Fünfunddreißig

𝒜 𝓁 ℯ 𝒶
ᴡɪʟʟɪᴀᴍs

Es war etwas Seltsames passiert, nach der Hochzeit meines ehemaligen besten Freundes, Zac Preston.

Kyson und ich waren gemeinsam Nachhause gefahren, hatten uns voneinander verabschiedet...alles vollkommen...normal, könnte man sagen.

Und dann, gestern in der Früh, als ich meinem Nachbarn auf der Treppe begegnete...da hatte er mich tatsächlich ignoriert.

Den ganzen Tag lang war ich so verunsichert und eingeschüchtert gewesen, dass ich angefangen hatte, mir einzureden, dass er das jetzt brauchte.

Den Blick, den mir Kyson dann heute Morgen zugeworfen hatte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich dachte, wir würden langsame Fortschritte erzielen, nach der Hochzeit und der Tatsache, dass er mich küsste, als wären wir zusammen.

Er sah mich an, als wäre ich eine Fremde. Als würden wir uns nicht kennen, als hätte ich ihn nicht von seiner anderen Seite kennengelernt.

Mein vorsichtiges Lächeln war augenblicklich in sich zusammengebrochen und ich hatte die Stirn gerunzelt, verstand nicht, was zwischen uns geschehen war.

Was ging in ihm vor, dass seine Blicke so kalt waren? Was war passiert, dass Kyson Evans mich ansah, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen?

Unsicher war ich an diesem Morgen auf ihn zugegangen und hatte seinen Namen geflüstert, doch da hatte er den Kopf geschüttelt und die Hand gehoben. Mir symbolisiert, dass ich stehenbleiben sollte. Er wollte, dass ich mich ihm nicht näherte.

Und noch vor einer paar Nächten hatten wir uns mehr als nur berührt. Wir waren miteinander verschmolzen. Er hatte mir gesagt, dass er mich brauchte. Und nun?

»Wieso?«, war alles, was über meine Lippen kam.

Wieso siehst du mich so an?
Wieso lässt du diese Distanz zu?
Wieso wirst du zu dem, der du eigentlich nicht sein möchtest?

Seine Hand glitt zurück an seine Seite, er hob den Blick ein letztes Mal an, um mir direkt in die Augen zusehen, bevor er ging. Aber diese drei Sekunden waren Antwort genug. Er schrie sie mir förmlich entgegen.

Hayley.

Und ab diesem Zeitpunkt änderte sich meine Sichtweise und ich fragte mich...

Was, wenn Kyson bereits in der Lage war, mich zu lieben, aber er nicht in der Lage war, die Vergangenheit loszulassen?

Was, wenn es nicht darum ging, sich neu zu verlieben, sondern das Vergangene zu akzeptieren um in der Gegenwart glücklich sein zu können?

Nach zwei weiteren Tagen der absoluten Stille zwischen uns hielt ich es nicht mehr aus.

Ich bekam Alpträume und diese wurden immer schlimmer. Mal träumte ich von einem heftigen Streit in dem Kyson sich Verletzungen zuzog und dann träumte ich davon, dass ich eines nachts wach wurde und die Wohnung von ihm leer stand. Er war still und heimlich umgezogen. Oder Kyson war nie da gewesen, ein Hirngespinst, mehr nicht.

Ich vermisste seine Nähe, seine Stimme und alles an ihm. Es brachte mich um den Verstand, denn so intensiv hatte ich noch nie für jemanden empfunden.

Kysons Schweigen riss ein Loch in meine Brust und diesen Schmerz konnte ich mit keinem anderen vergleichen, es war schrecklich.

Also packte ich meinen gesamten Mut und klopfte an diesem späten Abend an seine triste Wohnungstür und wartete ungeduldig, bis er sie öffnete.

Ausnahmsweise hatte ich mich in diesen vielen Stunden der Ungeduld und der quälenden Leere niemanden anvertraut. Hatte alles in mich hineingefressen.

Ich vernahm leise Schritte und dann ging die Tür tatsächlich auf. Vor mir stand der Mann, den ich in diesem Augenblick nicht verstand, aber ihn verstehen wollte.

Ein Fremder mit tiefen, lilafarbenen Augenringen, stechend grünen Augen, schwarzem Haar und ebenso schwarzer Kleidung.

Ein Mann, der nicht an die Liebe glaubte.

