3. Magentas Auftritt
Meine Liebste Nelenia,
kannst du dich an die Geschichte vom einsamen Wolf erinnern, die ich dir als du klein warst immer vorgelesen habe? Ich weiß, dass dein Leben dieser Geschichte gerade sehr ähnlich ist.
Ich weiß, dass ich der Grund für deine Einsamkeit und Angst bin und es tut mir unendlich leid. Niemals wollte ich dir ein Leben als Sklave antun, doch mit der Zeit wirst du meine Gründe verstehen. Ich schreibe dir, in der Hoffnung das die in den Zeilen enthaltene Liebe ihren Weg zu dir findet.
Wenn ich Bärenstein frage, sagt er dass es dir gut geht, dass du trainierst und arbeitest.
Er lässt mich diesen Brief nur schreiben, wenn er ihn vorher durchlesen kann.
Deiner Schwester Sandrine und mir geht es zwar gut, aber wir vermissen dich.
Sandrine fragt jeden Tag nach dir. Wir leben in Lothars Burg, aber ohne dich ist es nicht dasselbe. Seit neuestem hast du auch einen kleinen Bruder. Sein Name ist John.
Ich hoffe ihn dir eines Tages vorstellen zu können.
Meine kleine Nelenia, mein Sonnenschein, mein Engel, pass auf dich auf und komm uns bald besuchen. In Liebe deine Mutter
Briana Henotello.
Pünktlich um acht Uhr würden zwei Personen in dunkler Militärkleidung und ernsten Gesichtern vor der Eingangstür ihres Hauses stehen und klingeln. Kyrie konnte sich vorstellen, was sie wohl sehen würden; ein mit Efeu überwachsenes grün gestrichenes Haus mit einem kleinen Blumengarten davor. Ihr Vater pflegte diesen mit leidenschaftlicher Hingabe.
Es war ein gutes Haus, trocken und sauber, keine Einschusslöcher in einer guten loyalen Gegend. Früher hatte sogar eine andere Henotello-Familie hier gewohnt, aber nachdem sie ihren Tribut, ihren erstgeborenen Sohn aufgeben mussten, hatten sich die Eltern getrennt und waren allesamt weggezogen.
Kein seltenes Schicksal bei zurückgelassenen Familien, aber Kyrie war sich sicher, dass ihre Eltern ihren Verlust gemeinsam überstehen würden.
Selbst wenn sie sich danach nicht mehr lieben sollten, würden sie Coraline und Brandon nicht ein leben in Pflegefamilien antun, denn wer keine Intakte Partnerschaft aufweisen konnte, verlor die Kinder.
Die Sonne schien durch das Wohnzimmerfenster und machte es ohne Heizung warm. Im Sonnenlicht sah alles gleich viel schöner aus, viel Hoffnungsvoller, ganz anders als Kyries Gefühlslage.
Der Esstisch war immer noch mit Torte und Monopoly gedeckt. Kyries brauner Seesack war bereits gepackt und wartete an der Tür. In einer Ecke des geräumigen Zimmers stand ein kaum benutzter Fernseher. Die anderen Wände waren voller Bücher über alle möglichen Themen.
Ihre Mutter war leidenschaftliche Leserin und hatte diese Sammlung von ihrem Vater geerbt. Manche der Bücher waren Jahrhunderte alt und sehr kostbar. Coralines Spielzeug lag am Boden und Brandons Gitarre weilte in einer Ecke. Seit er zum Militärdienst berufen worden war, hatte er sie nicht mehr angerührt.
Es war ein schönes Wohnzimmer, ruhig und mit Dekoration und Basteleinen der Kinder geschmückt. Hier hatte sie sich immer wohlgefühlt. Während ihres kurzen hastigen Frühstücks berührte sie die neuen Ohrringe. Sie wollte sichergehen, dass sie sie nicht vergessen hatte. Ähnlich tat es ihre Mutter indem sie Kyrie immer wieder über das blonde Haar strich und sie auf die Stirn küsste. Ihr Vater hatte sich bis jetzt nicht aus seinem Arbeitszimmer gewagt. Eine dunkle Eichentür sperrte ihn ein und seine Familie aus.
Kyrie fürchtete ihn nicht noch einmal zu sehen, bevor sie ging. Unruhig spielte sie mit ihrem langen Haar und hörte Coraline beim reden zu.
Ihre kleine Schwester versuchte hartnäckig mit quatschen die Situation zu entspannen.
Kyrie konnte über diesen süßen Versuch ihrer achtjährigen Schwester nur lächeln.
Ding. Dong.
Ihr Herz raste als sie die Klingel hörte. Sanft wackelte der Tisch. Brandon nahm ihre Hand und drücke fest zu.
"Hey, tief durchatmen.", flüsterte er mit seinem sanften Bariton. Kyrie nickte hastig, tat wie ihr befohlen und versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Instinktiv versuchte sie mit ihrer Telepathie herauszufinden, wer sich da vor ihrer Tür befand, doch ein starker, unmissverständlicher Händedruck Brandons zog ihre Sinne auf ihn. Sein bestimmtes Kopfschütteln erinnerte sie daran, dass die Abholer zur Pythonissame gehörten und vielleicht die Fähigkeit der Telepathie besaßen. Sie würden es spüren wenn Kyrie in ihren Kopf zu gelangen versuchte. Sie würden sie als Telepathin kennenlernen und sobald sie dann sahen wie Kyrie aus Angst etwas schweben ließ, war es aus mit ihrem Geheimnis.
