leben gekostet hat. Einschließlich Rachels und Olivias Leben.«

Feuer? Von welchem Feuer spricht er? Die Räder in meinem Kopf beginnen sich zu drehen, versuchen einen Zusammenhang zu seinen Worten zu finden, als bei mir der Groschen fällt. Mit großen Augen und offenem Mund starre ich Heath an. Es kann doch nicht sein, dass Heath bei diesem gigantischen Feuer dabei gewesen ist.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich diesen Artikel in der Zeitung gelesen habe. Überall in den Nachrichten war es zu sehen und ich war so schockiert, wie rasant dieses Feuer sich verbreitet hat. In einem alten Gebäude gab es ein Gasleck, dass eine kleine Explosion verursacht hat. Die Häuser, die eng nebeneinander standen, wurden ebenfalls von dieser Katastrophe erschüttert. Eins davon ist sogar eingestürzt und es gab einige Menschen, die diese Tragödie nicht überlebt haben.

Eine schlimme Befürchtung beschleicht mich, sodass mein ganzer Körper zu zittern beginnt.

»Sag mir nicht, dass du in diesem Gebäude warst, Heath. Nicht in dem Haus, welches komplett eingestürzt ist.«

Wortlos nickt er mir zu und bestätigt meine böse Vermutung. Ich kann nicht anders, als meine Hand vor meinen Mund zu halten, so schockiert bin ich über das Ganze. Die Tränen, die für einen Moment aufgehört haben über meine Wangen zu fließen, beginnen wieder mein Gesicht herunter zu kullern.

Heath sieht mich kurz an, bevor er den Ärmel seines Hemdes nach oben krempelt und mir eine Narbe offenbart, die ich schon so oft gesehen habe. Nur hatte ich angenommen, dass sie aus der Zeit stammt, als er im Einsatz war. Wie falsch ich damit lag, erkenne ich in diesem Augenblick.

»Ich war in dem Gebäude, und zwar unten im Keller. Diese Narbe erinnert mich jeden Tag daran, was für ein schrecklicher Mensch ich bin. Rachel und Olivia hätten nie bei mir sein dürfen, nur habe ich meine Schlüssel vergessen, die sie mir zusammen gebracht haben.«

Verwirrt runzle ich meine Stirn, weil ich etwas nicht verstehe. »Wenn ich mich noch richtig erinnere, dann ist das am Morgen passiert. Was hast du um diese Zeit in der Bar gemacht?«

Achselzuckend blickt er mich an. »Inventur.« Tief holt er Luft, wappnet sich auf den Schmerz, der immer größer wird, jedoch fixieren mich seine Iriden weiterhin. Auch ich fürchte mich davor, auch wenn ich weiß, dass es kein entkommen mehr gibt. Wenn ich mit ihm zusammen sein will, und das will ich auf jeden Fall, dann muss ich ihm bis zum Schluss zuhören. »Rachel hat mir, zusammen mit Olivia, den Schlüssel gebracht. Sie konnte unsere einjährige Tochter nicht allein lassen. Als das Gasleck plötzlich explodiert ist, waren wir im Untergeschoss, da sie noch auf die Toilette musste.«

Ich kann mir nicht ausmalen, was in diesem Mann vor sich gehen muss. Die Bilder, die ihn gerade heimsuchen, müssen schrecklich, traurig und unglaublich grausam sein.

Ein Wind umgibt uns und hebt meine Gänsehaut noch stärker hervor. Als würde das Wetter wissen, wie schlimm unsere Unterhaltung ist, bedecken Wolken den Himmel, sodass die Sonnenstrahlen verschwinden.

»Die Wand ist eingestürzt und hat mich umgehauen, während wir plötzlich überall von Wasser umgeben waren. Olivia schrie nach mir, Rachel weinte und ich konnte sie im ersten Moment nicht finden. Dafür war ich zu benommen von dem Brocken, der auf mich eingeprasselt ist.«

Je weiter Heath erzählt, umso mehr weine ich. Ich wiege mich vor und zurück, während ich mir alles bildlich vorstelle und sich aus diesem Grund alles in mir zusammenzieht. Mein Herz blutet für diese Familie, die auseinander gerissen worden ist. Meine Seele weint um den Mann, der er vorher war und mein ganzer Körper bebt, weil ich mit ihm mitleide. Ich fühle seinen Schmerz, den er mir so offen zeigt. Mit jedem Wort, das er mir preisgibt.