Jemand, dessen kaputtes Herz ich vielleicht nicht reparieren konnte.
Jemand, der in der Vergangenheit gefangen war und darin lebte.
Und dennoch hatte ich mich in genau dieses Wrack verliebt.

Ich wollte nichts an dieser Tatsache ändern, denn ich war davon überzeugt, dass es Hoffnung gab.

Irgendwo, ich hatte den Funken bereits gesehen, aber er war offensichtlich zu schwach gewesen, um ihn zu greifen.

Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber die Träne, die über Kysons blasse Wange lief, brachte mich zum Schweigen.

Stattdessen verfolgte ich ihren Weg über seine Haut abwärts bis zu seinem Kinn.

Dort fiel sie nach ein paar Sekunden hinab und landete auf Kysons Shirt.

An der Stelle, wo sein Herz lag. Der Stoff färbte sich tiefschwarz und wurde größer. Schluckend drückte ich meine zitternden Fäuste gegen meine Hüfte und holte tief Luft.

Ich war stark genug, erneut in seine apfelgrünen Augen zu sehen, die mich ansahen, als würden sie tausende Fragen haben.

»Es ist okay, wenn du trauerst, das meine ich vollkommen ernst. Und ich werde es so oft sagen, bist du mir glaubst. Es ist in Ordnung, wenn du Hayley weiterhin liebst. Es ist in Ordnung, wenn du an sie denkst, ob jetzt oder in 10 Jahren«

Seine Lippen waren blau und als er sie aufeinander presste, wurden sie unnatürlich weiß. Ich trat einen Schritt näher an Kyson heran und er ließ mich gewähren.
Also machte ich einen weiteren.

Er ließ zu, dass ich meine bebenden, warmen Hände an sein Gesicht presste und unsere Köpfe näher zueinander führte.

Ihn berühren zu können, es zu dürfen, fühlte sich ein bisschen so an, als würde man nach einer langen Reise wieder Nachhause zurückkehren - nur besser.

Manchmal glaubte ich, dass meine Berührungen eine beruhigende Wirkung auf ihn hatten.
Denn auch jetzt senkten sich Kyson Evans Lider und sein Mund stand einen Spalt weit offen. Seine Atmung wurde gleichmäßiger, wenn auch nur sehr langsam.

Er war es wert, dass ich ihn nicht aufgab.

»Ich war an ihrem Grab, Alea. Ich dachte, ich schaffe es allein, aber da war ihr Bild, ihre Augen die mich angesehen haben, ihr unbeschwertes Lächeln, das Datum an dem es passiert ist, dieser beschissene weiße Grabstein, diese Rosen überall und...«, seine Stimme brach und weitere Tränen flossen.

So viel Trauer in nur einem Satz. Ohne es zu wollen, weinte ich mit ihm. Ich kannte Hayley nicht, aber ich kannte Kyson.

Und seinen Schmerz zu sehen, ihn an meinem Körper zu spüren, war das schrecklichste überhaupt. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich wollte stark sein, für ihn.

»Du liebst sie, Kyson. Das wirst du immer«

Er schüttelte unter meinen Händen den Kopf, schloss die Augen und kniff sich mit der Hand in die Nasenwurzel.

»Aber ich will das nicht. Du hast das alles nicht verdient. Dieses andauernde Hin und her. Im ersten Moment denke ich, ich bin soweit und schaffe es. Ich bin glücklich mit dir, konzentriere mich auf das Gute und dann kommt ein Rückfall, Alea. Es ist so unfair, dass sie sterben musste und ich lebe mein Leben weiter, als wäre nie etwas passiert. Gehe auf Hochzeiten, versuche mich neu zu verlieben...Kannst du dich nicht einfach in Irgendjemanden verlieben?«

Ich wusste, er meinte das ernst. Er war verzweifelt und hatte Angst.

»Ich habe mich aber in dich verliebt, Kyson«

Kyson Evans zog meine Hände von seinen Wangen und hielt sie in seinen kalten fest.

»Ich habe drei Jahre lang keine einzige Träne vor anderen vergossen, verstehst du das? Und jetzt kommst du und alles reist wieder auf. Ich will das nicht, nicht noch einmal«, sagte er frustriert. Seine Augenbrauen waren zornig zusammengezogen und sein Griff an meinen Händen verfestigte sich. Ich hatte keine Angst vor ihm, auch wenn der Druck etwas unangenehm war.