Ein Geheimnis, das nicht einmal ihre Eltern kannten.
Henotellos erhielten ihre Gabe normalerweise mit etwa zehn- bis zwölf Jahren und dann auch nur eine einzige Gabe je noch Anlage der Gene. Sollten diese Gene stärker ausgeprägt sein würde sich dies in der Stärke der Gabe zeigen. Kein Henotello suchte sich seine Gabe aus, man erhielt was die Gene hergaben, jedoch ließ sich nicht selten am Charakter des Kindes eine Affinität feststellen.
Cecil und Richard dachten bei ihrer Tochter sofort an Telekinese. Oft musste Kyrie sich Geschichten aus ihrer Kindheit zu einem kurzen Geduldsfaden und großer Willensstärke anhören. Wie es die Eltern vermuteten, kam es auch. Kyrie ließ mit zwölf Jahren einen Stein schweben. Die Eltern waren erfreut recht gehabt zu haben, jedoch hieße die Fähigkeit der Telekinese auch ein hartes Training und Kampf an vorderster Front im Krieg gegen Rebellen und andere Länder.
Beinahe sofort begann Richard mit einem Trainingsplan für Kyrie. Nur Brandon war da als sie mit dreizehn Jahren Kerzen entflammte und an ihrem vierzehnten Geburtstag den ersten Gedanken aus Brandons Kopf stahl. Als sie sich mit fünfzehn eine Schnittwunde beim Kochen für sich und Brandon zuzog heilte die Verletzung in wenigen Minuten. Jedes Jahr kam eine neue Fähigkeit dazu. Wirklich trainiert hatte sie nur die Telekinese mit ihrem Vater.
Mit Feuer zu spielen oder sich selbst zu verletzten um zu sehen wie schnell es heilen würde, wäre viel zu auffällig gewesen. Brandon und Kyrie hatten lange darüber diskutiert ob sie ihren Eltern von den Gaben erzählen sollten, doch Brandons Argument, das es sicherer für sie wäre es nicht zu wissen, ließ Kyrie immer verstummen.
Selbst viele Stunden der Nachforschung hatten keine Hinweise auf eine andere Henotello ergeben die mehr als eine Gabe besaß. Es würde Kyrie zur Kuriosität machen, sie vielleicht für den Rest ihres Lebens in ein Labor verbannen. Ein noch schrecklicheres Schicksal als in der Armee zu dienen. "Ich...ich werde aufmachen.", meinte Cecil und legte das Geschirrtuch weg, richtete ihr einfaches blaues Kleid und trat zögerlich an die Tür.
Das Sonnenlicht ließ ihre grauen Strähnen leuchten und zeigten Kyrie deutlich die Spuren des Kummers. Schneller als die Kinder es für möglich gehalten hatte, wurde die Türe des Arbeitszimmers aufgerissen und ihr Vater stürmte heraus. Seinem Aussehen zu urteilen hatte er die halbe Nacht im Arbeitszimmer verbracht. Das braune Hemd war zerknittert und mit Kaffeflecken versehen, die Hose ebenso. Wild stand ihm das dünner werdende blonde Haar wie ein Heiligenschein vom Kopf ab.
Angespannt stellte er sich neben seine Frau. Kyrie konnte die Schatten unter seinen Augen sehen, den Kiefer zusammenpresst. Sofort stellten die Kinder das Frühstücken ein und starrten wie gebannt auf die hölzerne Eingangstür, als wäre sie gerade in Flammen aufgegangen. Mit zittrigen Händen öffnete Richard die Eingangstür und bat die ungebetenen Gäste herein.
Kyrie starrte die Frau Mitte dreißig und den jungen Mann kaum älter als sie mit offenen Augen an. Die dunkle Militärkleidung verhüllte jegliche körperlichen Attribute der beiden, außer, dass sie groß waren. Kyrie hoffte nur, dass sie sich nicht denselben Kurzhaarschnitt wie die Frau zulegen musste, viel zu sehr liebte sie ihr langes Haar. Die Fremde trat vor und hielt Kyrie die Hand hin.
"Guten Tag, Kyrilla Henotello. Mein Name ist Magenta. Dies ist mein Kollege Lewis. Wir sind hier um dich zur Akademie zu bringen. Hast du deine Sachen gepackt?" Kyrie schüttelte die Hand der Fremden nur widerwillig. Obwohl Magenta freundlich klang, konnte Kyrie den unmissverständlichen Befehl nicht überhören. Magenta sah sich mit ihren eisig blauen Augen genau im Wohnzimmer um, verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
Ihr Begleiter hielt sich im Hintergrund, sagte nichts, doch sein neugieriger Blick wanderte ebenso wie Magentas. Die dunklen Haare waren bis auf einen Milimenter geschoren. Eine lange, wulstige Narbe zierte seine linke Schläfe, ließ ihn in Kyries Augen bedrohlicher, aber auch trauriger wirken.