»Heath«, krächze ich. »Wenn es dir zu viel wird, hör auf. Ich will nicht, dass dich diese Erinnerung noch tiefer in ein Loch hineinstürzen lässt.«

»Nein, Faith. Du musst wissen, was da alles passiert ist. Ich will mit dir zusammen sein und deswegen musst du die ganze Wahrheit kennen.«

Ohne ein weiteres Wort nicke ich ihm zu und schließe gleichzeitig meine Augen. Ich will Heath nicht mit meinem Schmerz ablenken. Und das würde ich, wenn er mir in die Augen blicken würde.

»Diese Schreie. Das Wimmern. Jede Nacht höre ich sie. Egal wo ich bin, es verfolgt mich, Faith. Ich bin machtlos dagegen. Aber dann denke ich mir, dass ich es verdient habe. Wäre ich nicht gewesen, dann würden die beiden noch leben. Der einzige Schuldige in dieser schrecklichen Katastrophe bin ich.«

Verhemmt schüttle ich meinen Kopf. Nein, er ist keine Sekunde schuld an dem Tod seiner Familie. Heath konnte nicht wissen, dass dieses Haus nebenan einsturzgefährdet ist. Trotzdem kann ich seinen Punkt verstehen und die Gründe für seine Schuldgefühle. Aber ich werde diesem wundervollen Mann jeden Tag zeigen, dass er sich in dieser Sache irrt.

»Du trägst keine Schuld, Heath. Und ich will nicht mit dir darüber diskutieren, wer es könnte. Diese Tatsache wird dir nichts bringen, da deine Frau und Tochter nicht wieder kommen. Aber eines weiß ich ganz genau, Schmuggelhase. Du bist kein schrecklicher Mensch. Du hast versucht deine Liebsten zu retten, auch wenn es aussichtslos war. Du hast alles gegeben, damit sie eine Chance haben. Du hast in dieser Situation das getan, was du für richtig gehalten hast und das kann dir niemand vorwerfen. Auch du selbst nicht.«

Plötzlich macht er einen Schritt auf mich zu und geht dabei in die Hocke, damit wir uns auf Augenhöhe befinden. »Du verstehst das nicht, Faith. Rachel ist noch am Unfallort gestorben, während meine kleine Prinzessin um ihr Leben gekämpft hat. All meine Bemühungen haben nichts gebracht, da sie zwei Tage später gestorben ist. Ich konnte die beiden nicht retten.«

Seine Stimme ist lauter geworden, während seine Wangen nass sind und sein Oberkörper zittert. Auch ich weine mit ihm zusammen und blicke Heath direkt an, damit er den Ernst meiner nächsten Worte darin erkennen kann.

»Du bist nicht schuld daran. Du hast es versucht, Heath! Das Schicksal hat es aber so entschieden und auch wenn es unfair und grausam ist, kannst du es nicht ändern. Gib dir nicht die Schuld an etwas, wofür du gar nichts kannst. Tu das nicht, da dich das innerlich auffressen wird, bis nichts mehr von dir übrig bleibt.«

Meine Hände legen sich um sein Gesicht, ziehen ihn näher an mich ran, bis seine Stirn die meine berührt.

»Du bist ein wundervoller Mensch, Heath. Jeder, der dich kennt, kann das bezeugen. Du bist loyal, gutherzig, selbstlos und unglaublich. Und ich werde immer für dich da sein, es dir jeden Tag sagen, bis es endlich bei dir da oben angekommen ist.« Mit dem Finger tippe ich ihm auf die Stirn.

»Du willst mich, nachdem du das alles über mich weißt?«, hakt mein Schmuggelhase ungläubig nach.

»Ich will mit dir zusammen sein und das für immer, Heath. Zweifle nicht an uns, denn du weißt, dass unser Band tiefer geht und alle Hürden bewältigen wird.«

Nach diesen Worten lässt er sich in meine Arme fallen und weint hemmungslos an meiner Brust. Laute Schluchzer entkommen aus seinem Mund und alles an ihm zittert. Zum ersten Mal lässt er seine Emotionen frei. Heath weiß genau, dass ich da bin und ihn auffangen werde. Ich werde ihm nicht von der Seite weichen und es liegt noch ein langer Weg vor uns.

Aber, wie ich es ihm gerade gesagt habe. Unser Band geht tiefer als alles andere, das wir fühlen und dieses Wissen keimt tief in meinem Inneren eine Hoffnung auf, dass wir beide das durchstehen werden.

Zusammen.

Ich werde diesen Mann nicht loslassen. Niemals.

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