»Ich habe nicht absichtlich Gefühle für dich entwickelt«, murmelte ich.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Wie konnte ich Worte finden, die seinen Schmerz linderten?
Und welche Worte könnten das sein?

Es gab keine, denn der Schmerz, welchen Kyson durchlitt, konnte niemand einfach so mit ein paar Worten verschwinden lassen.

Er hatte seine Liebe des Lebens verloren. Das Mädchen, welches seine Welt war.

Und er konnte keine neue Welt erschaffen, wenn er in ihrer noch immer verweilte und nicht bereit war.

Ich war so egoistisch und wollte, dass er sich in mich verliebte. Dass er lernen musste, neu zu lieben. Dabei ging es um etwas ganz anderes...

Hier ging es ums loslassen.

Darum, die Vergangenheit zu akzeptieren, denn lieben konnte Kyson.
Das beste Beispiel, dass Kyson Evans in der Lage war, Liebe zu empfinden, zeigte die Tatsache, dass er seine verstorbene Freundin noch immer mit ganzem Herzen liebte.

»Es ist okay, wenn du sie weiterhin liebst und vermisst. Aber es ist auch okay, wenn du glücklich bist und nach vorne siehst«, hauchte ich erstickt. Daraufhin ließ er von mir ab. Meine Hände sackten kraftlos zurück an meine Seiten.

»Begleite mich«, flüsterte er. Seine apfelgrünen Augen wanderten zwischen meinen aufgewühlt hin und her.

»Wohin?«

»Zu ihr.«

Meine Augen weiteten sich. Mein Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. Damit meinte er das Grab von Hayley.

»Bist du dir sicher?«

Nickend griff er hinter sich und zog den Schlüssel von innen ab, schloss die Tür ohne etwas zu sagen und griff nach seinen schwarzen Converse, welche neben seiner Wohnungstür standen.

Das ging alles so schnell. War das sein Ernst?

Überfordert sah ich ihm dabei zu, wie er mir den Haustürschlüssel, an dem auch sein Autoschlüssel hing, in die Hand drückte und in die Schuhe schlüpfte.

Seine Tränen im Gesicht waren getrocknet, nur die vereinzelten dunklen Flecken auf seinem Shirt, erinnerten an Kysons emotionalen Ausbruch.

Ich hingegen konnte nicht aufhören zu flennen, andauernd liefen salzige Tränen über mein erhitztes Gesicht.

»Du willst jetzt wirklich nochmal an das Grab fahren? Sieh dir doch an, was es in dir auslöst«

Ich mochte nicht sehen, wie er sich selbst verletzte.

Kyson sagte nichts, griff nach meiner freien Hand und zog mich die Treppe hinunter. Ein paar Mal stolperte ich und musste mich an seinem Rücken festhalten.

»Warum, Kyson?«

Er steuerte seinen dunklen Wagen an und blieb davor stehen, hielt mir seine zweite Hand vor die Nase. Ich legte die Schlüssel hinein und wartete auf eine Antwort.

Kyson musterte mich von der Seite. Er wusste, ich würde ohne eine ehrliche Antwort nicht einsteigen.

»Ich schaffe es nicht alleine. Ich will abschließen, aber dafür brauche ich deine Hilfe«

Wäre diese Situation nicht absolut traurig, hätte ich mich jetzt gefreut. Aber ich freute mich nicht, ich hatte Angst.

Angst um ihn und Angst um das, was zwischen uns war. Was auch immer es war, es hatte uns beiden Kraft gegeben und tat nicht nur mir, sondern auch ihm gut.

Vielleicht waren wir gerade dabei, alles in nur einer Nacht gegen die Wand zu fahren.

Und obwohl ich diesen Gedanken fürchtete, stieg ich in seinen Wagen.

Für Kyson, denn er brauchte mich jetzt.

Die Fahrt war lang, denn Hayley lag begraben in ihrem Geburtsort, welcher zwei Stunden von Greenville entfernt lag.

Immer wieder kniff ich mir während der Fahrt in den Oberschenkel um meine Tränen zu unterdrücken, aber sie flossen gnadenlos weiter.

»Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst«, hatte ich in meiner Angst immer wieder geflüstert.

Und obwohl ich Kyson trösten wollte, war er derjenige, der immer wieder mit der rechten Hand über meine nassen Wangen strich und meine Hand fester drückte.

