Im Licht der Laterne
Als ich ihr gesagt habe, ich würde sie gerne wiedersehen, hat sie mich genauso angesehen, wie sie es gerade tat. Ihr verwirrten Augen haben mich durchleuchtet, von Herz bis zu meinem kleinen gebrochenen Pinky. Lorens Blick hatte mir gesagt, dass es zu früh war. Lorens Hand hatte mich längst wieder losgelassen. Aber ihr Mund hatte mir was anderes erzählt.
Vermutlich, weil es das erste Mal war, dass ich nach der langen und quälenden Phase des gegenseitigen Ignorierens etwas gesagt habe.
„Bitte..."
Sie hatte langsam genickt und mir die Tränen von meinem Gesicht gewischt.
Ich wischte mit meinem Gips den Staub meiner vertrockneten Zimmerpflanze Gerard Way weg und überging taktvoll Ls hochgezogene Augenbrauen. Mein Zimmer schien perfekt das darzustellen, was in mir vorging. Jeden Tag wollte ich aufräumen. Jeden Tag tat ich es nicht.
„Hallo Emo", begrüßte L ihn.
„Er hat einen Namen."
„Dein Ernst?"
Ich nickte.
„Es ist immer noch eine Pflanze. Ich glaube nicht, dass es ihn stört."
Sie regte mich auf und beruhigte mich zu gleich.
Wir saßen auf meinem Bett genau wie ein Jahr zuvor. Hatten wir damals Händchen gehalten oder etwas anders getan, taten wir es heute nicht.
Ich wagte es noch nicht einmal, sie ausversehen zu lange anzusehen oder anzulächeln.
Sie starrte auf meinen Haufen Schulbücher. „Außer Emo hat sich hier gar nichts geändert."
„Mhm."
Darauf folgte eine lange Stille.
„Du kennst mich nicht mehr ", seufzte Loren.
Ich wollte sie wieder kennen. Ich wollte wissen, welche Zahnpasta sie nun benutzte. Ich wollte wissen, wie oft sie sich inzwischen verliebt hatte. Ich wollte wissen, was sie von Klimaklebern hielt und ob sie inzwischen Französisch gelernt hatte.
Anscheinend beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit.
Meine Stimme klang deprimierter, als beabsichtigt. „Ich habe dich aber vermisst. Ich vermisse dich. Und ich werde dich vermissen."
Sie schnaubte. „Das bedeutet mir nicht sehr viel." Sie senkte ihre Stimme und sah mir plötzlich direkt in die Augen. Nicht vorbei, oder auf meine Brüste. „Es tut mir leid." Es tat ihr nicht leid.
Ich rollte mit den Augen, während der Schmerz sich bereits seinen Weg durch mein Herz bannte. Sie war gut darin, mich zu verletzen. Ich war schlecht darin, es zu verstecken. Eigentlich müsste ich Loren dafür hassen.
Ich tat es nicht.
Genervt öffnete L ihre Augen. „Was willst du noch?"
Ich lachte.
Sie sah aus dem Fenster.
Ich fragte, ob sie okay war.
Sie sagte nein.
Sie fragte mich, ob es mir gut ging.
Ich bejahte.
Sie sah nicht glücklich damit aus. Vermutlich weil sie mich noch zu gut kannte.
Ich öffnete das Fenster, damit L mich ansah und nicht die mottenzerfressenen und angekokelten Gardinen. Als ich mich zurück auf das Bett setzen wollte, lagen ihre langen Beine scheinbar arglos auf meinem ehemaligen Platz. Okay, dann halt nicht. Kommentarlos ließ ich mich auf dem Boden neben ihrer Tasche fallen und spielte mit den mittlerweile ergrauten Trägern. Ls Augen verfolgten meine Finger, als würde sie auf einen Angriff warten.
Als ich mich räusperte und zu sprechen begann, sah sie weg. Nicht hastig, wie in all den verfluchten Filmen. Loren wandte sich langsam ab, sodass es weh tat. „Ich finde dich immer noch toll." Ich holte qualvoll tief Luft. „Ich habe ja noch nicht Mal so genau verstanden, warum es plötzlich vorbei war. Ich will, dass du es mir... vielleicht... kannst du es mir einmal vielleicht erklären?"
Ich bekam eine Gänsehaut, als sie anstelle einer Antwort über die schwachen Halme von Gerard strich.
Ich wollte sie nicht mehr festhalten. Aber wenn ich sie nicht festhielt, hieß das, dass wir nicht miteinander reden würden. Viel mehr, dass sie mich nie wieder umarmen würde, als sei ich das einzige feste in dieser Welt. Und dass ich vielleicht nie erfahren werde, ob das zwischen uns echt gewesen war.
In der Zeit, in der ich vergeblich auf L wartete, hätte sie schon mindestens zwanzig Mal ‚Ja' sagen können. Oder eben... ein ,Nein'.
Es dämmerte schon leicht, Gerard schien ziemlich tot in diesem Licht. Vermutlich war er es auch. Pflanzen wie er hielten noch schlechter als meine sozialen Kontakte.
L gab ein zischendes Geräusch von sich.
Ohne es zu merken hatte ich ihre Hand ergriffen. Ein vertrautes Gefühl machte sich in mir breit. Früher hatte ich es für Angst gehalten, doch es war zu süß dafür.
„Loren?" Ich ließ sie los.
L stieß hörbar die Luft aus. Sie schien sie sehr lange angehalten zu haben. „Okay. Okay. Aber nicht hier..."
Ich verstand, was sie meinte. Von der momentanen Stimmung wurde man schwanger, sobald man den Raum betrat.