Während Kyrie sich von ihrer Familie verabschiedete, ließ sie Magenta nicht aus den Augen. Sie hatte das Gefühl, die Fremde könnte jeden Moment zu morden beginnen. Zuerst umarmte sie Coraline und strich dem Mädchen zärtlich über den Kopf.
"Sei brav, Cora. Ich hab dich lieb. Meine Kleider gehören jetzt alle dir."
Unter Tränen lächelte das Mädchen ihre große vorbildhafte Schwester an. "Ich hab dich auch lieb, Kri.", flüsterte Cora in Kyries schwarzes Langshirt.
Sie würde das Mädchen vermissen, das wusste Kyrie sicher. Sie war auf die Welt gekommen, als Brandon und sie schon ein eingespieltes Team waren und gemeinsam Unfug anstellten. Cora war immer wie die lebensechte Puppe gewesen, die Kyrie sich nicht zu wünschen getraut hatte. Die Geschwister hatten ihre kleine Schwester auf Händen getragen, ab nun würde Brandon dies alleine tun müssen.
Die Tränen unterdrückend drehte Kyrie sich zu ihrer Mutter und umarmte auch diese fest, dachte an all die Momente in denen sie mit ihrer Mutter gelacht hatte. Cecil hatte ihr das Backen beigebracht und war mit ihr einkaufen gegangen. Bei jedem Problem war ihre Mutter zur Stelle gewesen um alles wieder gut zu machen. Kyrie konnte sich ein Leben ohne die tröstenden Worte und das ansteckende Lachen dieser wundervollen Frau gar nicht vorstellen. Worte, der bedingungslosen Liebe und Dankbarkeit blieben ihr im Hals stecken, zu unwirklich erschien ihr der Abschied.
Unwillig drehte sie sich dennoch zu ihrem Vater, der die Tränen nur schwerlich zurückhalten konnte. Wut brodelte an der Oberfläche seiner Gefühle. Sanft strich Kyrie ihm über die Wange und meinte lächelnd:
"Du hast mir eine wundervolle Kindheit geschenkt, Papa. Bitte, sorg dafür das Brandon und Coraline auch so eine haben." Richard schluckte und nickte ergeben. Gegen die Worte seiner Tochter konnte er nicht argumentieren. Jede Art der Rebellion, manchmal sogar nur der Gedanke konnte Tote zur Folge haben. In Beerellon waren nicht einmal die Gedanken sicher.
"Wir sollten losfahren", mischte sich Magenta ein.
"Gleich, nur noch mein Bruder und dann fahren wir." Magenta ließ einen widerwilligen Seufzer hören, der Kyries Wut anstachelte. Aber sobald sie in die traurigen Augen ihres Bruder sah, verspürte sie nur noch Verlust. Der junge Mann nahm seine Schwester liebevoll in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Hastig flüsterte Brandon seine Abschiedsworte.
"Ich hab dich so lieb, Kyrie. Du bist stark und mutig, du wirst das hier schaffen. Pass auf das dich niemand erwischt und zähl bis drei bevor du was gefährliches tust. Bitte,... bitte pass auf dich auf. Egal was passiert, ich bin immer auf deiner Seite, immer.....komm zu uns zurück..." Kyrie nickte zögerlich, tränen rannen ihre Wange hinunter, benetzten Brandons Shirt.
Die bebenden Schultern konnte auch Brandons fester Griff nicht stoppen. Kyrie, konnte Brandons zittrigen Atem hören, spürte wie sehr er die Trauer, aber auch Wut zurückhalten musste. Sie fragte sich, ob sie dieselbe oder doch eine sehr viel zerstörerische Wut in sich trug.
"So, dass reicht. Kyrilla, komm jetzt. Wir haben noch einen langen Tag vor uns." Magenta zog an Kyries Schulter, versuchte sie von Brandon wegzuziehen. Mit einem Telekinetischen Schubs warf Kyrie sie einen Schritt zurück. Es war keinesfalls ein fester Schlag, wenn Kyrie wollte konnte sie eine Person sehr viel heftiger Stoßen.
Erstaunt und erfreut breitete sich ein Lächeln auf Magentas Gesicht aus. Die kalten Augen fingen an zu glitzern und bedrohlich kam Magenta näher.
"Das hättest du nicht tun sollen, kleines Kind!", meinte sie und berührte Kyrie am Arm bevor diese wegzucken konnte. Ein stechender Schmerz raste durch ihren Arm hinauf in ihren Brustkorb, raubte ihr den Atem und ließ sie taumeln.
Um sich hörte Kyrie entsetzte Schreie ihrer Familie und spürte die sanften Arme ihre Bruders. Kyries Sichtfeld schränkte sich mit jeder verstreichenden Sekunde weiter ein und bald sah und hörte sie nichts mehr.
Zum Schluss spürte sie wie zwei Starke Männerhände sie hochhoben und in die kalte Herbstluft trugen.
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