Es war vielleicht falsch, dass meine Emotionen mich übermannten, aber so war es nun mal. Ich liebte Kyson so sehr und in dieser zweistündigen Fahrt wurde mir diese Tatsache wieder einmal bewusst.

Ich sah ihn an.
Seine Augen, die sich auf den Verkehr konzentrierten. Seine Atmung, die unruhig und stoßend kam.
Sein zerzaustes, schwarzes Haar und die angestrengt zusammengezogenen Augenbrauen. Sein stoppeliges Kinn.

Meine Augen wanderten weiter zu seinen Händen, die sich am Lenkrad festklammerten.
Die Stellen, an denen sich seine Knochen hervorhoben, wurden weiß.

Und während ich mir jedes noch so kleine Detail einprägte, es fast schon mir einverleibte, verging die Fahrt schneller, als ich bereit für das war, was folgen würde.

Als wir uns einer schwach beleuchteten, kleinen weißen Kirche mit spitzen Turmdach näherten, hörte ich Kyson schlucken.

»Es ist egoistisch, dass ich nie an ihrem Grab war. Es ist so falsch, ich bin es ihr schuldig«, flüsterte er, während er seinen Wagen an einen der wenigen Parkplätze abstellte und die Motorgeräusche erloschen.

Heulend sah ich ihn an.

»Nur weil du nicht an ihrem Grab warst, heißt das nicht, dass du nicht um Hayley getrauert hast«, versuchte ich ihn aufzumuntern. Oder mich.

»Weißt du wie schmerzhaft das ist, ihren Namen aus deinem Mund zuhören?«, erwiderte Kyson mit brüchiger Stimme.

Seine Augen waren gerötet, das erkannte ich, weil die Innenbeleuchtung des Wagens anging, als Ky seine Tür öffnete, um auszusteigen.

»Es tut mir leid«, war alles, was ich über die Lippen brachte, als ich mit weichen Knien die Autotür hinter mir schloss und um den schwarzen Schlitten herumging.

Kysons Schultern sackten in sich zusammen, als er in Richtung des Friedhofes blickte. Langsam trat ich an ihn heran, vernetzte unsere Finger miteinander und drückte seine eiskalte Hand fest.

»Ich bin bei dir, du schaffst das«, hauchte ich mit zitternder Stimme und wartete geduldig, bis Ky sich in Bewegung setzte.

Stockende, kleine Schritte folgten, bis wir vor dem Eisentor standen und ich einen flüchtigen Blick auf die Grabsteine erhaschte. Alle waren grau, schwarz oder in anderen, dunkeln Farbtönen gehalten. Alle, außer einer. Ein weißer Grabstein mit blutroten Rosen. Ich versteifte mich fast zeitgleich, mit Kyson.

Er öffnete eine Seite des Tors, indem er die Klinke hinabdrückte und eintrat. Wieder folgte ich ihm.

Um uns herum und auf dem gesamten Friedhofsgelände standen Laternen, die spärliches Licht spendeten und uns den Weg nach ganz hinten zeigten.

Das weiße Grab hob sich nicht nur durch seine Farbe von den anderen ab. Es war stilvoll, klassisch und wunderschön, dass es einfach jedes andere in seinen Schatten stellte. Es war mit Rosen überfüllt.

Kysons Schritte wurden größer, bis wir unser Ziel erreicht hatten.

Die Kieselsteine unter unseren Schuhsohlen knirschten ein letztes Mal, bevor wir zum Stillstand kamen und schweigend den Grabstein ansahen.

Dann ging er zu Boden und ich folgte Kyson schweigend auf die Knie.

»Kyson?«, murmelte ich leise und spürte, wie er die Arme um mich schlang, während seine grünen Augen den weißen Stein und dessen Inschrift fixierten.

»Du setzt dich selbst zu sehr unter Druck. Es muss kein uns geben, es reicht auch ein dich und mich«, flüsterte ich und ließ zu, wie ich in diesem Augenblick zu seinem Anker wurde, an dem er sich festhalten konnte, während ihn mehrere Schauder überrollten und Kyson aussah, als würde er einen innerlichen Kampf mit sich selbst führen.