✿
Ich habe ganz vergessen, wie es sich anfühlte nachts mit Begleitung umherzustreifen. Und wie lange hatte ich gewartet, dass sie meine Begleitung war? Es war bestimmt das erste Mal, dass wir im Dunklen spazierten.
Ich mochte, wie ihre Absätze auf dem Asphalt klackerten und mit meinen dumpfen Schritten harmonierten. Doch es war gruselig, sie zu hören, aber kaum zu sehen. Das Rauschen der Bäume hallte in meinem Kopf nach, machte ihn schwer.
Nächte machten mir Angst, weil ich sie verstand. Weil sie mir ähnlich waren. Weil alles, was am Tag stumm war, in der Dunkelheit sich öffnete.
Weil die Gedanken, die ich am Tag verdrängen konnte, sich in der Nacht nicht verscheuchen ließen.
Als niemand das Wort ergriff, erzählte ich ihr, was ich ihr schon lange sagen wollte. Warum ich damals nie geredet habe. Wieso meine Panikattacken schlimmer wurden von Monat zu Monat. Warum Jam mich nun hasste. Dass ich nie etwas mit Jam gehabt habe. Dass Jam seit drei Monaten nicht mehr zur Schule gekommen war, obwohl sie das bestimmt wusste. Dass ich schon lange nicht mehr an ihn, Jam, meinen besten Freund, gedacht habe. Dass mein Onkel gestorben war. Dass ich beide vermisste, aber nicht so, wie ich L vermisste. Dass sich alles wie die reine Hölle anfühlte.
L sagte nichts.
Bevor ich es verhindern konnte, sprudelte alles aus mir heraus, wie Blut aus einer Wunde. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, die Reste von meinem nutzlosen Herzen auszuschütten.
Irgendwann ging mir die Luft aus. Irgendwann war nichts mehr von mir übrig, über das ich noch etwas hätte sagen können, und meine Stimme erstarb kläglich in meinem trockenen Hals.
Ls Schritte stoppten.
Schweigend stand ich im Licht der verwitterten Straßenlaterne, drehte mich um.
Sie blieb im Dunkeln. Und gab mir ein so mulmiges Ziehen im Bauch, dass ich sie anflehte
zu mir zu kommen.
Ihre Augen glitzerten. „Lass uns etwas illegales machen." Einladend hielt sie mir ihre Hand hin.
Ich hoffte, ich sah nicht so aus, wie ich mich gerade fühlte.
L schien den Baum hinter mir anzuschauen und er tat mir leid, denn er sah nicht so aus, als könnte er schnell genug rennen.
Ihre Hand war das einzige von ihrem Körper, was beleuchtet wurde.
Als ihre Finger langsam auf mein Gesicht zukamen, reagierte ich zu spät.
Wie skurril, denn ich hatte sie ja kommen sehen und hatte gewusst, dass sie mir nichts tun wollte. Trotzdem war ich ruckartig zurück gewichen.
Oh Himmel. Mein Hintern schmerzte vom Aufprall und als ich so im Dunkeln halb auf dem Asphalt lag, wollte ich am liebsten nie mehr aufstehen. Mein nutzloser Gipsarm tat mal wieder weh.
Ein leises Lachen entwich L.
Normalerweise war ich wirklich nicht schreckhaft, ich wusste nicht, was los mit mir war. Aber das wusste ich so oder so nie.
Als ihre Beine plötzlich links und rechts von mir auftauchten und sie ihr eiskaltes Gesicht in meinen armen unschuldigen Nacken vergrub, verließ auf jeden Fall kein Laut meine Lippen. Ich zitterte nur und versuchte mich nicht zu weit nach hinten zu legen. Ihr vertrauter Geruch nach Waschmittel und ihrem Männerdeo erinnerte mich schlagartig daran, wie nah Loren mir war. Es war zu schön, um wahr zu sein. Alles begann in und an mir zu kribbeln, doch ich hielt die Schnauze.
Ich wäre auch weiterhin ruhig geblieben, hätte sie nicht angefangen leise zu summen. Ich kannte das Lied. Natürlich kannte ich es. „Mama, we all go to hell", flüsterte sie mir dann ins Ohr und ich konnte nicht anders, als bei ihrer rauen Stimme prompt weg zu zucken.
Es war zwar nicht zu sehen, aber sie rollte bestimmt ihre schönen düsteren Augen. „Ach, Silan. Ich dachte, du bist ein My Chemical Romance-Fan."
„Nicht mehr wirklich, nein."
L stand auf und ich folgte ihr wie selbstverständlich.
Wir schlenderten weiter, vorbei an überfüllten Restaurants und kargen Reihenhäusern. Als wir vor ihrem Haus standen, hielt ich an. Doch L schüttelte nur den Kopf.
Irgendwann fand ich wieder Worte und begann weiter zu erzählen.
Sie nickte in regelmäßigen Abständen.
Mein Onkel und Jam interessierte Loren nicht, doch sie war nicht ehrlich genug, um es mir ins Gesicht zu sagen.
Ich hörte auf zu reden.
Sie merkte es nicht.
Schweigend liefen wir weiter.
Ich wollte weinen.
„Wir haben bis hier hin überlebt. Ist das nicht krass?", murmelte ich stattdessen.
Eine Lüge. Denn das Wir aus dem letzten Jahr gab es gar nicht mehr.
Sie sah auf.
Sie überlegte.
Sie sah mich an.
Mein Atem wurde schneller, als sie mich dann quälend langsam zu sich heran zog.
Ich. Loren. Wir.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top