Er sagte daraufhin nichts, sah nur stumm den Grabstein seiner verstorbenen Verlobten an und blinzelte gelegentlich. Ich konnte ihn nur ansehen, zulassen, dass sich seine Finger in den Stoff meiner dünnen Jacke bohrten und seine Kiefermuskulatur wild arbeitete.

Die Minuten strichen an mir vorbei und es fühlte sich an wie Sekunden.

Drei Mal schlug die Uhr des Kirchturmes und nach dem zweiten Mal, wurden meine Finger taub, die auf Kysons Brust ruhten und versuchten, ihm Trost zu spenden.

Und mittendrin griff er nach der Kette an seinem Hals und fädelte einen filigranen Ring vom Band. Mit den Fingern grub er eine kleine Mulde in die Graberde und legte ihn hinein.

Ich schluckte schwer und hörte meinen Herzschlag wild in mir donnern und im Augenwinkel erkannte ich, wie Kyson etliche Tränen über das Gesicht liefen und lautlos auf dem eiskalten Boden landeten.

Ich wollte ihn vor allem beschützen. Vor dem Schmerz und der Angst, der Trauer und den Alpträumen...

Aber nichts könnte jetzt helfen.

Das Einzige was mich durchhalten ließ und mir half, die Qualen, die  Kyson erlitt, zu ertragen, war meine Liebe für ihn.

• • •

Wann ich eingeschlafen war, wusste ich nicht. Wie ich hierhergekommen war, war mir ebenfalls schleierhaft. Aber als ich die Augen öffnete und mich umsah, wusste ich sofort, wo ich war.

Ich fuhr mir mit der Hand über meine Stirn und versuchte mich zu erinnern, was passiert war. Doch da gab es nichts. Wir waren an Hayleys Grab gesessen und hatten geschwiegen. Er gab ihr ihren Ring zurück.

Die Stille wurde unterbrochen, als ich Kysons Stimme irgendwo in der Wohnung wahrnahm und mich aufsetzte.

Meine Finger vergruben sich in dem weichen Laken der Matratze, während ich von dem Bett rutschte und mich konzentrierte.

»Nein, Freitag wäre perfekt, Mrs. Cavanaugh. Ich danke Ihnen«, sagte Kyson. Seine Stimme klang fest und sicher, ruhig und entspannt.

Durch den Wind erhob ich mich und huschte aus dem Schlafzimmer und direkt ins Wohnzimmer, wo ich ihn fand. Er stand mit dem Rücken zu mir, trug ein schwarzes Shirt und eine ausgewaschene, blaue Jeans an den Hüften. Seine Füße waren nackt. Als hätte er mich gehört, schob er das Smartphone in eine seiner vorderen Hosentaschen und drehte sich um.

Kysons Augen wanderten direkt zu mir und sowas wie ein Lächeln lag auf seinen Lippen.

Was hatte ich gestern verpasst, als ich in seinen Armen eingenickt war? Wo war der verzweifelte Mann hin?

Scheiße, was...was war hier los?

Mein Gesichtsausdruck verriet meine Verwirrung, denn Kyson meinte: »Das war meine Psychologin. Ich habe einen Termin vereinbart«

Überrascht hielt ich mich am Türrahmen fest und spürte, wie mir sämtliche Luft entwich. Keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Kyson sah mich weiterhin aufmerksam an und ich erkannte, wie er seine Hände zwei Mal nacheinander zu Fäusten ballte.

»Das was ich da mir dir und mir mache, ist nicht in Ordnung«, fing er an und bewegte sich nicht vom Fleck.

War das irgendein Traum?

»Und ich weiß das, Alea. Ich möchte dich aber nicht von mir stoßen, denn gestern hat mir gezeigt, dass ich dich brauche. Und ich werde dich auch noch die nächste Zeit brauchen. Bis zu meinem Tod. Aber ich brauche nicht nur deine Hilfe, sondern die eines Profis«, fügte er hinzu und deutete mit dem Finger auf sein Smartphone, mit dem er Mrs. Cavanaugh angerufen hatte.

Mein Herzschlag wurde schneller und ich war noch immer sprachlos.

Kyson kratzte sich mit den Fingern am Nacken und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Eigentlich bist du diejenige die viel redet und ich bin der, der dich nur anstarrt und nichts sagt. So war es mal«, meinte er und runzelte die Stirn, da ich mich noch immer nicht geäußert hatte.

Kyson seufzte plötzlich und verringerte den Abstand zwischen uns, griff nach meinen Händen und hielt sie sicher in seinen fest.

Ich hob das Kinn an und erwiderte seinen Blick interessiert. Mit Kyson war es nicht leicht. Er hatte Stimmungsschwankungen und man wusste nie genau, wie er im nächsten Moment drauf war.

»Ignorier mich nie wieder, Kyson. Ich glaube wir sind mittlerweile so weit, dass wir miteinander sprechen können, wenn uns was belastet. Das tat echt weh«

Daraufhin sah ich, wie sein Adamsapfel kurz verschwand und er leicht nickte.

»Ich gebe mein Bestes«, war alles, was er sagte und ich seufzte.

»Was?«

Ich strich mit dem Daumen über seine Hand und zuckte mit den Schultern, senkte den Blick auf seine Brust, die sich in regelmäßigen Bewegungen hob und sank. Doch dann löste Kyson eine Hand kurz von meinen und umgriff damit mein Kinn zärtlich, um es anzuheben. Ich sah in das satte Grün und spürte, wie mein Magen sich aufgeregt zusammenzog, meine Knie wie so oft weich wurden und ich mich in seine Richtung lehnte, bevor ich sagte: »Du machst es echt spannend.«

Daraufhin hörte ich, wie er schnaubte und dann murmelte: »Ich habe nie behauptet, dass es einfach mit mir wäre. Aber ich bin mir sehr sicher, dass das zwischen uns was Gutes ist«

Schmunzelnd löste ich meine Finger von seiner Hand und vergrub sie stattdessen im Stoff seines warmen Shirts, direkt an seinen Rippen.

»Was Gutes also«, wiederholte ich spöttisch und sah, wie er die Augen verdrehte. Das erinnerte mich an den Kyson, der mich als »nervig« oder gar »aufdringlich« bezeichnet hatte, als er mich kennenlernte.

Kyson strich mit seinen warmen Fingerspitzen über meine Oberarme und lächelte schwach. Ich sah, dass vergangene Nacht noch immer an ihm zerrte, aber sie hatte mehr bewirkt, als ich für möglich hielt.

Dass er abschloss mit seinem alten Leben ging nicht von heute auf morgen. Das würde ihn sein gesamtes Leben begleiten, was mir klar war.

Es würde Zeit, Kraft, Geduld und viel Mitgefühl kosten. Aber das war mir Kyson wert, denn egal was passierte...wir fanden immer wieder zueinander. Allein wie er mich heute ansah, zeigte mir, was sich da zwischen uns entwickelt hatte. Das war nicht nur eine kleine Liebesgeschichte.

Das zwischen uns war was Großes und Starkes, trotzdem klein und zerbrechlich. Es war echt und nicht zu leugnen.

»Wärst du bereit, mich deinen Eltern vorzustellen?«

Ich legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen. Was?

»Du warst gestern einem Nervenzusammenbruch ziemlich nahe, Kyson. Ich will nicht, dass das Alltag bei uns beiden wird. Ist sicherlich nicht gesund«, murmelte ich und lächelte ehrlich. Er beobachtete mich nur und runzelte die Stirn, als würde er nachdenken. Aber sein Entschluss stand scheinbar schon etwas länger fest.

»Wir müssen nichts überstürzen«, setzte ich nochmals an, doch da hatte er sich nach vorne gelehnt und seine weichen Lippen auf meine gelegt und mich geküsst.

Überrascht wich ich zurück und brachte so viel Abstand zwischen uns, dass ich in seine Augen sehen konnte. Sofort vermisste ich das Gefühl seiner Lippen auf meiner. Er schmollte? Was?

»Okay, was genau ist letzte Nacht wirklich passiert?«, hauchte ich erstickt.

»Mir ist klar geworden, dass ich dich will. Und zu dir gehören deine Eltern, Adam und Sally. Adam und Sally kenne ich schon, jetzt wären deine Eltern dran. Meine kennst du ja«

»Okay, okay!«, unterbrach ich ihn und holte tief Luft.

»Okay«, murmelte er und positionierte seine Hände an meiner Taille.

»Mir geht es gut, Alea. Und solange es mir gut geht, will ich das nutzen und den Tag genießen. Stell mich deinen Eltern vor«, bat er und bei dem Dackelblick, den Augen und diesem Gesicht...

»Okay«

»Okay.«

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